SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar, Seite 18

Die letzten werden die ersten sein

Pierre Bourdieu, der Denker und Kämpfer ist tot

Da war sich das deutsche Feuilleton mal wieder weitgehend einig. Mit dem am 23.Januar an Krebs gestorbenen Pierre Bourdieu sei einer der letzten sog. "Meisterdenker" Frankreichs gestorben, ließen sie schreiben, und versuchten damit, einen unbequemen Zeitgenossen subtil zu entsorgen.
Sicher, er war einer der bedeutenden Soziologen der zweiten Hälfte des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts und als solcher wird er im akademischen Olymp überleben. Aber nicht das machte es aus, wofür Bourdieu wie kein anderer im letzten Jahrzehnt stand. Er war einer jener seltenen großen Gelehrten, die ihren Elfenbeinturm herab stiegen und sich ins politische Handgemenge seiner Zeit einmischten.
Sicher, er war einer der schärfsten Kritiker des weltweiten hegemonialen Neoliberalismus, jenen "Raubkapitalismus, der kein anderes Gesetz kennt als den maximalen Profit". Kaum jemand konnte so voll schönen Zornes über die "hinterhältigen Mächte des Marktes" und jene "Art fleischgewordener Höllenmaschine" herziehen wie er. Doch auch seine in so vielem richtige, in manchem nicht unproblematische Kritik des Neoliberalismus, war es nicht, was das Wesen seines Charmes ausmachte.
Pierre Bourdieu, der späte, also jener der 80er und vor allem der 90er Jahre, war ein Intellektueller, der seine Wahrnehmung einer gründlich veränderten Welt mit der Suche nach einer neuen Identität verband, von der sich viel lernen lässt. Gerade weil er seinen Status als "Meisterdenker" verlassen hatte, konnte er jene nachhaltige Wirkung entfalten, die uns fehlen wird. Nicht als einer der letzten, sondern als einer der ersten sollte er in Erinnerung bleiben.

Ein moderner Lassalle?

Viel gemein hatte Pierre Bourdieu diesbezüglich mit Ferdinand Lassalle, jenem so bedeutenden wie umstrittenen Intellektuellen des 19.Jahrhunderts.
Beide waren in ihrer Jugendzeit Anhänger der jeweils linken philosophischen Modeströmungen — Lassalle im Fahrwasser des Linkshegelianismus, Bourdieu im Fahrwasser von Strukturalismus und Poststrukturalismus. Beide blieben ihren Ursprüngen bis zuletzt treu, entwickelten sich jedoch im Angesicht des auf Regression und Anpassung in reaktionäre Verhältnisse abzielenden Stromes ihrer intellektuellen Zeitgenossen, nach links. Sie kamen dabei dem Marxismus sehr nahe, ohne ganz in ihm aufzugehen.
War Lassalle erbittert über den politischen und intellektuellen Niedergang seiner "48er", der radikaldemokratischen Revolutionäre der Revolution von 1848, so Bourdieu über einen vergleichbaren Regressions- und Entpolitisierungsprozess der "68er". Beide blieben Gelehrte auf der Höhe ihrer Zeit, verfassten noch als politisch in der Öffentlichkeit stehende Akteure wissenschaftlich hochwertige Bücher. Beide fühlten und artikulierten aber auch das Gewicht individueller Verantwortung in Zeiten politischer Flaute und witterten schnell, schneller als die meisten anderen "Alten", die ersten Anzeichen eines erneuten Gezeitenwechsels. Beide machten sich zu Sprechern dieses neuen Geistes und sahen ihre wichtigste Aufgabe in der Weckung radikaler Bedürfnisse. Lassalles wütende Anklage gegen die verdammte Bedürfnislosigkeit seiner Zeit bildet sicherlich auch einen der Subtexte der Bourdieuschen "Brandreden". Beide propagierten bei ihrem Kampf die radikaldemokratische Teilhabe breiter Massen und wandten sich mit besonderer Verve gegen den elitären Liberalismus — Lassalle gegen den das Bündnis mit der reaktionären Aristokratie eingehenden Liberalismus seiner Zeit, Bourdieu gegen den modernen technokratischen Neo-Liberalismus, sowohl in seiner konservativen als auch in seiner "progressiven" Variante. Beide setzten dabei wesentlich auf eine Repolitisierung über die Staatsfrage. Lassalles noch naive Gläubigkeit in die Allmacht des demokratischen Wahlzettels wandelte sich bei Bourdieu — zeitbedingt — in ein nicht minder heftiges Plädoyer für die "linke Hand des Staates", für die Verteidigung der dem Gemeinwohl verpflichteten sozialstaatlichen Staatsapparate.
Sicher, es gibt auch Unterschiede innerhalb dieses Panoramas. Richtete Lassalle seine ganze ihm verbleibende Energie auf die klassische Sozialbewegung, die aufsteigende Arbeiterbewegung, so richtete sich Bourdieu an neue, um einiges heterogenere soziale Bewegungen. Während Lassalle der begnadete Organisator und Agitator einer mächtigen proletarischen Organisation wurde und innerhalb derselben ausgesprochen autoritär auftrat, lag dies Bourdieu sehr fern. Explizit und programmatisch ordnete er sich den Bewegungen unter, nicht ohne seine Autonomie zu verteidigen.

Intellektuelle und Bewegung

Nichts desto trotz bleiben die Gemeinsamkeiten auffallend und sind nicht nur von geschichtlichem Interesse. Denn sie rühren her von einer gemeinsamen und ausgesprochen aktuellen Problemlage: Wie können und sollen sich Intellektuelle in sozialen Bewegungen verhalten, zumal in Bewegungen, die erst im Aufstieg begriffen sind?
Es war dieses Selbstverständnisproblem, das Pierre Bourdieu in den letzten Jahren seines Lebens umtrieb. Er brachte dabei jenes Grundverständnis mit, dass Sozialwissenschaftler "nicht neutral oder indifferent gegenüber den Kämpfen sein können, in denen über die Zukunft dieser Welt entschieden wird". (Dieses und die nächsten Zitate sind dem Vorwort seiner jüngsten Schrift Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung entnommen.)
Zuwider war ihm deswegen jener "Homo academicus", der davor zurückscheut, sich "in die plebejischen Debatten der journalistischen und politischen Niederungen einzumischen". Auf der anderen Seite war er kein "organischer Intellektueller" in der Tradition der sozialistischen Bewegung, kein in der sozialen Bewegung groß gewordener Intellektueller. Bleibt die Rolle des klassisch universalistischen, des "traditionellen Intellektuellen", der "ins Volk ging" und sich (wie es bspw. Lassalle getan hatte) mit Haut und Haaren der neuen Bewegung verschrieb. Auch dies konnte und wollte er nicht — vor allem aus theoretischen Erwägungen —, obwohl er sich zuletzt diesem Intellektuellentypus bspw. eines Jean-Paul Sartre immer mehr annäherte.
Pierre Bourdieu wollte als Wissenschaftler ins politische Geschehen eingreifen. Nicht nur mittels Petitionen und Solidaritätserklärungen, die allzu rein symbolisch und deswegen von den politischen Technokraten ausnutzbar sind. Auch die klassische Rolle des Pädagogen oder Experten reichte ihm nicht. Seine praktischen Erfahrungen als politischer Berater der Gewerkschaft CFDT Anfang der 80er und seine entsprechenden Erfahrungen als Bildungsexperte Mitte der 80er dürften dabei eine gewisse Rolle gespielt haben.
Er suchte statt dessen "neuartige Kooperationsweisen zwischen Wissenschaftlern und sozialen Bewegungen . welche die strikte Trennung beider überwänden, ohne jedoch der Vorstellung einer 'Fusion‘ zu erliegen". So kam er dazu, nachdem er mit Liber 1989 eine europäische Zeitschrift gegründet und sich 1993 an einem europäischen Schriftstellerparlament aktiv beteiligt hatte, Ende 1995 die Gruppe Raisons d‘agir zu begründen: "Die dringlichste Aufgabe scheint mir nun darin zu bestehen, die materiellen, ökonomischen und vor allem organisatorischen Mittel zu finden, um kompetente Wissenschaftler dazu zu bringen, mit den Bemühungen der in den sozialen Bewegungen engagierten Menschen gemeinsame Sache zu machen, um zusammen eine Fülle von Analysen und fortschrittlichen Vorschlägen zu diskutieren und auszuarbeiten, die bisher nur im virtuellen Zustand privat und isoliert geäußerter Gedanken oder in kaum beachteten Veröffentlichungen, vertraulichen Berichten oder esoterischen Zeitschriften vorhanden sind."
Sicher haben jene linken Kritiker Recht, wenn sie (wie Daniel Bensa‹d in Frankreich oder Alex Callinicos in England) darauf hinweisen, dass mit Bourdieus Konzept des "kollektiven Intellektuellen" die Trennung zwischen Intellektuellem und Bewegung, zwischen Theorie und Praxis, nicht aufgehoben wird. Und dass auch der kollektive Intellektuelle dahin tendiert, seine Autonomie gegen die Notwendigkeiten politischer Bewegungen zu verteidigen. Das kann zur Depolitisierung von sozialen Bewegungen beitragen.
Doch scheint mir, dass dieser Vorwurf zumindest im Falle Bourdieus allzu voreilig war. Die Gefahren des autonomen Intellektuellen hat er gekannt und deswegen immer wieder betont, dass er den Bewegungen nichts vorzuschreiben gedenkt und sich in dieser Hinsicht bedingungslos solidarisiert. (Gerade in Deutschland mit seiner erziehungsdiktatorischen Tradition linker Intellektueller eine bemerkens- und lobenswerte Haltung, die auch einen Großteil jener mal mehr mal weniger versteckten Häme diesseits des Rheins erklärt.) Bourdieu kannte aber auch den prinzipiellen Wert des autonomen, sich keiner mächtigen Bewegung allzu bereitwillig unterordnenden Individuums.
In Zeiten, in denen es keine organische Sozialbewegung mehr gibt, ist die Emanzipationsbewegung immer wieder auch auf "abtrünnige" Intellektuelle angewiesen. Zumal die alte Konzeption eines individuell vonstatten gehenden "Verrats an der eigenen Klasse" unter den neuen Bedingungen "proletarisierter Intelligenz" in vielem fraglich geworden ist. Es bedarf zusätzlicher und neuartiger Organisationsstrukturen. Die Idee der "kollektiven Intellektuellen" ist dabei eine, wenn auch nicht unproblematische, so doch sehr anregende.
Sie ist im Übrigen gar nicht so neu. Auf der Höhe der 68er Revolte formulierte sie in Deutschland ein gewisser Hans-Jürgen Krahl — auch einer jener zu Unrecht Vergessenen. Als klassenkämpferische Bewegung in die Republik kam und die Intellektuellenorganisation des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) an den neuen Herausforderungen und ihren männerbündischen Organisationsformen zerbrach, machte sich Krahl originelle Gedanken, wie man die "historisch neue Qualität der Wissenschaft als Produktivkraft" gegen die in die Betriebe gehenden und ihren Antiautoritarismus allzu schnell über Bord werfenden antiintellektuell gewendeten Intellektuellen verteidigen kann. Ihm schwebte eine Bewegung wissenschaftlicher Intelligenz vor, die "zum kollektiven Theoretiker des Proletariats werden [muss]".
Auch das war nicht die Lösung des noch heute offenen Problems. Aber immerhin die richtige Aufgabenstellung. Das wir heute wieder so weit sind, auf diese Frage zurück zu kommen, dies ist ein Verdienst gerade auch von Pierre Bourdieu.

Christoph Jünke

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang