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Trotz seines ganzen Nachruhms hat Marx bislang jedem Versuch getrotzt, seine definitive Biografie zu schreiben. Jede politische Periode hat etwas anderes
über ihn zu sagen gewusst. Der Schlamm und das Senfgas des Ersten Weltkriegs spornten Franz Mehring an, im Jahre 1918 seine erste Biografie zu verfassen. Das Werk war seiner
Mitkämpferin aus der SPD, Clara Zetkin, gewidmet, deren Freundschaft, wie Mehring schrieb, "mir ein unschätzbarer Trost gewesen [ist], in einer Zeit, in deren
Stürmen so viele 'mannhafte und unentwegte Vorkämpfer des Sozialismus davongewirbelt sind wie dürre Blätter im Herbstwind". Die Bedeutung von
Marx Leben lag für Mehring einem klugen und unabhängig gesinnten Berliner Publizisten und Bonvivant im Politischen: eine heilsame Botschaft für
die Partei, die in katastrophaler Weise versäumt hatte, sich dem Krieg zu widersetzen, angesichts dessen "ernste Forscher, die drei oder gar vier Jahrzehnte über jedem
Komma in Marxens Werken gebrütet hatten, sich in einer geschichtlichen Stunde, wo sie einmal wie Marx handeln konnten und sollten, sich doch nur wie trillernde Wetterhähne
um sich selbst zu drehen wussten".
David Rjasanow, 1870 in Odessa geboren, machte sich mit 21 Jahren nach Europa auf, um die russischen Marxisten im Exil zu
besuchen. Bei seiner Rückkehr an der Grenze verhaftet, wurde er unter dem Zaren zu vier Jahren Einzelhaft und Zwangsarbeit verurteilt, doch er entkam 1907 nach Berlin, wo er sich
über die Briefe und den Nachlass von Marx und Engels hermachte (den letzterer der SPD vermacht hatte), zum Experten wurde und schließlich die von Mäusen
angefressenen Seiten der Deutschen Ideologie von 1845/46 zusammenfügte. Nach der Oktoberrevolution gründete Rjasanow das Marx-Engels-Institut in Moskau und produzierte
eine Doppelbiografie von Marx und Engels, in der er die freizügige Charakterisierung Mehrings kritisierte. Seine Arbeit machte aus den beiden ein untrennbares Paar, eingebettet in eine
geduldig-lehrhafte Darlegung der Aufklärung und der industriellen Revolution, des frankophilen Moseltals und der Bremer Baumwollfabriken; seine Arbeit übermittelt die
gründliche Intensität, die für die Handwerkergruppen des 19.Jahrhunderts kennzeichnend war. (Rjasanow wurde auf Stalins Befehl verhaftet und starb 1938 im
Gefängnis.)
Boris Nicolaevsky, im nördlichen Ural geboren und 17 Jahre jünger als Rjasanow, trat schon als Schüler in
die revolutionäre Bewegung ein und erhielt seine menschewistische Schulung in zaristischen Gefängnissen. Er war von 1919 bis 1921 Direktor des Archivs der Geschichte der
Revolution, wurde von den Bolschewiki inhaftiert und schließlich ausgewiesen. In Berlin arbeitete er während der Weimarer Republik eng mit der SPD zusammen. Die Marx-
Biografie, die er zusammen mit Otto Maenchen-Helfen schrieb, wurde am Vorabend der Machtergreifung der Nazis verfasst. "Als Marx nach seiner Vorstellung von Glück gefragt
wurde", schrieben sie, "lautete seine Antwort: 'zu kämpfen . Unser Gegenstand wurde uns von der Zeit, in der wir leben, diktiert. Wer heute ein Gegner des
Marxismus ist, ist dies nicht, weil er etwa die Gültigkeit der Marxschen Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate leugnet . Marx wird heute in den Fabriken, in den
Parlamenten und auf den Barrikaden bekämpft."
Werner Blumenberg, der sozialdemokratische Sohn eines deutschen Pastors, Bergarbeiter, Journalist und Kämpfer im
illegalen Widerstand gegen die Nazis (zuerst in Deutschland, dann im besetzten Holland), war der erste Marx-Biograf, der 1962 Louise Freybergers Brief veröffentlichen sollte, welcher
darauf hinwies, dass Marx ein Kind mit der Haushälterin der Familie, Helene Demuth, gezeugt hatte ("Der Himmel bewahre uns vor der Engstirnigkeit!"). Im Jahre 1964
veröffentlichte Heinz Monz sein Porträt der Stadt Trier zur Zeit von Marx Geburt, ein detailliertes Sozialgemälde einer kleinen und alten katholischen Stadt,
verfangen in einem katastrophalen Niedergang der Landwirtschaft. In Yvonne Kapps reichhaltigem Porträt der Londoner Jahre (Eleanor Marx, Volume One: Family Life) ist Marx der
Vater, mit einer schützenden ebenso wie mit einer stürmischen, beunruhigenden Präsenz. David McLellans Karl Marx. Leben und Werk (1973) war die genaueste Biografie
von allen in Bezug auf Daten und Eigennamen, wenngleich Ultralinke über eine bourgeoise Verschwörung klagten, mit der Proto-Marxisten in den Schlaf versetzt werden sollten. In
Karl Marx und die Weltliteratur, veröffentlicht 1976, versuchte S.S.Prawer, obschon nicht exakt eine Biografie, gewiss doch ein "Leben" zu schreiben, allerdings eine
chronologische Erzählung von Marx innerem Leben, eine Chronik der Verbindung seiner Imaginationskraft mit der Welt.
Und nun präsentiert der linksliberale Kolumnist des Guardian, Francis Wheen, für diese postkommunistischen und
vielleicht postmarxistischen Zeiten eine freundliche und lesbare neue Biografie von Marx, den er "erstaunlich aktuell" findet, einem Propheten der Globalisierung, "von dem
wir viel über politische Korruption, Monopolisierung, Entfremdung, Ungleichheit und globale Märkte lernen können". Der Autor folgt vielleicht Mehrings Ehrgeiz,
"selbst für vorgeschrittene Arbeiter noch erreichbar und verständlich [zu] bleiben", und sein Text ist voller Bezüge auf Kiwifrüchte, Monty Python,
Häägen-Dazs, Pizza Hut, Arnold Schwarzenegger, Bill Gates und MTV Non-Stop-TV als Herz einer herzlosen Welt, Oprah als Seufzer der Unterdrückten.
Wie andere vor ihm, lässt er die Jugendstreiche, Studentenduelle, die Entdeckung Hegels Revue passieren; ebenso die
Lehrjahre bei der Rheinischen Zeitung; das Zusammentreffen mit Engels im Pariser Café de la Régence; Brüssel; das Manifest; das Jahr 1848; und schließlich Soho,
der Journalismus, Das Kapital. Wheen hat ein gutes Empfinden für die Kraft der Marxschen Prosa und zitiert eine Vielzahl himmelstürmender Passagen. Er hat einige
unterhaltsame Anekdoten und Erinnerungen aus den frühen Kölner Tagen ausgegraben, z.B. Karl Heinzens Beschreibung, wie dieser Marx nach mehreren Flaschen Wein nach
Hause brachte: "[Er] setzte sich, den Kopf auf die Lehne gebückt, rittlings auf einen Stuhl und begann halb klagend, halb höhnend an einem fort in singendem Ton zu
deklamieren: 'Armer Leutnant, armer Leutnant! Armer Leutnant! Armer Leutnant! Diese Klage bezog sich auf einen preußischen Leutnant, den er 'korrumpierte, indem er
ihn in der Hegelschen Philosophie unterrichtete."
Wheen gibt einen lebhaften Bericht von Marx Verteidigung der Pressefreiheit in seinem ersten im Mai 1842 verfassten
Artikel für die Rheinische Zeitung:
"Natürlich kritisierte er die brutale Intoleranz des preußischen Absolutismus und seiner Speichellecker. Das
war sehr mutig, aber kaum überraschend. Mit dem Verzweiflungsschrei 'Gott schütze mich vor meinen Freunden! stürzte er sich jedoch auf die Torheiten der liberalen
Opposition. Bei den Gegnern der Pressefreiheit sieht er 'einen pathologischen Affekt, eine leidenschaftliche Eingenommenheit, die ihnen eine wirkliche, nicht imaginäre Stellung zur
Presse gibt. Dagegen haben nach Marx 'deren Verteidiger auf diesem Landtag [der preußischen Rheinprovinz] im Ganzen kein wirkliches Verhältnis zu ihrem
Schützling . Sie haben die Freiheit der Presse nie als Bedürfnis kennen gelernt. Sie ist ihnen eine Sache des Kopfes, an der das Herz keinen Teil hat. Er zitierte Goethe, der
einmal gesagt habe, 'dem Maler glückten nur solche Schönheiten, deren Typus er wenigstens in irgendeinem lebendigen Individuum geliebt habe. Auch die Pressefreiheit ist eine
Schönheit . die man geliebt haben muss, um sie verteidigen zu können."
Es ist der Journalist Marx, von dem Wheen wirklich fasziniert ist, dessen Eloquenz, Wagemut und Originalität er preist
und den er gegen den Vorwurf der "geistigen Tyrannei" in seinen Polemiken verteidigt. "Marx war kein Feigling, der sich nur auf jene stürzte, die sich nicht wehren
konnten. Bei der Auswahl seiner Opfer bewies er Kühnheit und Rücksichtslosigkeit, was erklärt, warum er den größten Teil seines Lebens in Exil und politischer
Isolierung verbrachte." Wheen verwendet treffend Marx journalistische Arbeiten für die New-York Daily Tribune und zitiert aus den Polemiken gegen Palmerston Stellen
("Er strebt weniger den Erfolg selbst als den Schein des Erfolgs an"), die mehr als nur ein aktuelles Echo aufweisen.
Manchmal kommt es vor, dass Wheen eine Phrase zu weit geht ("In der Praxis erreiche man Vollkommenheit")
oder seine Popularisierungen wirklich schockieren ("Hegel konnte korrigiert werden, indem man ihn auf den Kopf stellte"). Die Metapher der Kontaktbörse
("Gegensätze ziehen sich an") ist vollkommen ungeeignet für eine Diskussion über Dialektik, und es gibt keine Entschuldigung und auch keine
historische Grundlage dafür, Jenny von Westphalen als "piekfein" zu bezeichnen. Aber es besteht kein Zweifel, dass dies eine reichlich wohlwollende Darstellung von
Marx ist, weshalb sich die Frage stellt: sollte ein "Marx für unsere Zeit" nicht etwas kritischer sein?
"Einigen Phasen des Marxschen Lebens haben wir mehr Platz eingeräumt als anderen",
erklärten Nicolaevsky und Maenchen-Helfen. "Unser Maßstab war nicht die zeitliche Dauer der Ereignisse in Marx Leben, sondern ihre Bedeutung. Die Jahre der
Revolution 184849 und die der I.Internationale sind zwei- bis dreimal so wichtig wie der Rest." Trotz Wheens Interesse an Marx Journalismus nehmen dessen Jahre als
Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung in Köln auf dem Höhepunkt der 1848er Revolution nur 17 der über 450 Seiten ein. Dieses stürmische Jahr ist
tatsächlich einer der Schwachpunkte in Wheens Buch, das sich ausführlich mit Engels Wanderung durch die französischen Weingärten befasst. Es enthält nicht
viel vom Schwung der Geschichte des 19. Jahrhunderts, welcher einige der früheren Marx-Biografien so bereichert hatte: keine breiten Panoramen des vor-bismarckschen Deutschland,
vom Brüssel der Villette oder vom Frankreich Balzacs. Wheen vermittelt wenig von der Welt, in der Marx ein Kämpfer war, und somit auch kaum eine Vorstellung davon, gegen
wen er kämpfte oder wofür.
Wheen weist gewissermaßen einen blinden Fleck auf, was das politische Engagement betrifft, das die Triebkraft im Leben
von Marx war, der, wie Mehring stolz erklärte, "jede Versuchung abwies, sich in den Hafen eines bürgerlichen Berufs zu retten, den er mit allen Ehren hätte aufsuchen
können". Wheen scheint dies eher zu bedauern. Wenn er nur dabei geblieben wäre, hätte Marx "sich als kritischer Journalist mit der schärfsten Feder des
Jahrhunderts einen Namen machen können", beklagt er.
Ein Marx also ohne die Politik. Einmal stellt Wheen eine kritische Frage, nämlich bei der Behandlung des
Kommunistischen Manifests: "Wie konnte er zugleich dermaßen irren und doch so Recht haben?" Anschließend beantwortet Wheen diese Frage, indem er Marx
Technik des Schachspiels ("brillante Strategie, schwache Taktik") diskutiert und als Schlussfolgerung bemerkt, dass das Manifest am Ende des Jahrtausends immer noch ein
Bestseller ist (so weit so gut). Aber die Taktik ist hier sicher irrelevant: es geht hier nur um die Strategie.
Marx frühe Biografen schrieben aus einer dringenden politischen Notwendigkeit heraus: Mehring, um einer Partei
Rückgrat zu verleihen, die im entscheidenden Moment vor den Generälen kapituliert hatte; Rjasanow, um, wie er es sah, die politische Schulung einer Klasse zu fördern, die
gerade die Macht erobert hatte; Nicolaevsky, um die Opposition gegen den deutschen Faschismus zu sammeln. In ruhigeren Zeiten kann Prawers Buch für die kulturellen Energien der
marxistischen Imaginationskraft stehen und Kapps Werk (wenngleich gewiss nicht Yvonne Kapp selbst) für die freudianische und feministische Infragestellung von Marx. McLellans Marx
ist eher der Marx des liberalen Establishments oder vielleicht der sozialdemokratischen Bürokratie eine Museumsgestalt, das Feuer ausgelöscht. In diesem Licht steht
Wheen mehr in der Tradition von McLellan: sein Marx ist ein gefälliger Marx, befreit von Geschichte und politischem Engagement, ein Bündel guter Zitate ohne festen Grund, ein
Marx, dem man das Herz herausgeschnitten hat.
Susan Watkins
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnommen aus: New Left Review, Nr.1, Januar/Februar 2000.
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