SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002

Georg Jungclas zum 100.Geburtstag

Ein schmaler Grat - Koordinaten einer politischen Biografie

Der politische Werdegang eines Menschen ist immer ein Zeugnis seiner Zeit. Aber nicht nur weil jeder Mensch ein einzigartiges Wesen ist, ist eine politische Biografie mehr als eine originalgetreue Widerspiegelung der Zeitgeschichte. Sie ist es auch deshalb, weil die Zeugenschaft auf sehr verschiedene Weise möglich ist. Es gibt Menschen, die — im negativen wie im positiven Sinne des Wortes — immer auf der Höhe ihrer Zeit stehen und stets ein Teil der vorherrschenden gesellschaftlich-politischen Strömung sind. In ihrem Leben finden sich die herrschenden Normen am unmittelbarsten wieder. Zu Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs sind sie Teil einer Bewegung, die die Gesellschaft gemäß ihren Prinzipien umgestaltet. In der Regel befinden sie sich jedoch einfach deshalb in Einklang mit ihrer Zeit, weil sie sich den bestehenden Verhältnissen anpassen. Neben diesem Typus gibt es allerdings auch Menschen, in deren Leben die gesellschaftliche und politische Situation nur sehr verzerrt zum Ausdruck kommt. Ihr Werdegang repräsentiert Lebensweise, Ansprüche und Ziele von Klassen, Gruppen und politischen Strömungen, die gesellschaftlich nicht vorherrschend sind. Auch in diesem Werdegang finden sich die Probleme der Zeit, doch stehen sie immer unter dem Vorzeichen der besonderen Situation und werden im Hinblick auf die besonderen Absichten verarbeitet.
Georg Jungclas hat in zweifacher Hinsicht keinen Lebensweg aufzuweisen, der in Einklang mit der gesellschaftlich-politischen Konjunktur steht. Er hat sein gesamtes politisches Leben in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung zugebracht, die es auch in ihren besten Jahren nicht vermocht hat, zur vorherrschenden Kraft zu werden und die Gesellschaft nach ihren Prinzipien umzugestalten. Und er hat die meiste Zeit innerhalb dieser Arbeiterbewegung minderheitlichen Strömungen angehört, die ihre sozialistischen Ziele nicht zu Gunsten der Arbeit für einen reformierten und sozialeren Kapitalismus aufgeben oder dem Bündnis mit einem bürokratisch-stalinistischen System opfern wollten. 1902 geboren, schließt er sich während des Weltkriegs der proletarischen Freidenker-Jugend und der in Opposition zur kriegsunterstützenden SPD- Mehrheit stehenden sozialistischen Jugend an. Er ist nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied der KPD und an ihren Versuchen zur Errichtung einer Rätemacht in Deutschland 1921 und 1923 beteiligt. Er gehört Organisationen an, die die linke Opposition gegen den Stalinismus repräsentieren und aus denen 1938 die IV.Internationale hervorgeht. Er ist nach 1933 im Kopenhagener Exil und nach der Besetzung Dänemarks durch Hitler-Truppen 1940 im dänischen Widerstand aktiv. Und er ist von seiner Befreiung aus dem Zuchthaus 1945 bis zu seinem Tod 1975 als führendes Mitglied der trotzkistischen Organisation in Deutschland an allen wichtigen sozialistischen Bestrebungen, internationalistischen Solidaritätsaktionen, demokratischen und antimilitaristischen Bewegungen beteiligt.
Der Strang der Arbeiterbewegung, den Georg Jungclas verkörpert, ist nur schmal. Schon den Weg von der SPD zur KPD findet nur eine Minderheit der organisierten Arbeiter. Noch weniger sind es, die die kommunistische Kritik am Stalin-Kurs der Kommunistischen Internationale bis zu einem offenen Bruch mit ihrer Politik weitertreiben. Und nach der faschistischen Barbarei und dem Weltkrieg, dem abschreckenden Beispiel des Stalinismus im Osten Deutschlands und dem Beginn des Wirtschaftswunders ist es nur ein kleiner Kreis linker Sozialisten, der seine politische Identität wahren und, ohne in Resignation zu verfallen, den Verlockungen sozialdemokratischer "Realpolitik" widerstehen kann.
Die Arbeitsbedingungen der revolutionär-sozialistischen Strömung sind in diesen sechzig Jahren sehr verschieden. Sie reichen von halblegaler Arbeit als Teil einer entstehenden Massenbewegung während des Ersten Weltkriegs, über die Tätigkeit im Rahmen einer Arbeitermassenorganisation Anfang der zwanziger Jahre, die Politik als in der Arbeiterbewegung verfemte Minderheit Anfang der dreißiger Jahre, den illegalen Kampf gegen eine Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges bis zur Situation gesellschaftlicher Isolierung, in der sich die sozialistische Linke in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre befindet. Auch die unmittelbaren Ziele, die sich diese Strömung stellt, umfassen ein weites Spektrum. Es erstreckt sich vom Versuch des Sturzes des kapitalistischen Systems durch den bewaffneten Aufstand 1923 bis zur Sicherung eines größtmöglichen Freiraums für politische Betätigung überhaupt dreißig oder vierzig Jahre später.
Ein Problem allerdings stellt sich in all diesen Jahren, angefangen von der Opposition gegen die sozialdemokratische Kriegspolitik und besonders deutlich in den Jahren nach 1945: Wie können linke Sozialisten die für sie unerlässliche Verbindung zur Arbeiterschaft herstellen und letztlich deren Aufmerksamkeit erringen, ohne ihre Prinzipien aufzugeben und sich dem gegebenen Bewusstseinsstand anzupassen? Georg Jungclas hat sich diese Frage immer wieder und ganz bewusst gestellt, und er gehört zu den Wenigen, die über Jahre hinweg auf dem schmalen Weg zwischen Anpassung, Resignation und Versektiererung zu gehen verstanden haben. Seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Ausnutzung jedes für das Anliegen des Sozialismus wichtigen Spielraumes, die er gezeigt hat, ohne sich dabei in der Tagesarbeit zu verlieren und die Schranken zur bürgerlichen Gesellschaft zu verwischen, haben ihm auch die Achtung anders orientierter politischer Kräfte der Arbeiterbewegung eingetragen.

Auszug aus der Verlagsvorbemerkung zu: Von der proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre. Georg Jungclas 1902—1975, Hamburg (Junius) 1980.


Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang