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Der politische Werdegang eines Menschen ist immer ein Zeugnis seiner Zeit. Aber nicht nur weil jeder Mensch ein einzigartiges Wesen ist, ist eine politische
Biografie mehr als eine originalgetreue Widerspiegelung der Zeitgeschichte. Sie ist es auch deshalb, weil die Zeugenschaft auf sehr verschiedene Weise möglich ist. Es gibt Menschen, die
im negativen wie im positiven Sinne des Wortes immer auf der Höhe ihrer Zeit stehen und stets ein Teil der vorherrschenden gesellschaftlich-politischen Strömung
sind. In ihrem Leben finden sich die herrschenden Normen am unmittelbarsten wieder. Zu Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs sind sie Teil einer Bewegung, die die Gesellschaft
gemäß ihren Prinzipien umgestaltet. In der Regel befinden sie sich jedoch einfach deshalb in Einklang mit ihrer Zeit, weil sie sich den bestehenden Verhältnissen anpassen.
Neben diesem Typus gibt es allerdings auch Menschen, in deren Leben die gesellschaftliche und politische Situation nur sehr verzerrt zum Ausdruck kommt. Ihr Werdegang repräsentiert
Lebensweise, Ansprüche und Ziele von Klassen, Gruppen und politischen Strömungen, die gesellschaftlich nicht vorherrschend sind. Auch in diesem Werdegang finden sich die
Probleme der Zeit, doch stehen sie immer unter dem Vorzeichen der besonderen Situation und werden im Hinblick auf die besonderen Absichten verarbeitet.
Georg Jungclas hat in zweifacher Hinsicht keinen Lebensweg aufzuweisen, der in Einklang mit der gesellschaftlich-politischen
Konjunktur steht. Er hat sein gesamtes politisches Leben in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung zugebracht, die es auch in ihren besten Jahren nicht vermocht hat, zur vorherrschenden
Kraft zu werden und die Gesellschaft nach ihren Prinzipien umzugestalten. Und er hat die meiste Zeit innerhalb dieser Arbeiterbewegung minderheitlichen Strömungen angehört, die
ihre sozialistischen Ziele nicht zu Gunsten der Arbeit für einen reformierten und sozialeren Kapitalismus aufgeben oder dem Bündnis mit einem bürokratisch-stalinistischen
System opfern wollten. 1902 geboren, schließt er sich während des Weltkriegs der proletarischen Freidenker-Jugend und der in Opposition zur kriegsunterstützenden SPD-
Mehrheit stehenden sozialistischen Jugend an. Er ist nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied der KPD und an ihren Versuchen zur Errichtung einer Rätemacht in Deutschland 1921 und 1923
beteiligt. Er gehört Organisationen an, die die linke Opposition gegen den Stalinismus repräsentieren und aus denen 1938 die IV.Internationale hervorgeht. Er ist nach 1933 im
Kopenhagener Exil und nach der Besetzung Dänemarks durch Hitler-Truppen 1940 im dänischen Widerstand aktiv. Und er ist von seiner Befreiung aus dem Zuchthaus 1945 bis zu
seinem Tod 1975 als führendes Mitglied der trotzkistischen Organisation in Deutschland an allen wichtigen sozialistischen Bestrebungen, internationalistischen Solidaritätsaktionen,
demokratischen und antimilitaristischen Bewegungen beteiligt.
Der Strang der Arbeiterbewegung, den Georg Jungclas verkörpert, ist nur schmal. Schon den Weg von der SPD zur KPD
findet nur eine Minderheit der organisierten Arbeiter. Noch weniger sind es, die die kommunistische Kritik am Stalin-Kurs der Kommunistischen Internationale bis zu einem offenen Bruch mit
ihrer Politik weitertreiben. Und nach der faschistischen Barbarei und dem Weltkrieg, dem abschreckenden Beispiel des Stalinismus im Osten Deutschlands und dem Beginn des
Wirtschaftswunders ist es nur ein kleiner Kreis linker Sozialisten, der seine politische Identität wahren und, ohne in Resignation zu verfallen, den Verlockungen sozialdemokratischer
"Realpolitik" widerstehen kann.
Die Arbeitsbedingungen der revolutionär-sozialistischen Strömung sind in diesen sechzig Jahren sehr verschieden.
Sie reichen von halblegaler Arbeit als Teil einer entstehenden Massenbewegung während des Ersten Weltkriegs, über die Tätigkeit im Rahmen einer
Arbeitermassenorganisation Anfang der zwanziger Jahre, die Politik als in der Arbeiterbewegung verfemte Minderheit Anfang der dreißiger Jahre, den illegalen Kampf gegen eine
Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges bis zur Situation gesellschaftlicher Isolierung, in der sich die sozialistische Linke in der Bundesrepublik der fünfziger und
sechziger Jahre befindet. Auch die unmittelbaren Ziele, die sich diese Strömung stellt, umfassen ein weites Spektrum. Es erstreckt sich vom Versuch des Sturzes des kapitalistischen
Systems durch den bewaffneten Aufstand 1923 bis zur Sicherung eines größtmöglichen Freiraums für politische Betätigung überhaupt dreißig oder
vierzig Jahre später.
Ein Problem allerdings stellt sich in all diesen Jahren, angefangen von der Opposition gegen die sozialdemokratische
Kriegspolitik und besonders deutlich in den Jahren nach 1945: Wie können linke Sozialisten die für sie unerlässliche Verbindung zur Arbeiterschaft herstellen und letztlich
deren Aufmerksamkeit erringen, ohne ihre Prinzipien aufzugeben und sich dem gegebenen Bewusstseinsstand anzupassen? Georg Jungclas hat sich diese Frage immer wieder und ganz bewusst
gestellt, und er gehört zu den Wenigen, die über Jahre hinweg auf dem schmalen Weg zwischen Anpassung, Resignation und Versektiererung zu gehen verstanden haben. Seine
Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Ausnutzung jedes für das Anliegen des Sozialismus wichtigen Spielraumes, die er gezeigt hat, ohne sich dabei in der Tagesarbeit zu verlieren und
die Schranken zur bürgerlichen Gesellschaft zu verwischen, haben ihm auch die Achtung anders orientierter politischer Kräfte der Arbeiterbewegung eingetragen.
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