SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 12

Eine andere Welt ist möglich

Das 2.Weltsozialforum in Porto Alegre

Manche, auch der Teilnehmenden, haben es nicht verstanden und das Ganze für ein großes Woodstock mit Volkshochschulprogramm gehalten — 70000 Teilnehmende, die andächtig den Gurus lauschten, wie sie über Reform oder Abschaffung der WTO und De-Globalisierung disputieren, und sich nebenbei von den Musikeinlagen und farbenprächtigen Umzügen auf dem Gelände der Katholischen Pontifikalen Universität (PUC) von Porto Alegre mitreißen lassen. Doch davon keine Spur. Der Aufbruch in eine andere Welt beginnt nicht mit einem alternativen Konsumspektakel, sondern mit einem gigantischen Prozess der Selbstorganisation.
Das fing schon bei den äußeren Bedingungen an: Die Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaats, Porto Alegre, die von einem PT-Bürgermeister (der eher dem rechten Flügel angehört) regiert wird, und die dort ebenfalls ansässige Landesregierung (die von einem eher dem linken PT-Flügel zuzurechnenden Gouverneur regiert wird) hatten sich mit dem Anliegen des 2.Weltsozialforums (WSF) voll identifiziert — auf angenehme Weise, denn Führungsansprüche wurden daraus nicht abgeleitet. Statt dessen war die ganze Stadt bemüht, den Delegierten zu helfen, sich in der verwirrenden Vielfalt des Angebots zurechtzufinden.
Die Diskussion war entlang von vier Hauptachsen gegliedert: Produktion von Reichtum; Zugang zu Reichtum und Nachhaltigkeit; Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit; Machtpolitik und Ethik. Darunter wurden Seminare und Arbeitsgruppen zusammengefasst, die wiederum verschiedene Unterstränge bildeten — einige hielten einen Diskussionsbogen über zwei bis drei Tage durch. Daneben gab es Großveranstaltungen und Aktiventreffen; die Delegationen — aus Afrika, arabischen Ländern, Asien, Europa, Lateinamerika — berieten ihre Vorhaben und Wünsche bis zum 3.WSF; andere, wie das Forum der Sozialen Bewegungen, formulierten eigene Abschlusserklärungen.
Das selbstgesteckte Ziel des WSF, "de ser propositivo", Vorschläge für Alternativen zu machen, wurde voll und ganz eingelöst. Nicht in dem Sinne, dass ein Kreis von Obermuftis andächtig Lauschenden ein fertiges Programm vorgesetzt hätte, sondern in dem Sinne, dass von allen Seiten Beiträge dazu eingebracht wurden.
Das Weltsozialforum versteht sich als Forum — d.h. als ein Raum, in den alle eingeladen sind, die Kritik an der neoliberalen Globalisierung formulieren.
Es wird geprägt von einem glücklichen Zusammentreffen von drei Elementen: den bestehenden sozialen Bewegungen weltweit, wobei diejenigen aus den Ländern des Südens einen viel größeren Massenanhang haben als die aus den Ländern des Nordens; einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die auf unterschiedlichen Gebieten eine große Fachkompetenz einbringen; und schließlich aus einem Kern von sozialistischen Linken, die aus unterschiedlichen Traditionen kommen, deren Scheitern erlebt haben und die Entwicklung eines neuen weltweiten Widerstandspotenzials als Chance für einen Neuanfang sehen — mit anderen Strukturen und anderen Formen der Willensbildung als die alte, zentralistisch und autoritär geführte Linke (siehe dazu Seite 14 und 15).
Zum Selbstverständnis des WSF gehört es, dass es keine Organisation sein will, deshalb auch keine Linie vorgibt. Es gibt zwei Grundsatzerklärungen der brasilianischen Organisatoren — die Charta von Porto Alegre vom Januar 2000 (nebenstehend Auszüge daraus) und eine Erklärung gegen den Krieg nach dem 11.September (Seite 14). Aber es gab und gibt keine gemeinsame Abschlusserklärung, die eine Linie vortäuschen würde; stattdessen gibt es eine Vielfalt von Initiativen, die aus den Begegnungen, Vernetzungen und gemeinsamen Mobilisierungen entstehen.
Das Gesicht des 2.Weltsozialforums wurde von den sozialen Bewegungen geprägt, die eine eigene Abschlusserklärung formuliert haben — sie ist über zahlreiche Publikationen verbreitet worden und u.a. auf der SoZ-Homepage nachlesbar. Sie waren es vor allem, die den langen Aktionskalender (siehe S.23) zusammengetragen, aber auch eine gemeinsame Einschätzung der grundlegenden Entwicklungstendenzen seit dem letzten WSF gewagt haben.
Die Tendenz steht auf Ausweitung der Bewegungen und der Anziehungskraft des WSF: Im Vergleich zum vergangenen Jahr konnte eine massive Präsenz der Gewerkschaften, der Jugendlichen, Kinder, von Vertretern aus arabischen und afrikanischen Ländern und eine sehr sichtbare Präsenz der Frauen verzeichnet werden; die Frauen machten fast die Hälfte der Teilnehmenden, wenn auch nicht der Referenten aus.
