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Nicht an Hoffnungen und Enthusiasmus mangelte es im vom Faschismus befreiten Nachkriegsdeutschland. Wohl jedoch an den ökonomischen, politischen
und vor allem den ideologischen Voraussetzungen für eine sozialistische Erneuerung.
Banden sich die wiederauferstandenen Organisationen der alten Arbeiterbewegung in Ost und West ökonomisch und
politisch an ihre jeweiligen Besatzungsmächte, überwog im Ideologischen das Anknüpfen an einen tendenziell vagen, vor allem ethisch gefassten Humanismus
allgemeinmenschlicher Natur. Mit der Besinnung auf Ethik sollte der faschistischen Barbarei der Riegel vorgeschoben werden. Und in der Tradition des antifaschistischen Kampfes war dieser
Kampf für Humanität gerade auch bei Sozialdemokraten und Kommunisten ein weitgehend klassenloser.
Auf diesem Wege gewann der neue Humanismus zwar an Breite, nicht jedoch an Tiefe und politischer Schlagkraft. Es hat seine
eigene Logik, wenn die nachwachsende junge politische Generation der 60er Jahre den ideologischen Kampf gegen den Humanismus zur theoretischen Chefsache erklärte. Dass diese
Logik allerdings unpolitisch und geschichtslos war und ist, dass wusste Theo Pirker wie wenige andere und hat es den "Seminarmarxisten und Jungsozialisten-Marxisten", wie er sie
nannte, immer wieder vorgeworfen. Er wusste, wovon er sprach, denn seine politische Biografie war nicht untypisch für diese Zeit des humanistischen Aufbruchs.
Der am 2.März 1922 in München geborene Pirker war 1940, nach Abitur und Lehre in der Münchner
Stadtverwaltung, Fallschirmjäger geworden und in jenen Krieg gezogen, aus dem er, mehrfach schwer verwundet, als radikaldemokratischer Sozialist zurückkehrte. "Die
Erfahrungen des Krieges lass ich mir nicht wegradieren", sagte er 1987 in seinem autobiografischen Gesprächsband*, "[d]as war immer schon so. Auch in den ersten Tagen
1945 habe ich ganz bewusst an dieser Erfahrung des Krieges festgehalten. Mein ganzes Denken dreht sich um den Krieg." Und während eines Treffens mit dem von ihm nicht sehr
geschätzten Theodor W. Adorno, sagt Pirker: "Herr Professor Adorno, Sie wissen genau, ich entspreche dem Typus der autoritären Persönlichkeit. Außer, dass
ich nicht an Autoritäten glaube."
Aus der Erfahrung von Schuld und Verstrickung, Gewalt und Politik, gerade auch der mit den gängigen Ethik- und
Moralvorstellungen auch für ihn nicht mehr begreifbaren Judenvernichtung, machte Pirker sich auf die Suche nach Humanismus und Solidarität. Drei Stränge durchzogen
dabei sein Wirken.
Als christlicher Sozialist arbeitete der Student Pirker bis 1949 an der katholischen Zeitschrift Ende und Anfang mit, verfasste
Artikel und politische Gedichte und wandte sich gegen Restauration und Wiederbewaffnung. Auch bei ihm stand, wie er einmal sagte, der geschundene Christus im Mittelpunkt. Seine christlich-
soziale Ethik war eine Ethik der Solidarität: "Es geht um die theologische Bestimmung des Menschen als solidarisches Wesen. Außerdem geht es darum, dass diese
Solidarität nicht so sehr aus der Freude herrührt, sondern aus der Erfahrung des Leidens und der Mühe."
Als radikaler Demokrat war er, zweitens, tief beeinflusst von wirtschaftsdemokratischen und plebiszitären Vorstellungen.
Skeptisch blieb er zeitlebens dem parlamentarischen Betrieb und ein Liberaler war er nie, wie er betonte. Er verstand den nach 45 vorherrschenden Humanismus explizit als einen
sozialistischen.
So fand er zum dritten einen natürlichen Anknüpfungspunkt zur Gewerkschaftsbewegung.
Vehement trat der als Dozent, Publizist und empirischer Soziologe in der Gewerkschaftsbewegung arbeitende Klassenkämpfer für eine Erneuerung der klassischen
Arbeiterbewegung auf deutschem Boden ein, forderte, dass sich die Gewerkschaften zum gleichzeitig sozialen wie politischen "öffentlichen Verband" zu entwickeln
hätten, um ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gerecht zu werden. Als radikaldemokratischer und sozialistischer Interessenverband sollten die Gewerkschaften stärker den
Zusammenhang von Betrieb und kommunalem Leben beachten und den Kampf um die Hegemonie der Nation aufnehmen. Weniger um eine ausgewiesene Programmatik ging es ihm dabei. Sein
Interesse war mehr auf die proletarischen Organisationsformen und ihre Kultur gerichtet. So hat er, wie er einmal sagte, "immer mehr um Raum, Zeit und Luft gekämpft als um
große Ideen. Einige Male ist es gelungen, einige andere Male nicht."
Diese drei Stränge ließen Theo Pirker zu einem der bedeutendsten Figuren der westdeutschen Nachkriegslinken
werden. 1953 kam er ins Wirtschaftswissenschaftliche Institut des DGB, in das berühmt-berüchtigte WWI unter der Leitung von Viktor Agartz. Pirker wurde dessen enger
Mitarbeiter und Ghostwriter u.a. von dessen berühmter Rede auf dem Frankfurter DGB-Kongress von 1954.
Das innergewerkschaftliche Komplott gegen den so standhaften wie erfolgreichen Marxisten Agartz, traf auch seine Mitarbeiter.
Pirker wurde 1956 entsprechend als erstes entlassen. Er widmet sich publizistischen Beiträgen in der einschlägigen linken Kleinstpresse und im Radiojournalismus, sowie
soziologischen Untersuchungen auf dem Gebiet der Büroautomation.
Nebenbei schreibt er 1957 die erst 20 Jahre später veröffentlichte Studie Die verordnete Demokratie. Grundlagen
und Erscheinungen der "Restauration", sein "letztes Memorandum im Dienste und auf Kosten der Gewerkschaften". Er engagiert sich in der Kampagne gegen die
Atombewaffnung der Bundeswehr, knüpft Kontakte zur britischen Neuen Linken und zur algerischen Revolution und führt Anfang der 60er Jahre ausgedehnte Forschungsreisen nach
Nordafrika, in den mittleren Orient, sowie nach Süd- und Südostasien. 1960 erscheint seine zweibändige Abrechnung mit der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung Die
blinde Macht. Die Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik 19451960, die 1979 neu aufgelegt wird und noch heute mit großem intellektuellen Gewinn und viel Genuss zu
lesen ist.
Neben Studien zur Soziologie der Büroarbeit erscheinen in der ersten Hälfte der 60er auch seine breitenwirksamen
Geschichtsbücher zu den Moskauer Schauprozessen und zur Kommunistischen Internationale, in denen er scharf mit der kommunistischen Weltbewegung abrechnet. Im fortwirkenden
Stalinismus erkennt er die "Verletzung dessen, wovon ich lebe, nämlich der unmittelbaren Solidarität als Selbstverständlichkeit. Wenn die nicht mehr da ist, dann
weiß ich nicht mehr, wie ich als Mensch leben soll . Ein System der Selbstbezichtigung und Selbstselektion werde ich nicht hinnehmen oder gar noch als Sozialismus deklarieren. Ich
nicht. Das ist ganz eindeutig. Da können die Leute reden, was sie wollen. Sie können da den ganzen Marx zitieren, von vorne bis hinten, das ist mir gleichgültig. Für
mich ist Sozialismus meine Selbstbestimmung und die Selbstbestimmung der Gruppen, der Klassen und des Volkes, in dem wir uns befinden."
1966 erscheint Pirkers fulminante Abrechnung mit der deutschen Sozialdemokratie: Die SPD nach Hitler. Die Geschichte der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 19451964 (1977 neu aufgelegt).
Die 60er sind das Jahrzehnt, in dem Theo Pirker aus der linken Öffentlichkeit verdrängt wird. Bei den
Kommunisten und Sozialdemokraten ist er unten durch. Mit dem Bann der Gewerkschaftsführung gehen auch die Gewerkschaftslinken auf Distanz zum Gewerkschaftskritiker aus den
eignen Reihen. Und auch die neuen Aktivisten der APO lässt Pirker links liegen. Er sieht in ihnen nur die Söhne und Töchter der besseren Mittelschicht, die in arroganter
Manier verdrängen, in welchem Ausmaße sie selber politisch und ideologisch aus den Kämpfen der 50er Jahre hervorgegangen sind. Das Bohmehafte an der
antiautoritären Bewegung stößt ihn geradezu ab und ist ihm Zeichen, dass hier etwas grundlegendes schief läuft. Er sitzt jenseits aller Stühle und ist fast
vergessen. ("Man nimmt harte Nüsse nicht freiwillig in den Mund.")
Seine alten politischen Hoffnungen haben sich zerstoben, der Humanismus ist als ethischer Impuls noch immer vorherrschend.
Doch der von ihm selbst offen eingestandene "kalte Wind des Skeptizismus" überlagert jede Äußerung. Pirker bleibt nur der Weg des Wissenschaftlers. 1972 wird
er Professor für Soziologie an der FU Berlin, wo er bald Vorsitzender des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung wird. Vereinzelt bleibt jedoch der Kontakt zu
Berliner Linken, die seine Schriften Ende der 70er wieder entdecken. Auch der Gewerkschaftsbewegung bleibt er durchaus verpflichtet und mischt sich gelegentlich weiter ein, u.a. mit einem
Wellen schlagenden Aufsatz von 1978, in dem er das "Ende der Arbeiterbewegung" materialistisch untermauert. Für Pirker ist dieser Abschied wie für viele andere
Linke jener Zeit kein normativer. Er bleibt den alten Idealen auch weiterhin treu. Nur mit der real existierenden Arbeiterbewegung kann er nicht mehr viel anfangen: "Mein analytischer
Geist war zu geschärft. Meine Skepsis war zu groß entwickelt, als dass ich bei einer einzigen Streikbewegung schon 'Aha gesagt hätte."
Was hätte diese harte Nuss wohl dazu gesagt, wenn er hätte mitbekommen können, wie ihn IG-Metall-Chef
Zwickel nach seinem Tode am 31.August 1995 für die Gewerkschaftsbewegung großzügig rehabilitierte? Nur ein toter Pirker ist ein guter Pirker?
Christoph Jünke
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