SoZ Sozialistische Zeitung |
Die im Auftrag der OECD durchgeführte PISA-Studie hat der deutschen Bildungssituation schlechte Noten ausgestellt (vgl. SoZ 1/02) und zu
umfangreichen Diskussionen geführt. Dass einmal mehr die Chance für eine tiefgreifende Bildungsreform verspielt werden könnte, zeigen die Reaktionen der Kultusminister
der Länder, der Bildungsfachleute und Politiker, der Arbeitgeber und Gewerkschaften, sowie der Lehrer- und Schülerschaft.
In einer ersten Stellungnahme hatten Mitglieder der Kultusministerkonferenz vor der Presse eine Diskussion über
Schulstrukturen strikt abgelehnt. Dann war man sich schnell einig, dass Konsens das oberste Gebot der Stunde sei und auf keinen Fall die "alten Grabenkämpfe" um das
Dreiklassenschulsystem wieder aufflammen dürften. Man einigte sich schnell auf ein Minimalprogramm, trotzdem sind viele Gegensätze geblieben über die
Länge der Grundschulzeit und die Einrichtung von Ganztagsschulen, über frühzeitigere Leistungskontrollen und Elitegymnasien.
Vielleicht soll ja auch der einvernehmliche "Wettbewerb der guten Ideen", den ausgerechnet die Kultusministerien
von Bayern und NRW über die Parteigrenzen hinaus gemeinsam ausgerufen haben, um deutsche Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich wieder an die Spitze
zu bringen, schlicht verhindern, dass die wirklichen Gründe für das schlechte Abschneiden erst gar nicht zur Sprache kommen. Und vielleicht könnte man, wenn die
Ergebnisse nicht den gewünschten Erfolg zeigen, mal wieder die Kuschelpädagogik oder die Alt-68er mit ihren Erziehungsmethoden für das schlechte Abschneiden
verantwortlich machen ein bewährtes Erklärungsmuster.
Nicht mehr als Empfehlungen gibt auch das "Forum Bildung" von Bund und Ländern unter Leitung der Bildungsministerin Edelgard Bulmahn. Auch hier bleibt es
bei allgemein gehaltenen Forderungen nach Frühförderung, Ganztagsschule, einer höheren Abiturientenquote und einer besseren Betreuung an den Hochschulen, um die
hohen Abbruchquoten zu senken.
Einer der beiden Vorsitzenden des Forums, CSU-Wissenschaftsminister Zehetmair, sagte es am Rande der Konferenz schon
deutlicher: Es müsse wieder um Werte wie Disziplin gehen, Konkurrenz und Leistung seien gefordert. Dabei hat uns PISA doch gerade gelehrt, dass sich Chancengleichheit und Leistung
in einer gemeinsamen Erziehung eben nicht ausschließen müssen, denn in einem Klima gegenseitiger Toleranz und entspannter Lernatmosphäre kommen alle Kinder zu
besseren Lernergebnissen.
Von Ganztagsschulen zu sprechen ist für ihn "ein Rückfall in überkommene Ideologien". Bayern
will höchstens eine Ganztagsbetreuung und das ist dann kein integratives Konzept, bei dem sich der Vormittagsunterricht pädagogisch sinnvoll mit den Angeboten am Nachmittag
verzahnt.
Bundespräsident Rau erinnerte in seiner Rede auf dem Forum Bildung an die Bildungsoffensive der 60er Jahre und
nannte als heutiges Ziel die "Notwendigkeit einer besseren Teilhabe aller an Bildung". Doch keiner auf dem Forum sagte konkret, woher denn die demnächst fehlenden
Abiturienten kommen sollen, wenn die Schülerzahlen drastisch zurückgehen und nicht gleichzeitig die Bildungsbeteiligung ausgeweitet wird.
Obwohl in Deutschland viel zu wenig für Bildung ausgegeben wird, kündigte die Finanzministerkonferenz vor
einiger Zeit an, bei rückläufigen Schülerzahlen Gelder einsparen zu wollen. Die dringend notwendige Breitenförderung gerade im Grundschulbereich bliebe damit
abermals auf der Strecke.
Der Ministerpräsident von NRW, Clement, hat die Bildungspolitik seines Landes zur "Chefsache"
erklärt, ist mit unausgegorenen Vorschlägen wie Verlängerung der Grundschulzeit an die Öffentlichkeit gegangen, ohne dabei gangbare Wege aufzuzeigen.
Seine Schulministerin ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil sie dauernd neue Projekte auflege und jede Kontinuität
vermissen lasse. Sie brüstet sich zwar damit, in der Lehrerausbildung die "weitestreichende" Reform zu betreiben, plant jedoch eine sinnwidrige Veränderung des
Lehrerausbildungsgesetzes, bei der der klassische Gymnasiallehrer (Klasse 513) einem Allroundpädagogen für Grund-, Haupt- und Realschule gegenüber gestellt wird.
Die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer könnten dann zwar einen Schwerpunkt für eine Schulform
wählen, sollen aber nach dem Willen der Ministerin so "flexibel" sein, dass sie in allen drei Schulformen unterrichten können, also von Klasse 1 bis Klasse 10! Das
wiederum würde die Abschaffung eines eigenständigen Grundschullehramts bedeuten und konterkariert alle Bemühungen um eine bessere Förderung im Primarbereich
und beim Integrationsanspruch. Wir hätten dann wieder eine Lehrerausbildung wie zu Preußens Zeiten: je kleiner die Kinder, um so schlechter die Ausbildung und natürlich
auch die Bezahlung!
Zur Finanzierung des Modellvorhabens "Selbstständige Schule" ein "Reform"vorhaben,
das noch ganz den alten, hierarchischen Geist von Anordnung und Genehmigung atmet, die Schulleitung mit neuen Kompetenzen ausstattet und den Beschäftigtenschutz aufhebt
werden Gelder aus einem bewährten Förderkonzept für Jugendliche ohne Ausbildung abgezogen, obwohl dort eine anerkannt gute und erfolgreiche Arbeit geleistet wurde.
Bei Unternehmerpräsident Dieter Hundt hat man den Eindruck, dass er seit seiner eigenen Schulzeit keine Schule mehr von innen gesehen hat, denn seine Kritik geht an der
Schulwirklichkeit haarscharf vorbei. So meint er bspw., dass das Thema "Steinzeit" mit einem halben Jahr viel zu lange behandelt würde. Doch in keiner Schulform wird ein
Einzelthema so lange behandelt.
Der Begriff "Steinzeit" im Zusammenhang mit Schule ist natürlich bewusst gewählt, um ganz
bestimmte Assoziationen zu wecken. Es kann aber nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schule sein, für die Arbeitswelt eine Ausbildung zu garantieren, die ausschließlich an den
Interessen der Wirtschaft orientiert ist. Deren Forderungen nach Reduzierung des Fächerkanons und der Lehrpläne zugunsten eines sog. "Grundlagenwissens" gehen
aber in diese Richtung. Für den musischen Bereich oder gesellschaftspolitische Themen wäre dann kein Platz mehr.
Weiter verlangen die Unternehmer, mehr Geld in die Grundschulen zu stecken und dafür bei den Gymnasien zu
kürzen. Das würde bedeuten, dass noch weniger Kinder aus unteren Schichten das Gymnasium besuchen könnten, denn das Lernen dort würde sich dann abermals
verteuern.
Ganz tief in die Mottenkiste greift Hundt, wenn er eine intensivere Hochbegabtenförderung und die Ausbildung von
Leistungseliten verlangt, wo doch PISA gezeigt hat, dass in heterogenen Gruppen nicht nur mehr geleistet wird, sondern auch Sozialkompetenz, Kreativität und Kritikfähigkeit bei
Kindern und Jugendlichen viel besser entwickelt werden. Doch solche Fähigkeiten sind den Wirtschaftsvertretern eher suspekt. Sie verlangen verbindliche Leistungsstandards für
alle Fächer, noch mehr Leistungskontrollen und zusätzliche Prüfungen.
Nach Meinung der Bildungsexperten aber geht es vor allem um eine Reformierung der Unterrichtspraxis hin zu offenen Unterrichtsformen, weg vom frontalen Unterricht, bei dem ein
Dompteur für Ruhe und Disziplin sorgt. Der isolierte Fachunterricht vermittele Wissensbausteine, die in den Köpfen der Schülerschaft meist unverbunden nebeneinander
stünden, denn eine inhaltliche Abstimmung zwischen den Fachlehrern sei die ganz große Ausnahme. Auf eine Lernsequenz folge dann ein Test und das Gelernte darf getrost wieder
vergessen werden.
Stattdessen wären vernetzte Lernmodelle das Gebot der Stunde, weil sie das Verstehen und Behalten nicht nur
erleichtern, sondern eine aktive Mitwirkung der Lernenden erfordern. In einem offenen Unterricht, in dem an unterschiedlichen Themen und Schwerpunkten gearbeitet wird, kann
Lernmotivation freigesetzt werden und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den Inhalten stattfinden. Das Gelernte wird eigenverantwortlich festgehalten und der Lerngruppe
anschließend vorgetragen. Wenn in einem solchen Unterricht Leistungsmessungen stattfinden, dienen sie der Diagnose und zur Ermittlung eines besonderen Förderbedarfs.
Doch allein mit einem besseren Unterricht ist es nicht getan, denn es sind nach Klaus Klemm (Erziehungswissenschaftler Uni
Essen) "eben auch die Systemgrenzen, die uns hindern, an die Spitze zu kommen". Die Schülervertreterin von NRW bringt es auf den Punkt, wenn sie "die integrierte
Gesamtschule für alle" fordert, denn beim "derzeitigen Schulsystem heißt es statt miteinander gegeneinander und Konkurrenz". Dagegen würde die
Gesamtschule die Chancengleichheit erhöhen.
Auch die GEW kommt zu der Erkenntnis, dass "das selektive Schulsystem zu einer selektiven Pädagogik
führt. Nicht die Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen stehen im Blickpunkt, sondern die Berechtigung und Nichtberechtigung zu einer Bildungsanstalt." Ihre Forderung
lautet daher: Langes gemeinsames Lernen in integrierten Systemen.
Doch eine Gewerkschaft muss auch aufzeigen, wie sie denn die gesellschaftlichen Kräfte aktivieren will, die sie zur
Durchsetzung ihrer Forderungen braucht. Anfangen muss sie in der eigenen Mitgliedschaft, denn auch in ihren Reihen existiert darüber keineswegs eine einheitliche Meinung. Bei einem
großen Teil der Gymnasial- und Realschullehrerschaft muss da noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Darüber hinaus müssen auch die übrigen Gewerkschaften für ein breites Bündnis gewonnen
werden, denn es sind gerade die Kinder und Jugendlichen dieser Mitglieder, die in einem integrierten System eindeutig bessere Bildungschancen hätten. Es ist ein breites gesellschaftliches
Bündnis notwendig und eine mobilisierende, kämpferische Politik, um unser Bildungssystem neu zu gestalten.
Larissa Peiffer-Rüssmann
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04