Die NGOs haben ebenfalls einen Ball in den Ring geworfen: Das Internationale Forum über Globalisierung (IFG), ein Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, hat einen Gliederungsentwurf für ein Manifest verteilt, das in den kommenden drei Monaten fertiggestellt und in einem Prozess über drei Jahre in allen Teilen der Welt diskutiert werden soll.
Der große Erfolg des 2.Weltsozialforums ist das Ergebnis eines Aufschwungs der Klassenkämpfe, den auch der 11.September und die danach auf breiter Front eingeleitete imperialistische Gegenoffensive nicht haben stoppen können. Referenten auf dem Forum fanden dafür die Umschreibung: "Die Niederlage von 1989 ist überwunden." Das ist ein großes Wort, das einiger Präzisierungen bedarf, denn weltweit befinden sich die Arbeiterbewegung und die Linke immer noch in der Defensive und ein Teil ihrer neu gewonnenen Kraft und Spielräume rührt aus der Krise des Gegners, den inneren Widersprüchen der neuen imperialen Weltordnung.
Diese Krise wurde an herausragenden Ereignissen wie dem Skandal der Enron-Pleite und der Krise in Argentinien festgemacht, die die Tauglichkeit der Rezepte des Internationalen Währungsfonds in Frage stellt. Mit Brachialgewalt setzen die USA unilateral — ohne Rücksicht auf ihre Bündnispartner — ihre wirtschaftlichen und militärischen Interessen durch und stellen dabei die globalkapitalistische Regulierungsfunktion der Bretton-Woods-Institutionen (IWF, Weltbank) wie auch der UNO in Frage.
Nach Seattle hat vor allem die Weltbank den Gegner der neoliberalen Globalisierung Anerkennung gezollt, indem sie die Berechtigung der Kritiken explizit anerkannt und den Dialog angeboten hat. Er stand immer auf tönernen Füßen. Nun versucht das Weltwirtschaftsforum (WEF — es tagte früher in Davos, dieses Jahr in New York), die Rolle des globalen neoliberalen think tank, der mit den Zivilgesellschaften den Dialog über die Entwicklungsrichtung der Weltwirtschaft und der Weltordnung führt, zu übernehmen.
Das WEF hat in diesem Jahr eine Vielzahl von Religionsführern, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern eingeladen — der Internationale Bund Freier Gewerkschaften ist nach New York gefahren, nur eine niedrigrangigere Delegation fand den Weg nach Porto Alegre. Der Generalsekretär des WEF, André Shnaider, hatte wieder in eine achtminütige Videodebatte mit Candido Grzybowski vom WSF eingewilligt, die von einer kleinen schweizerischen Fernsehanstalt ausgestrahlt wurde.
Eine gemeinsame Grundlage für den Dialog ist jedoch schwer zu finden: Das WEF besteht darauf, die Bedingungen dafür zu definieren, und es hat nichts anzubieten. Die Selbstverpflichtung, 50 Milliarden Dollar für die Bekämpfung der Malaria zu stiften, wirkt lächerlich (Grzybowski: "Das ist nicht einmal der Jahresumsatz eines mittleren brasilianischen Pharmaunternehmens"), und wenn immer es mit der Forderung nach verbindlichen Zusagen und Regelungen konfrontiert wird, zieht es sich darauf zurück, es sei kein Entscheidungsgremium, nur eine Diskussionsplattform.
Das WEF besteht aber darauf, dass "die Unternehmer die Protagonisten einer effizienten wirtschaftlichen Entwicklung und die internationalen Finanzinstitutionen der Hebel zur Lösung der globalen Probleme seien". Eben dies wird von Porto Alegre mit zunehmender Glaubwürdigkeit bestritten: Die profitgesteuerte Ressourcenallokation für die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht effizient, IWF und Weltbank werden als "Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung" betrachtet, und schlussendlich — und das ist der wichtigste Schritt — beansprucht das WSF, selber das Subjekt zu sein, das eine Lösung findet und in Gang setzen kann.
Der Dialog bekommt den "Herren von Davos" nicht, dafür haben sie zuwenig zu bieten. Als Mittel, ihre Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, taugt er nicht. Ihre Legitimationskrise wird dadurch verschärft. Aber anders als früher nehmen die "Herren von Davos" ihre Konkurrenten vom Weltsozialforum heute sehr ernst.
Viel Zeit haben wir nicht. Das Weltsozialforum wächst, indem es immer weitere Wurzeln schlägt. Der wichtigste Schritt dafür ist die Bildung kontinentaler Sozialforen. Das Europäische Sozialforum ist für Ende des Jahres in Italien geplant. Zwischen der globalen Vernetzung und der Ausweitung des Widerstands vor Ort besteht ein dialektischer Zusammenhang, den man in beide Richtungen betreiben muss.
Die Aufmerksamkeit, die Porto Alegre in den Parteien der Linken (im breitesten Sinne des Wortes) und in den Gewerkschaften zuteil wurde, muss genutzt werden. Attac hat nach Porto Alegre erneut Zulauf bekommen. Dies alles gilt es umzumünzen in eine breite Mobilisierung zum Europäischen Sozialforum und in Vorschläge für Aktionen und Vernetzungen, die sich daraus ergeben sollten.

Angela Klein

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang