SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 4

Stammzellenforschung

Nein zur ‘schönen, neuen Welt‘

von GERLEF GLEISS

Immer, wenn die öffentlichen Medien, von Taz bis FAZ, von Arte bis ZDF, fast einstimmig von "einer Sternstunde des Parlaments" sprechen, können die ihren Kopf noch nicht verloren habenden Linken sicher sein, dass die Herren und Damen Volksvertreter ein weiteres kräftiges Stück in den Sumpf aus Korrumpierung und politischer Fäulnis gesunken sind und die richtigen und entscheidenden Fragen nicht nur nicht debattiert, sondern gar nicht erst gestellt haben. Immer, wenn es (fraktions)zwanglos nur um Gewissensfragen von Moral und Ethik gehen soll, können wir sicher sein, dass es um ganz schnöde, nur besonders wichtige wirtschaftliche Interessen und um grundsätzliches Weichenstellen zu ihrer Durchsetzung geht.
Das war bei den Debatten um die "humanitären Militärschläge" der vergangenen Jahre der Fall, genauso wie bei der Debatte um die "Präindikationsdiagnostik" (PID) Mitte des letzten Jahres. Und es wiederholte sich jüngst bei der Entscheidung des Bundestags, den Import von und die Forschung mit embryonalen Stammzellen zuzulassen.
Worum geht es tatsächlich? Biochemiker, Gentechnologen oder Reproduktionsmediziner schaffen in einem atemberaubenden Tempo das theoretische und praktische Instrumentarium, um den Menschen schon vor der Geburt, in der Retorte bearbeiten und verbessern zu können. Fast immer werden ihre Forschungsvorhaben mit schweren Krankheiten und dem Versprechen, diese zu beseitigen, begründet.
Wer sich auf diese Argumentation einlässt, hat schon verloren. Selbstverständlich gibt es kranke oder durch Erbkrankheiten bedrohte Menschen, denen PID oder die Stammzellentherapie möglicherweise nützen. Viele von ihnen sind verzweifelt und lassen sich nur zu gern von den Biomedizinern für deren Interessen instrumentalisieren und mit deren vollmundigen Versprechungen ködern. Nicht immer so plump — und dennoch erfolgreich — wie vor einigen Jahren beim Europäischen Parlament, als es um die Zulassung von Patenten auf Lebewesen ging (letztendlich auch um Patente auf Stammzellen, die heute die Firma von Prof. Brüstle besitzt, dem lautesten Propagandisten hierzulande für die Stammzellenforschung). Die Lobbyisten der Bioindustrie fuhren einen mitleidserregenden Herrn auf, um das Parlament zu überzeugen, dass solche Patente für das zukünftige Wohl Kranker und Behinderter notwendig seien. Dieser bezeichnete sich selbst großmäulig als Vertreter der "europäischen Patienteninitiativen", wurde allerdings später von "Greenpeace" als von der Bioindustrie gekauft entlarvt.
Das Versprechen, Krankheiten zu heilen, rechtfertigt nicht alles. Niemand in Europa würde etwa ernsthaft fordern, die Todesstrafe wieder einzuführen, weil es einen Mangel an frischen Organen für die Transplantationsmedizin gibt. Nein, bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen oder bei PID handelt es sich zu allererst um politische Entscheidungen, welche Gesellschaft wir wollen.
Wollen wir eine Gesellschaft, in der schon vor der Geburt nach Nützlichkeit selektiert wird? Wollen wir eine Gesellschaft, in der menschliche Embryonen zum industriellen Rohstoff und zur Handelsware und Frauen zu Produktionsstätten dieses Rohstoffs werden? Wollen wir eine Gesellschaft, die Millionen für fragwürdige medizinische Experimente, aber nicht ausreichend für die Pflege alter, behinderter und kranker Menschen ausgibt? Wollen wir, dass Wissenschaftler über die Zukunft der Menschheit entscheiden, die ohne die geringste öffentliche Kontrolle auf der Gehaltsliste der Pharma- und Biotechindustrie stehen, deren Forschungsziele von kurzfristigen Profitinteressen bestimmt werden und die durch Ehrgeiz und Rücksichtslosigkeit auf ihre Positionen gekommen sind, ausgestattet mit entsprechenden Vorurteilen, Sozialverhalten, Klassendünkel und Menschenbild?
Nein! Der biomedizinischen Utopie, die degenerativen Erkrankungen des Nervensystems und alle möglichen sonstigen Volkskrankheiten seien heilbar, wenn man die daran beteiligten Gene identifizieren und ihre Wirkung biochemisch beeinflussen könne, krankes oder verbrauchtes Gewebe sei zu ersetzen, wenn man aus Stammzellen frisches Gewebe züchte und per Transplantation oder Injektion zu den funktionsgeschädigten Organen bringe, muss eine soziale, muss die sozialistische Utopie entgegengehalten werden.
Der Widerstand gegen Stammzellenforschung und ähnliche Weichenstellungen in die "schöne neue Welt" darf nicht länger Frauengruppen, Behindertenverbänden und christlichen Moralaposteln überlassen bleiben. Er gehört auf die Tagesordnung jedes Gewerkschafts- und Parteitags, er muss selbstverständlicher Teil des Kampfes gegen Globalisierung und Faschismus werden.
Der "neue Mensch" darf nicht in den Laboren und Köpfen der Reproduktionsgenetiker entstehen, sondern durch unseren Widerstand. Und er wird kein kraftstrotzender Mensch, frei von Krankheit, Behinderung, Alter und Leiden sein, sondern ein solidarischer und kreativer, fähig und bereit, gegen jede Gemeinheit und Ungerechtigkeit aufzubegehren.

Gerlef Gleiss ist Mitarbeiter der "Beratungsstelle für behinderte Menschen" von Autonom Leben e.V. in Hamburg.


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