SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar, Seite 5

Frühstück mit Folgen

Mit Stoiber hat die Union einen Kandidaten, aber noch kein Programm

Nun hat das lange Warten also ein Ende und die Medien können sich nach neuen Schauplätzen umsehen: Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber ist Kanzlerkandidat der Union.
Beim Frühstück im Heim der Stoibers im oberbayerischen Wolfratshausen, zu dem Merkel extra aus Düsseldorf gewallfahrt war — umgeben von Lüftlmalerei, Sonntagsgeläut und vielleicht auch ein bisschen Odelgeruch —, sollen die beiden die Sache unter sich ausgemacht haben. Heraus kam, was die Spatzen seit geraumer Zeit von den Dächern pfiffen, doch Angela Merkel konnte das Gesicht wahren und so tun, als sei die Sache "von gleich zu gleich zwischen den beiden Parteivorsitzenden" und unter Wahrung des von ihr entworfenen Szenarios entschieden worden.
Damit war die öffentliche Demontage mit Ach und Krach nochmals abgewendet. Auch wenn der Druck der "veröffentlichten Meinung" immer größer geworden war — letztlich ist es Merkel immerhin gelungen, eine zu frühe Festlegung auf einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin zu verhindern, so dass die Gefahr des vorzeitigen Verschleißes etwas gemindert wurde.
Die Kür zeigt jedoch auch, dass eine Frau und Protestantin (die dazu noch aus dem Osten kommt) in der Union die "Frühstücksdirektorin" abgeben darf, die wesentlichen Entscheidungen aber an anderer Stelle getroffen werden. Eine Kandidatur gegen die nach wie vor gut funktionierende Kohl‘sche Seilschaft, die Merkel auf dem Kieker hat, hätte die Gefahr beinhaltet, in einem ziemlichen Desaster zu enden.
Ob Stoiber aber "der Kandidat der gesamten Union" geworden ist, wie dies gebetsmühlenartig überall beteuert wird, ist zumindest fraglich; sein Wirkungsbereich war bislang auf Bayern beschränkt und in der CDU kennt er sich kaum aus. Wir können also annehmen, dass nördlich des Mains bereits die Heckenschützen lauern. Das historische Rezept der CSU, in Bonn/Berlin dafür und in München dagegen zu sein (siehe Euro), wird diesmal nicht verfangen.

Kreide Fressen

Stoiber scheint als "starker Mann" aber zumindest garantieren zu können, dass die Union den rechten Rand zu ihren Gunsten an die Wahlurnen bringen kann und — zumindest auf Bundesebene — nicht mit der Konkurrenz einer Schill-Partei rechnen muss, was im Fall einer Kandidatur von Merkel eine mögliche bis wahrscheinliche Variante gewesen wäre. Andererseits muss er kräftig Kreide fressen, wenn er erreichen will, dass auch die Sozialausschüsse oder die Frauenunion für ihn Wahlkampf machen. Ob er sich mit dem gerade beschlossenen "modernisierten Familienprogramm" der Union anfreunden kann, wo doch in Bayern die Standesämter für "Homopaare" verschlossen bleiben, scheint fraglich.
Die Art der "Ernennung" des bayerischen Ministerpräsidenten zum Kandidaten spricht Bände über die nach wie vor ungelöste Krise der CDU wie auch über den Willen der Gesamtunion, ihr Heil in einem polarisierenden Wahlkampf ohne argumentative Linie nach dem Vorbild der "Freiheit oder Sozialismus"-Kampagne von Strauß zu suchen.
Natürlich hat die Union nur deswegen eine Chance, trotz Krise und innerer Zerrissenheit an die Fleischtöpfe der Macht zurückzukehren, weil die aktuelle Rezession das Vertrauen in die Schröder-Politik erheblich erschüttert hat und die Union des Kanzlers (leeres) Versprechen, die Arbeitslosigkeit unter die 3,5-Millionen-Marke zu drücken, für ihre demagogische Kampagne weidlich ausnutzen wird.
Abgesehen von 1993/94 hat noch jede Rezession in der BRD zum Auswechseln des Regierungspersonals geführt, man denke an Erhard 1966, Brandt 1974 oder Schmidt 1982. Allerdings dürfte Schröder ein Kandidat Stoiber erheblich gelegener kommen als eine Kandidatin Merkel, denn vor allem im protestantischen Norden lassen sich nicht nur Vorurteile gegen die "Lederhosen" mobilisieren, sondern der Verweis auf die zahlreichen Amigo-Affären der CSU wird durchaus Wirkung entfalten (immerhin ist der frühere Büroleiter von Strauß und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Holger Pfahls, einer der Hauptbeschuldigten in den ganzen Finanzskandalen, weiterhin auf der Flucht; bis zum Tod von Strauß war die gesamte Sippschaft, die danach Kohls schwarze Kassen füllte, in Bayern beheimatet). Auch die Wirtschaftsbilanz, mit der der Bayer sicherlich hausieren gehen wird, nimmt sich bei genauerer Betrachtung weniger glänzend aus.
Das Kirch-Imperium bspw., bisher ein wichtiger Finanz- und Propagandaträger der Union, scheint vor dem Zusammenbruch zu stehen. Auf Druck von Stoiber musste die halbstaatliche Landesbank dem Krösus mit erheblich mehr Millionen aushelfen, als sie auf der Grundlage einer betriebswirtschaftlichen Einschätzung der Risiken eigentlich wollte. Die Rolle von Stoiber in der LWS-Affäre, einer staatlichen Immobilienfirma, die sich trotz zahlreicher Bedenken — offensichtlich unter seinem Druck — erheblich in den "neuen Bundesländern" engagierte und dabei über 600 Millionen Mark in den Sand setzte, konnte letztlich nicht aufgeklärt werden; die Affäre kostete dem Justizminister Sauter den Job.
Außerdem ist da noch die Schreiber-Konnexion der Strauß-Familie, die via Monika Hohlmeier ins Kabinett integriert ist und bei der viele treue Staatsbeamte in Bayern zusammengeholfen haben, dass die Fäden der Korruption nicht wirklich entwirrt werden konnten. Wie lange aber Max Strauß sich noch des Zugriffs der Staatsanwaltschaft wird erwehren können, steht in den Sternen.
Kleinere "Unfälle", etwa die Tatsache, dass die als Nachfolgerin von Stoiber gehandelte Ministerin Barbara Stamm als Notopfer der BSE-Krise (immerhin fallen fast 50% der Fälle auf Bayern) sozusagen "politisch gekeult" werden musste, oder dass der frühere CSU- Generalsekretär Bernd Protzner (nomen est omen) gerade mit einer Anklage wegen Steuerhinterziehung rechnen darf, gehören in Bayern eher zur Tagesordnung.
Vor allem aber kann Stoibers bayerisches Erfolgsrezept, den Staatsbesitz zu verscherbeln, um damit Förderung und Ansiedlung von neuen Firmen und Forschungseinrichtungen zu finanzieren, auf Bundesebene nicht wiederholt werden, da die Kohl‘schen Regierungen das Tafelsilber längst verschleudert haben und nach den Erfahrungen mit der T-Aktie die Börsenbegeisterung des deutschen Mittelstands massiv gelitten hat. Außerdem konnte die Strukturkrise in Nordbayern auch mit den Einnahmen aus den Privatisierungen von immerhin 8 Milliarden Mark nicht wirklich abgefedert werden.

Laptop und Lederhosen

Die von Stoiber angekündigten Maßnahmen wie die Rücknahme der Ökosteuer (inzwischen bereits auf die "letzte Stufe" reduziert) oder die Aufhebung der Vereinbarung über den Ausstieg aus der Atomenergie finden selbst in wichtigen Teilen des eigenen Lagers wenig Gefallen. In punkto Atomenergie stößt der Atomenthusiasmus des Chefs der Bayernwerke selbst bei seinen Kollegen nicht auf ungeteilte Zustimmung.
Der Kandidat wird erklären müssen, wie das (von Wirtschaft und Politik) akzeptierte bzw. propagierte Ziel der "Senkung der Lohnnebenkosten" ohne neue Einnahmen erreicht werden kann und ob er hier die Konfrontation mit den Gewerkschaften suchen will. Der Erhöhung der Staatsverschuldung zum Vorziehen "von Teilen" der Steuerreform dürfte durch die Maastricht-Kriterien (max. 3% Neuverschuldung) enge Grenzen gesetzt sein. Pikant ist außerdem, dass gerade ein Konservativer die Staatsfinanzen weiter zerrütten will. Und ob die typisch bayerische Verbindung von "Laptop und Lederhosen", also von Hochtechnologie und ehrwürdigem Brauchtum, auch nördlich des Weisswurstäquators auf ungebremste Begeisterung treffen wird, ist zumindest nicht ausgemacht.
Hinsichtlich des Wunderglaubens in die segensreichen Wirkungen modernster Technologie für den wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftlichen Fortschritt gibt es zwischen der Schröder-SPD und Stoiber sowieso wenig Unterschiede. Höchstens, dass in Bayern die katholische Kirchenhierarchie das ungebändigte Vertrauen in Gen-Tech und Stammzellenforschung mit biblischen Einwänden dämpft.
Auch der Ansatz, Menschen in Sozialhilfe oder am Rande des Existenzminimums durch Erhöhung des Drucks und Kürzung der Leistungen sowie "Kombilöhne" aus bestimmten Statistiken zu verdrängen, stellt kein Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Kandidaten dar. Und auch in der Forderung, der Bundeswehr viele weitere Milliarden für Kriegseinsätze rund um den Globus zur Verfügung zu stellen, besteht traute Einigkeit: Rot- Grün hat seit dem 11.September bereits zusätzlich etwa 1 Milliarde Euro locker gemacht.
Sicherlich würde Stoiber, der vor einem Jahrzehnt gegen die "durchmischte und durchrasste Gesellschaft" wetterte, gerne einen rassistischen Wahlkampf nach hessischem Vorbild führen (der Wahlkampfchef von Koch war typischerweise auch für Stoibers Kampagne im Gespräch), doch müsste er dann mit der Gegnerschaft von wichtigen Teilen des Unternehmerlagers und der Kirchen rechnen. Außerdem ist keineswegs ausgeschlossen, dass Schily nicht doch noch das eine oder andere CDU-Land für seine Variante der "Zuzugsbegrenzung" gewinnen kann. Das heißt nicht, dass Stoibers Kandidatur nicht den rassistischen und braunen Bodensatz der Gesellschaft aufrühren könnte, aber er selbst wird sich aller Wahrscheinlichkeit zurückhalten.
Die Union hat jetzt einen Kandidaten, aber noch lange kein Programm, das sich in wichtigen Fragen von der Politik der Koalition unterschiede. Und die kapitalistische Überproduktionskrise bloß der Regierung in die Schuhe schieben zu wollen, könnte sich noch als Bumerang erweisen.

Paul Kleiser

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