SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 14

EU-Gipfel in Barcelona

Trotz der Proteste — weiter so

Die EU-Kommission ist die Gralshüterin und Antriebsfeder für die Durchsetzung der neoliberalen Ordnung in Europa — das hat der Gipfel in Barcelona wieder gezeigt. Gründeten sich die Beschlüsse des Europäischen Rats nur auf zwischenstaatliche Übereinkunft, bekämen zentrifugale Tendenzen Oberwasser. Sie werden jedoch von der Kommission sorgfältig vorbereitet, und die ist ein großer suprastaatlicher Apparat mit einer eigenen Dynamik, der als Exekutive arbeitet, losgelöst von jeder parlamentarischen Kontrolle und auch Regierungen gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. Die FAZ nannte sie in ihrer Berichterstattung über Barcelona dankbar "die mit der Wahrung des EU-Gesamtinteresses beauftragte Institution", gewissermaßen der fleischgewordene europäische Gesamtkapitalist.
Denn die Tatsache, dass alle europäischen Regierungen sich dem neoliberalen Dogma verschrieben haben, bedeutet nicht, dass nationale Sonderinteressen sie nicht in unterschiedliche Richtungen treiben würden — vor allem unter dem Druck rückläufiger Wachstumsraten. Auf dem Gipfel in Lissabon vor zwei Jahren hatte sich die EU das ehrgeizige wirtschaftspolitische Ziel gesetzt, "die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen". In diesem Zusammenhang sollte die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis zum Jahr 2010 um die Hälfte gesenkt und die Erwerbstätigenquote im selben Zeitraum auf 70% erhöht werden.
Schon eineinhalb Jahre später drohte der Wirtschaftseinbruch das Ziel zunichte zu machen. Die Arbeitslosenzahlen sind wieder gestiegen; ganz gegen die neoliberale Lehre versuchen Regierungen, notleidende Unternehmen mit finanziellen Sonderspritzen zu retten (Holzmann in Deutschland); im Wettbewerb werden nationale Kapitalinteressen bevorzugt (die EU-Kommission hat u.a. die Fusion Eon-Ruhrgas gerügt) und selbst die Maastricht-Kriterien sind nicht mehr sicher: Die Bundesregierung hat den blauen Brief aus Brüssel wegen der drohenden Überschreitung der 3%-Grenze bei der Haushaltsneuverschuldung nur mit der Zusage abwenden können, bis zum Jahr 2004 werde der Haushalt im Lot sein.
In Barcelona haben die europäischen Ratsherren diese Zielmarke jetzt in ihr Stammbuch geschrieben: "Die Mitgliedstaaten halten das mittelfristige Ziel eines Haushalts, der nahezu ausgeglichen ist oder einen Überschuss aufweist, spätestens im Jahr 2004 ein", heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats. Drei Hebel werden zur Erlangung dieses zweifelhaften Ziels genannt: die Reform (Teilprivatisierung) der Rentensysteme, die Erhöhung der Erwerbstätigenquote (die Ersetzung der bisherigen Absicherungen gegen Erwerbslosigkeit und Armut durch "welfare for work", Arbeit für Sozialleistungen); die Senkung staatlicher Beihilfen (Subventionen) für notleidende Betriebe im Namen eines "effektiveren Wettbewerbs" (ihre Umleitung an nicht notleidende Betriebe). Keines dieser Instrumente ist neu, und doch ist keineswegs gesichert, dass sie ausreichen werden, die Haushaltslöcher zu stopfen, die durch die massive Umverteilung von unten nach oben gerissen werden.
In Barcelona sind zwei "Achsen" sichtbar geworden, die auch mit den sich verändernden politischen Verhältnissen in Europa zu tun haben. Die eine Achse, "BAB" genannt — Berlusconi—Aznar—Blair — fühlt sich bei der Durchsetzung der genannten Ziele nicht durch gesellschaftliche Strukturen behindert. Die andere — die deutsche und die französische Regierung — äußert Kritik an unterschiedlichen Fragen. Chirac und Jospin versuchten in Barcelona gemeinsam, eine vollständige Liberalisierung der Strommärkte zu bremsen, und betonten die Bedeutung eines qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienstes — was immer davon bei der bereits laufenden Liberalisierung und Privatisierung übrig bleiben mag. Schröder kritisierte, die Kommission setze zu "einseitig auf ein Wirtschaftsmodell, in dem die Interessen der Finanz- und Dienstleistungsmärkte herrschen" und versuchte, eine Lanze für die industriepolitischen Interessen Deutschlands zu brechen. Doch weder in Paris noch in Berlin will man mit den neoliberalen Dogmen brechen, und so konnte die Kritik die Fortsetzung der EU-Linie nicht stören.
Folgende Ziele wurden in das Abschlussdokument aufgenommen: die Neustrukturierung (Teilprivatisierung) der Arbeits- und Sozialämter; die Entwicklung von Mechanismen, um Löhne und Gehälter an die Produktivität zu koppeln; die Beseitigung von "Hemmnissen" im Arbeitsrecht (wie den Kündigungsschutz); die Beschleunigung der Renten"reformen" und den Beginn einer Koordination der "Reformen" im Gesundheitswesen; die Fortsetzung der "Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor", die u.a. eine "Verschlankung der öffentlichen Verwaltung" beinhaltet; bis 2004 die volle Liberalisierung der Energiemärkte und die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums sowie neue Leitlinien für die transeuropäischen Verkehrsnetze; die "Modernisierung" der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln (neue Übernahmerichtlinien bei Fusionen); den Aufbau eines voll integrierten europäischen Kapitalmarkts bis zum Jahr 2005; die Koordination der Steuerpolitik.
Umrahmt vom Kommissionspräsidenten Prodi und dem Kommissar für die Außen- und Sicherheitspolitik, Solana, verkündete der derzeitige Ratsvorsteher und spanische Ministerpräsident Aznar am Schluss des Gipfels stolz — und unbekümmert von den Protesten von über einer halben Million Menschen: "Der Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Reformen ist irreversibel." Doch ungebrochen scheint in erster Linie der Hochmut, mit dem sich die Ratsherren über die Anliegen der Bevölkerungen hinwegsetzen. Berlusconi sprach in dem ihm eigenen provokativen Stil sogar von "einer Bande von Tagedieben die nur im Sinn haben, die europäischen Hauptstädte zu besuchen und von Gipfel zu Gipfel die Spur der Regierenden zu verfolgen".
Dem widerspricht nicht das Ansinnen der EU, "die Sozialpartner", d.h. die anpassungswilligen Gewerkschaften, in die "aktive Vollbeschäftigungspolitik" der EU einzubinden. Der Europäische Rat ruft "die Sozialpartner" ausdrücklich auf, "ihre Strategien auf den verschiedenen Ebenen — der europäischen, der nationalen, der regionalen und der lokalen Ebene — in den Dienst der Lissaboner Strategie und der Lissaboner Ziele zu stellen und zu diesem Zweck jährlich einen Bericht über ihre Anstrengungen sowohl auf nationaler Ebene — im Rahmen der Beschäftigungspläne — als auch auf europäischer Ebene zu erstellen und dem Sozialgipfel unmittelbar vorzulegen". (Der Sozialgipfel versammelt Unternehmerverbände, Gewerkschaften und EU- Vertreter zu einer alljährlichen Beratung vor dem EU-Frühjahrsgipfel. Er soll dem Europäischen Rat Empfehlungen vorlegen — ein Art europäisches Bündnis für Arbeit.)
Im Dezember dieses Jahres sollen "die Sozialpartner" ein Mehrjahresprogramm vorlegen, das sich mit Fragen wie "Tarifverhandlungen, maßvolle Lohnabschlüsse, Produktivitätssteigerung, lebenslanges Lernen, neue Technologien, flexible Arbeitsregelungen" befasst.
Die in Barcelona fortgeschriebene EU-Linie — drakonische Haushaltsdisziplin bei fortgesetzte Privatisierung und Deregulierung — steht dennoch auf wackligen Beinen. Die Linie der Haushaltskonsolidierung wird gerade von konservativen Parteien immer wieder in Frage gestellt — da steht Berlusconi in erster Reihe.
Es ist alles andere als ausgemacht, dass die EU den Konkurrenzkampf mit den USA gewinnen wird — und sei es nur deshalb, weil die USA immer wieder, so auch jetzt, auf ein militärisches Hochrüstungsprogramm zurückgreifen, wenn sich im zivilen Bereich keine größeren Wachstumschancen bieten. Diese Möglichkeit hat die EU derzeit nicht. Militärisch ist sie den USA nicht ebenbürtig und faktisch von ihnen in vieler Hinsicht abhängig — was sich auch auf ihre Außenpolitik auswirkt. Auch das hat sich in Barcelona gezeigt.

Angela Klein

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