SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 16

Eine neue säkulare Bewegung

Edward Said über den palästinensischen Widerstand

Seit ihrem Beginn vor anderthalb Jahren hat die palästinensische Intifada wenig politische Wirkung gehabt, trotz der bemerkenswerten Kraft eines unbewaffneten, schlecht geführten und noch immer entrechteten Volkes, das in einem militärisch besetzten Land den erbarmungslosen Zerstörungen der israelischen Kriegsmaschinerie trotzt.
In den USA haben sich Regierung und die sog. "unabhängigen" Medien — mit wenigen Ausnahmen — darin übertroffen, auf palästinensischer Gewalt und palästinensischem Terror herumzureiten, ohne auf die 35-jährige militärische Besatzung durch Israel — die längste in der modernen Geschichte — zu berücksichtigen. Die US-amerikanische Regierung hat nach dem 11.September Yasser Arafats Autonomiebehörde verurteilt, sie biete dem Terrorismus Zuflucht und fördere ihn sogar. Das hat die lächerliche Behauptung der Regierung Sharon noch verstärkt, Israel sei das Opfer und die Palästinenser die Aggressoren.
Die Palästinenser sind in 220 Ghettos eingeschlossen, die von der Armee kontrolliert werden; Apache-Hubschrauber aus den USA, Merkava-Panzer und F-16 mähen täglich Menschen, Häuser, Olivenhaine und Felder nieder; Schulen und Universitäten sowie Geschäfte und zivile Einrichtungen sind völlig zerstört; Hunderte unschuldiger Zivilisten wurden getötet, Zehntausende verwundet; die Mordanschläge gegen palästinensische Führer gehen weiter; der Anteil der Erwerbslosen und Armen liegt jetzt bei 50% — und dann beklagt sich General Anthony Zinni über palästinensische "Gewalt" bei Arafat, der seinen Amtssitz in Ramallah nicht verlassen kann, weil er dort von israelischen Panzern festgehalten wird und seine reichlich ramponierten Sicherheitskräfte damit beschäftigt sind, die Zerstörung ihrer Büros und Kasernen zu überleben.
Die palästinensischen Islamisten spielten, was die Sache noch schlimmer macht, durch ihre gelegentlichen barbarischen Selbstmordattentate der israelischen Propaganda und dem stets bereiten israelischen Militär in die Hände, so dass sich Arafat schließlich Mitte Dezember gezwungen sah, seine lahm gelegten Sicherheitskräfte gegen die Hamas und den Islamischen Jihad einzusetzen, Aktivisten zu verhaften, Büros zu schließen und manchmal auf Demonstranten zu schießen.
Jede Forderung Sharons beeilt sich Arafat zu erfüllen, auch wenn Sharon immer neue erhebt, einen Vorfall provoziert oder — mit Unterstützung der USA — einfach sagt, Arafat bleibe für ihn ein "irrelevanter" Terrorist, dessen Hauptziel es sei, Juden zu töten. Auf diese Anhäufung brutaler Angriffe antwortete Arafat mit der Forderung nach erneuten Verhandlungen, als ob Sharon nicht offen eine Kampagne gegen Verhandlungen führte und sich die ganze Idee des Osloer Friedensprozesses nicht bereits verflüchtigt hätte.
Ein genauerer Blick auf die palästinensische Wirklichkeit erzählt eine etwas ermutigendere Geschichte. Neue Umfragen haben gezeigt, dass unter den Palästinensern Arafat und seine islamistischen Opponenten (die sich beide zu Unrecht als "den Widerstand" betrachten) zusammen etwa 40—45% Zustimmung erhalten. Das bedeutet, dass eine schweigende Mehrheit der Palästinenser weder das Vertrauen der Autonomiebehörde in den Prozess von Oslo teilt und auch nicht ihr gesetzloses Regime der Korruption und Repression, noch der Gewalt der Hamas zustimmt.
Arafat, der stets findige Taktiker, hat den Präsidenten der Al-Quds-Universität und linientreuen Fatah- Anhänger, Dr.Sari Nusseibeh, vorgeschickt mit dem Auftrag, einen Versuchsballon zu starten. Letzterer deutete an, wenn Israel nur ein bisschen netter wäre, könnten die Palästinenser vielleicht ihr Rückkehrrecht aufgeben. Ein Haufen palästinensischer Persönlichkeiten, die der Autonomiebehörde (PA) nahestehen (oder besser gesagt nie von ihr unabhängig waren) haben entsprechende Stellungnahmen unterzeichnet und sind mit israelischen Friedensaktivisten, die jeden Einfluss verloren haben oder diskreditiert sind, durch die Lande getourt. Diese demütigenden Übungen sollen der Welt zeigen, dass die Palästinenser bereit sind, Frieden um jeden Preis zu schließen und sich sogar mit der militärischen Besatzung abfinden.
Doch allmählich entsteht eine neue, säkulare nationalistische Strömung. Es ist noch zu früh, dies eine Partei oder einen Block zu nennen, aber es ist eine sichtbare Gruppe mit einem wirklich unhabhängigen Status und einer Massenbasis. Dazu gehören Dr. Haidar Abdel-Shafi und Dr. Mustafa Barghouthi, Ibrahim Dakkak, Ziad Abu Amr, Ahmad Harb, Ali Jarbawi, Fouad Moghrabi, die Mitglieder des Legislativrats Rawiya Al-Shawa und Kamal Shirafi, die Schriftsteller Hassan Khadr und Mahmoud Darwish, Raja Shehadeh, Rima Tarazi, Ghassan Al-Khatib, Nassir Aruri, Eliya Zureik und ich selbst.
Im Dezember hat die Gruppe eine gemeinsame Stellungnahme herausgegeben, über die in den arabischen und europäischen Medien berichtet wurde (in den USA blieb sie unerwähnt); sie ruft zur palästinensischen Einheit und zum Widerstand auf und fordert ein Ende der israelischen militärischen Besatzung, äußert sich jedoch bewusst nicht zu einer Rückkehr zum Oslo-Prozess.
Wir glauben, dass Verhandlungen über eine Verbesserung des Besatzer-Status seine Verlängerung bedeuten. Der Friede kann nur kommen, wenn die Besatzung endet. Die kühnsten Abschnitte der Erklärung konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, die interne Situation der Palästinenser zu verbessern, vor allem die Demokratie zu stärken; den Prozess der Entscheidungsfindung zu "korrigieren" (der völlig von Arafat und seinen Leuten kontrolliert wird); die Herrschaft des Rechts und eine unabhängige Gerichtsbarkeit wiederherzustellen; den weiteren Missbrauch öffentlicher Gelder zu verhindern; die Rolle der öffentlichen Institutionen zu festigen, damit jeder Bürger Vertrauen darin haben kann. Die abschließende und entscheidende Forderung ist die nach Neuwahlen zum Parlament.
Gerade als die PA Sharon und US-Präsident Bush bereitwillig gehorchte und die üblichen Verdächtigen unter den Islamisten zusammentrieb, hat Dr. Barghouthi eine gewaltlose internationale Solidaritätsbewegung initiiert: etwa 550 europäische Beobachter (darunter einige Mitglieder des Europäischen Parlaments) sind auf eigene Kosten ins Land flogen. Dazu gehörte auch eine disziplinierte Gruppe junger Palästinenser, die verhinderten, dass von palästinensischer Seite geschossen oder mit Steinen geworfen wurde, während sie zusammen mit den Europäern das israelische Militär und die Siedlerbewegung störten.
Dadurch rückte die israelische Besatzung und nicht die PA oder die Islamisten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. All dies geschah, während die USA eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats blockierten, die eine Gruppe unbewaffneter Beobachter mit dem Mandat ausstatten wollte, die sich zwischen die israelische Armee und wehrlose Palästinenser zu stellen.
Das erste Resultat war, dass Barghouthi am 3.Januar, nach einer Pressekonferenz in Ostjerusalem mit etwa 20 Europäern, von den Israelis zweimal verhaftet und verhört wurde; dabei wurden seine Knie mit Gewehrkolben gebrochen und sein Kopf verletzt unter dem Vorwand, er habe den Frieden gestört und Jerusalem illegal betreten — obgleich er dort geboren ist und als Arzt die Erlaubnis dazu hatte.
Das alles hat weder ihn noch seine Anhänger daran gehindert, den gewaltlosen Kampf fortzusetzen, der, wie ich meine, die Kontrolle über die bereits zu sehr militarisierte Intifada erlangen, sie auf die Beendigung der Besatzung und der Siedlungen konzentrieren und die Palästinenser zum Frieden und einen eigenen Staat führen kann.
Israel hat mehr von jemandem wie Barghouthi zu fürchten, der ein rationaler und geachteter Palästinenser ist, als von den bärtigen islamischen Radikalen, die Sharon gerne und zu Unrecht als existenzielle terroristische Bedrohung Israels hinstellen.
Nach einem Jahr des kollektiven Jammerns über das Fehlen einer palästinensischen Friedensbewegung haben die vorgeblichen Peaceniks, die tatsächlich Israels Militär beeinflussen können, die politische Pflicht, jetzt gegen die Besatzung vorzugehen, und zwar bedingungslos und ohne ungehörige Forderungen an die Palästinenser.
Einige von ihnen haben es getan. Mehrere hundert israelische Reservisten haben den Militärdienst in den besetzten Gebieten verweigert, und ein ganzes Spektrum von Journalisten, Aktivisten, Akademikern und Schriftstellern (darunter Amira Hass, Gideon Levy, David Grossman, Ilan Pappe, Dani Rabinowitz und Uri Avnery) haben regelmäßig den verbrecherischen Feldzug Sharons gegen das palästinensische Volk angegriffen.
Es wäre ideal, wenn es einen ähnlichen Chor auch in den USA gäbe, denn hier ist die Zahl der jüdischen Stimmen, die ihrer Empörung gegen die militärische Besatzung durch Israel öffentlich zum Ausdruck bringen, sehr klein. Die Pro-Israel-Lobby hat den Krieg gegen Osama Bin Laden erfolgreich mit Sharons kollektiven Anschlag auf Arafat und das palästinensische Volk gleichgesetzt. Eine Koordination zwischen den verschiedenen säkularen Gruppen, die die Palästinenser unterstützen, ist daher dringend erforderlich.

Edward Said

Leicht gekürzt aus: Al-Ahram Weekly (Kairo)


Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang