SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 18

Denken statt draufhauen

Wer die Bekämpfung des politischen Islam mit allen Mitteln fordert, läuft Gefahr, ihn noch zu stärken

So viel Glaube war nie. Manchen Vertretern der deutschen Restlinken zufolge hat sich die Welt einem neuen Hauptwiderspruch unterzuordnen — zwischen Deutschen (im Geiste) und Antideutschen, was gleichbedeutend sei mit Antisemiten und militanten Antiantisemiten. In deren Lesart werden die bürgerlichen Ideale einiger westlicher Weltmächte für bare Münze genommen, um sie so gegen die "deutsche Mentalität" in Stellung zu bringen.
Thomas von der Osten-Sacken bringt diese Position exemplarisch auf den Punkt: "Im Gegensatz zu Deutschland aber können die Handlungen der USA jederzeit an der sie einst konstituierenden bürgerlichen Revolution gemessen werden. Deutschland dagegen ist immer dann identisch mit sich selbst, wenn Theorie und Praxis in der Vernichtung zusammenfallen" (Jungle World, Nr.6, 2002).
Diese Aussage wird die zahlreichen schwarzen US-Bürger in den Todestrakten nordamerikanischer Gefängnisse bestimmt ebenso trösten wie die Untertanen Saudi-Arabiens, wo die USA seit 1930 ein System unterstützen, das bekanntlich unglaublich viel mit den Idealen bürgerlicher Revolutionen zu tun hat.
Die sicherlich notwendige Kritik an den Ideologien und Interessen deutscher Eliten, die gern der Kalif am Platze des Kalifen wären, hat sich auf diese Weise jedoch dermaßen verselbständigt, dass die Realität in anderen Teilen der Welt nicht mehr interessiert.
Einem ähnlichen Muster wie Osten-Sacken folgt Matthias Küntzel (Konkret, Nr.11, 2001, und Jungle World, Nr.5, 2002). Seine strukturelle Welteinteilung kommt dabei vor allem in jener Passage zum Vorschein, in der er zu erklären versucht, worin die Gründe für die zu Beginn der Bombardierungen im Mittleren Osten "besonders enge Kooperation zwischen Washington und London vermutlich" liegen. Nicht etwa in den traditionell guten Beziehungen zwischen zwei Großmächten, die bereits in anderen Kriegen zu Tage traten, sondern in den hehren bürgerlich-liberalen Idealen, der "britische[n] und US- amerikanische[n] Vorstellung vom Individuum als politischem Subjekt", die dem islamistischen "Identitätswahn" und der "Doktrin der Deutschen" diametral entgegenstehe. Diese Sätze belegen vor allem eins: Küntzels völlige Unkenntnis der islamistischen Akteure und ihrer Ideologie.
So ignoriert er, dass ausgerechnet London als "Hauptstadt des europäischen Islamismus" gilt. Sämtliche extremistischen Strömungen des internationalen Islamismus hatten dort ganz legal ihren Sitz oder vertrieben von dort ihre Publikationen. Von London aus bekannten sich etwa algerische Islamistengruppen zu den blutigen Massakern in ihrem Land.
Und der algerische Islamist Anouar Haddam bspw. gab seine Erklärungen zu den Gräueltaten seiner Gefolgsleute ausgerechnet in Washington ab. Nicht ohne Grund. Die US-Regierung setzte in den 90er Jahren auf eine Machtübernahme der Islamisten in Algerien, die die CIA bereits 1994 fälschlich vorausgesagt hatte. Dieser Machtwechsel wurde vor allem deshalb so energisch befürwortet, um Frankreich aus seinem "Hinterhof" im Maghreb zu verdrängen. Internationale Politik hält sich eben wenig an bürgerlich-liberale Ideale.
Doch wenn man Küntzels Analyse des politischen Islamismus folgt, sind solche Zusammenhänge auch gar nicht von Bedeutung. Denn sie besteht vor allem darin, Züge des deutschen Nationalsozialismus in den Islamismus hineinzulesen. Der Mühe, den Islamismus in seinem gesellschaftlichen Kontext zu analysieren, unterzieht er sich erst gar nicht.
Küntzel zeigt in Konkret vielmehr anschaulich, wie diese Art der Analyse funktioniert. Sein Artikel beginnt mit einem Zitat von Adolf Hitler, der "nicht zufällig" die Vernichtung des vorgeblich jüdisch dominierten New York herbeifantasiert habe. Einige Absätze weiter wird dann der "eliminatorische Hass gegen das jüdische New York" als einziges Motiv der Attentäter fraglos vorausgesetzt. Bewiesen wurde diese These ja bereits mit Zitaten, nicht von islamistischen Aktivisten, sondern von Hitler.
Nun haben andere Islamisten schon Mitte der 90er Jahre in Paris mehrere blutige Attentate auf voll besetzte Metrozüge verübt. Oder im Januar 1995 in Algier einen voll besetzten Passagierbus in eine rollende Bombe verwandelt, um das Hauptkommissariat der algerischen Hauptstadt zu treffen. Küntzel hätte sicherlich große Mühe, diese Attentate, die in ihrer Form mit den Anschlägen in New York vergleichbar sind, durch einen vorgeblich jüdischen Charakter der getroffenen Orte zu erklären.
Die von Küntzel vorausgesetzte Behauptung, dass der Antisemitismus nicht nur das zentrale Motiv des Nationalsozialismus, sondern auch des Islamismus sei, ist in dieser schlichten Form unhaltbar. Das Hauptmotiv des radikalen Islamismus ist die Vorstellung, die Krise der muslimischen Gesellschaften sei durch eine Rückkehr zu einer vermeintlich verschütteten "kulturellen Identität" zu lösen.
Ausgehend von der Erfahrung der kolonialen Aggression, interpretiert der Islamismus unterschiedliche Phänomene der heutigen Gesellschaftsformationen durch dieses ideologisches Raster.
Von der Massenarmut bis zur Emanzipation der Frauen werden die Umwälzungen in den islamischen Gesellschaften auf eine einzige Ursache reduziert — auf die westliche Aggression. Die durchaus reale imperialistische Dominanz wird denunziert und mit verschwörungstheoretischen Halluzinationen kombiniert, was im Endeffekt ein reaktionäres Gesellschaftsprojekt ergibt.
Ein bedeutender Unterschied zum NS-Antisemitismus ist evident. Dieser zielte darauf ab, die gesellschaftliche Krise der 30er Jahre zu lösen, indem er die jüdische Bevölkerung vernichtete. Wer hingegen dem "Herrenvolk" angehörte, sollte besser leben.
Im islamistischen Gesellschaftsprojekt gibt es keine solche "Herrenrasse". Im Gegenteil, niemand hat so sehr unter einem islamistischen Regime zu leiden wie die muslimische Bevölkerung. Deswegen eignet sich auch islamistische Politik durchaus als Instrument der Krisenverwaltung, um auf ihrer Grundlage die imperialistische Vorherrschaft zu erhalten.
Wodurch haben die existierenden islamistischen Regime — im Iran, in Saudi-Arabien und bis vor kurzem in Afghanistan — denn die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Durch die zahlreich verhängten körperlichen Züchtigungsstrafen, die insbesondere den Muslimen selbst einbläuen sollen, ihrer vorgeschriebenen "Identität" treu zu bleiben.
Auch in einem anderen Aspekt stimmt der NS-Antisemitismus mit dem des Islamismus nicht überein. Im Nationalsozialismus gab es keine Möglichkeit für einen Juden, seiner "Natur", seiner "Rasse" zu entrinnen. Ein jüdischer SS-Mann war nicht vorstellbar. Doch selbst die extremsten Fraktionen des radikalen Islamismus, wie Al-Qaida, haben durchaus ehemalige Andersgläubige in ihren Reihen. Die These, die Haltung der radikalen Islamisten gegenüber den USA sei vergleichbar mit dem Verhältnis der Nazis gegenüber den Juden, trifft nicht zu.
Selbstverständlich kann sich der politische Islam mit chauvinistischen und verschwörungstheoretischen Elementen mischen. Und dies gilt nicht nur im Hinblick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Andere Beispiele sind Bosnien, Kaschmir, der Südsudan und die von Kopten bewohnten Regionen Ägyptens.
Wer die Ursachen des gesellschaftlichen Erfolges des Islamismus — jene Mischung aus zu Recht kritisierten gesellschaftlichen Bedingungen und reaktionärem Wahn — nicht richtig analysiert und stattdessen militärische Lösungen fordert, könnte dazu beitragen, die reaktionäre Utopie noch zu bestärken. Der Krieg gegen den Irak von 1991 hat, ebenso wie zuvor die sowjetische Invasion in Afghanistan, der scheinbaren islamistischen Alternative in der gesamten Region zu neuer Legitimität verholfen — als Repräsentant des Widerstands gegen eine äußere Unterdrückung.
Autoritäre Linke wollen dies jedoch nicht sehen. So auch Tjark Kunstreich, der meint, alle von der UdSSR in Afghanistan eingesetzten Kriegsmittel ("any means necessary") im Nachhinein bedingungslos legitimieren zu müssen (Konkret, Nr.11, 2001). Als ob die Jahre der sowjetischen Präsenz nicht ein Teil jener Geschichte wären, die zu dem geführt hat, was folgte.
Aber Dialektik ist manchen Ohren fremd, Draufhauen ist angesagt. Auch auf die Gefahr, den islamistischen Wahn noch zu stärken.

Bernhard Schmid

Der Beitrag ist ein Nachdruck aus Jungle World, Nr.7, 2002, und erschien dort auf der Debattenseite.


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