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Zu den Werthaltungen, die unsere bürgerliche Kultur in früheren Zeiten von den Einzelnen erwartet hat, gehört die aufmerksame
Rücksichtnahme auf die Gefühle Anderer. Der "gute Herr" des 19.Jahrhunderts schloss seine Diener und seinen Jagdhund in diese Haltung ein. Obwohl also
ursprünglich eine Herrentugend, stünde sie unsereinem manchmal nicht schlecht an; es ist ja auch fast immer angenehm, in den Genuss dieser Haltung zu kommen. Diese Tugend
hatte dann in der Phase ihrer Demokratisierung einen Anwalt in der Kinderstube der gebildeten Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts.
Geboren wird Peter Brückner am 15.Mai 1922 in Dresden. Der Vater, ein Ingenieur und liberaler Demokrat hatte seine
Kindheit und Jugend in den USA verbracht. Die Mutter, eine englische Jüdin und Konzertsängerin, brachte zwei Söhne mit in die Ehe. Infolge der durch die
Weltwirtschaftskrise der beginnenden 30er Jahre bedingten Arbeitslosigkeit des Vaters verarmte die Familie und litt zudem unter dem Antisemitismus des aufkommenden deutschen Faschismus.
Einmal an der Macht, zerstörte dieser die Familienbande nachhaltig, trieb Mutter und Halbbrüder in die Emigration und den Vater ins berufliche Nomadenleben.
Ein so gebildetes Kind wird durch seine sozialen Erfahrungen auf dem Spielplatz, im Kindergarten und in der Schule
zur Parteilichkeit genötigt: für die je Leidenden und gegen die Gewalt, die ihnen rücksichtslos angetan wird. Wahrscheinlich wird es dabei über kurz oder lang
in Konflikt mit der Klassenmehrheit, der "peer group" [Bezugsgruppe] geraten, findet sich also plötzlich vereinzelt.
Zuerst bringt der Vater den kleinen Peter bei wechselnden Verwandten unter. Doch der flieht immer wieder aus diesen Verhältnissen, schwänzt die Schule und führt ein
halbes Straßenleben. Parallel entdeckt der Sohn der Bildungsbürger die große und die kleine Literatur und erkämpft sich mit List und Einfallsreichtum Freiräume
im faschistischen Alltag: "Es gibt immer Orte zu finden", schreibt er später in seinen Kindheitserinnerungen (Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933
und 1945, 1980), "die leer von Macht sind. Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein."
Der "Stadtwilde" mit "Sinn fürs Verschwinden, für die Entdeckung von Nischen im
System" wird ein Spezialist der Nebenräume und des sozialen Abseits. Doch der Staat greift ein: 1935 kommt er ins Internat, bleibt dort bis zum Abitur 1941. Die Kämpfe
jedoch gehen weiter, auf niederer Ebene. Brückner wird zum Außenseiter und erlebt, wie Realismus und Freiheit nicht nur gegen, sondern indirekt auch durch den Faschismus
verursacht werden. Jene von ihm später immer wieder an so zentraler Stelle thematisierte durch den Faschismus nur beschleunigte, nicht verursachte Zerstörung
bürgerlicher Familienstrukturen, hier erfährt er sie am eigenen Leibe, sowohl als Befreiung wie als verunsichernden Verlust.
Mit der Gleichschaltung von Schule, Internat und HJ verlieren sich jedoch 1938 die leeren Räume. Brückner wird,
gemeinsam mit einem Freund, zum begeisterten Nietzsche-Leser, träumt davon, Buddhist oder Mönch zu werden und ist nahe an der "inneren Emigration", "d.h.
an der Gefahr, uns mit Innerlichkeit, Literatur, Reflexion zu bescheiden ein in Deutschland endemischer, von Traditionen gut vorbereiteter Ausweg". Doch über Nietzsche,
den Physikunterricht sowie den Kontakt zu Antifaschisten und Kommunisten schafft er die "materialistische Wende", überwintert die Kriegszeit als Soldat in Wien, und nennt
es später seine "zweite Geburt". Seit frühester Jugend hatte er gelesen, was immer ihm in die Hände fiel, Literatur (u.a. Goethe) und Politik. Nun beginnt er das
Gelesene zu verarbeiten im Gespräch mit anderen: "‚Kultur nicht als Objektivation, sondern als ein Medium, in dem Erfahrungen und Sehnsüchte endlich
groß und mitteilbar werden". Hier, am Rande der illegalen KPD und deren linker Opposition, erfährt er "eine realitätsmächtige, ‚materiale
Interpretation, die mit dem Rätsel der eigenen Lebensgeschichte zugleich die Rätsel der Gesellschaft und ihrer Geschichte löst. Der Himmel war nicht mehr bedeckt. Der
Stand der Gestirne war genau und nüchtern zu bestimmen."
Voller Hoffnung und Enthusiasmus wird er 1945 Mitglied der KPD und geht nach Zwickau, um die Uni Leipzig mit aufzubauen.
Anfang 1949 ist er jedoch bereits wieder im Westen:
Wir sind darüber belehrt, dass aus der verabsolutierten, also zum Wahrheitsanspruch befreiten Parteilichkeit
zum Beispiel der Sekte, der "Partei" bloß antagonistische Herrschaftsordnung entspringt (von den halb-humanen Konventionen der alten
Herrschaftsform gereinigt), und niemals eine alternative Ordnung, das heißt eine, die ihren Herrschaftscharakter verliert, weil sich die Differenz von Regierenden und Regierten
mindert.
Die 50er und beginnenden 60er Jahre sind eine eigenartige Zwischen- und Übergangszeit, eine Zeit, in der alte bürgerliche Tabus wie die Sexualität langsam zu
bröckeln beginnen und gegen neue Tabus: "Konsum, Leistungsmotivation, Mode, forcierte ‚Jugendlichkeit", so Brückner, ausgetauscht werden. Er selbst studiert
Psychologie und arbeitet nach seiner Promotion 1957 in der Sozialpädagogik. Als er jedoch den Zöglingen Mitsprache- und Mitverwaltungsrechte sichern will, wird er schnell
wieder gefeuert. Er überlegt sich, dass, wenn man nicht mit dieser Gesellschaft leben kann, dann wenigstens von ihr und gründet ein Institut für Marktpsychologie. Den
fehlenden Sinn holt er sich fortan in den Kreisen des bekannten Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich.
Zur Psychoanalyse kommt so auch noch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hinzu für ihn "das
Bildungserlebnis" in einer Transformationsphase, die ihn zum ausgebildeten Psychoanalytiker machen wird, und in der er Kontakte zu SDS-Gruppen in Berlin und Frankfurt knüpft.
Nach der leiblichen von 1922 und der politischen 1940/41 kommt nun, nach 1964, die dritte, durch die antiautoritäre Bewegung beförderte Geburt, die er auch "eine neue,
erweiterte Pubertät" nennen wird. Es ist vor allem das alternative Leben der Antiautoritären, das alte Träume in ihm weckt. 1967 nimmt er einen Lehrstuhl für
Psychologie in Hannover an, schreibt gegen die innere Staatsfeinderklärung gegen die APO an (Staatsfeinde. Innerstaatliche Feinderklärung in der BRD, 1972), will die
Wissenschaft politisieren (Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen?, 1972) und die Universitäten
demokratisieren.
Es sind die sozialpsychologischen Widersprüche des Spätkapitalismus, die ihn nachhaltig beschäftigen. In
Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Von den Widersprüchen des Wohlstands (1966) und Die Transformation des demokratischen Bewusstseins (1968) untersucht er, wie Freiheit und
Unabhängigkeit in der Geschichte des Spätbürgers vom universellen humanistischen Ziel zum rein "inneren Zustand" verkommen. Die bürgerliche
Gesellschaft hat ihre eigenen revolutionär-kulturellen Grundlagen verlassen und ist in ihrer spätbürgerlichen Form strukturell gewaltförmig organisiert (Zur
Sozialpsychologie des Kapitalismus, 1972). Brückner gehört zu jenen, die vehement an dem verwaisten Erbe des frühbürgerlichen Humanismus von links
anzuknüpfen versuchen. So sind es vor allem Gewissensfragen, die den radikalen Bürger, den Demokraten und Sozialisten, in seinem tiefsten Inneren antreiben:
Fragen des Gewissens erheben sich … mit großer Kraft. Jedoch woran sich das Gewissen stösst, ist nicht,
wie die bürgerliche (oder gar die christliche) Erziehung es will, das sittlich Böse, sondern das historisch Böse, das also, was Menschen einander geschichtlich antun;
das Problem ist daher nicht Sünde, sondern Gewalt die Gewalt von Herrschaft, Exploitation, Krieg. Denn Gewissen bildete sich im Mitgefühl mit den Opfern … Alle
Widersprüche jener kindlichen Verkehrsform, von der ich ausging, erheben sich nun mit erwachsener Schärfe und im guten Falle mit weltgeschichtlichem
Atem … Die Moral, die verändern will, macht den Einzelnen organisierbar, zumindest kooperationsbereit, eine Konsequenz schon des sozialen Charakters von Mitgefühl,
Einfühlung und Rücksicht.
Von der antiautoritären Revolte wach geküsst, wird Peter Brückner zu einem der herausragenden
Denker der "Neuen Linken". Mit ganzer Haut und allen Haaren, doch ohne jede Blindheit oder Dogmatik, richtet er seine gesamte intellektuelle Energie auf jenes heterogene Milieu
aus, dass ihm fortan Wohl und Wehe bereiten wird. Wie kein anderer macht er sich zum Interpreten linker Erneuerung. Und wie kein anderer beobachtet und analysiert er ihren
widersprüchlichen und langsamen Zerfall.
Jetzt, in der Sphäre der Praxis, entsteht fortwährend die Gefahr, dass die dialektische Spannung von
Friede und Militanz zusammenbricht, beide Momente sich voneinander lösen und sich verabsolutieren - etwa in Legalismus hier und Terror dort, in "Innerlichkeit" und
Verbrechen. Oder: die "Liebe" wird hier, der "Hass" wird dort zum Fetisch.
Seine detaillierten und engagierten Auseinandersetzungen mit den antiautoritären und neuen sozialen Bewegungen
einerseits (Selbstbefreiung, 1983; Zerstörung des Gehorsams, 1983) und dem westdeutschen Terrorismus andererseits (Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, 1976;
Über die Gewalt, 1979) sind nicht nur exemplarische Umsetzungen seiner einfühlnehmenden Teilnahme. Sie sind nicht nur vorbildliche Beispiele dessen, was heute zu Unrecht als
kritische Solidarität in Verruf geraten ist. Sie sind vor allem Meilensteine einer linken politischen Theoriebildung, die im Deutschland der 80er und 90er Jahre keine Fortsetzung mehr
fand. Trotzdem oder gerade deswegen? machen sie Peter Brückner zu einem in der westdeutschen Linken zunehmend isolierten Kämpfer.
Wenn seine "Partei" einem der skizzierten Widersprüche erliegt nur noch Friede oder nur
noch Gewalt ist, nur noch Theorie oder nur noch Parteilichkeit (die dann historische, menschliche Details abschaffen wird wie Agenten der Konterrevolution, so J.-P.Sartre), wenn die
eigene Gruppierung das Problem des "Infamen" wegrationalisiert, verharmlost oder selbst infam wird dann muss der Einzelne seiner "Partei"
gegenüber jene Leistung erbringen, die er, störrisch gegenüber dem Ganzen, dem Herrschaftszusammenhang, längst erbracht hat: die, nicht mitzumachen. Die
Tugend, gegebenenfalls nicht mitzumachen, in der Kindheit eingeübt das erst wäre, individuell und "links", Autonomie.
Als ob jedoch die innerlinke Auseinandersetzung noch nicht reichen würde, hat es Brückner auch mit einem anderen, mächtigeren Gegner zu tun. Einem Gegner zumal, dem
er in keiner Weise freundschaftlich verbunden war: mit dem westdeutschen Staat und seinen dienstbeflissenen Ordnungshütern.
Bereits 1972 wird er wegen angeblicher Unterstützung einer "kriminellen" Vereinigung für ein Jahr
vom lehrenden Staatsdienst suspendiert. Im "heißen Herbst" 1977 folgt dann die zweite, Brückner endgültig zermürbende Suspendierung. Erneut
ließ es Brückner an vermeintlicher Staatstreue vermissen und nahm sich die Freiheit, sich in kritischer, aber einfühlender Weise öffentlich mit den jugendlichen
Sympathisanten des politischen Terrors auseinander zu setzen (Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, 1977; "Über die
Pflicht des Gelehrten auch als Bürger tätig zu sein." Zum Disziplinarverfahren des Niedersächsischen Ministers für Wissenschaft und Kunst gegen Peter
Brückner, 1978).
Brückner antwortet auf die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre offensichtlich zunehmenden Versuche der
Staatsmacht, ihre autoritären Ziele durchzusetzen mit einer vertiefenden Analyse der deutschen Verhältnisse (Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären,
1978; Psychologie und Geschichte. Vorlesungen im "Club Voltaire" 1980/81, 1984). Doch den direkten Kampf gegen diese deutschen Verhältnisse hat er verloren. Das gegen
ihn verhängte Haus- und Berufsverbot blieb auch nach dem in langem juristischen Ringen erreichten Freispruch bestehen bis Ende 1981. Peter Brückner hatte nicht mehr
viel von diesem formalen Sieg. Am 10.April 1982, kurz vor seinem 60.Geburtstag starb er in Nizza.
Der "Moralist" vereinzelt sich; eine gleichfalls widersprüchliche Lage, wie wohl nicht erst
begründet werden muss. Und eine Bewährungsprobe für linke Moral ist, wie und ob es Einzelnen gelingt auch Einzelnen auf der anderen Seite, den
"Gegnerfreunden" diese Widersprüche auszuhalten und in sich zu schlichten: ohne Kapitulation vor dem historisch Bösen, aber auch ohne Verzicht auf
differenzierendes Bewusstsein und Einfühlung. Ja: ob wir uns ein Stück "aufmerksamer Rücksichtnahme" auf andere erhalten, mag auch im historischen
Konfliktfall mit zur Bewährungsprobe unserer Moral gehören.
Der Moralist Brückner hatte es verstanden, diese Widersprüche lange Zeit auszuhalten und in sich in der
Balance zu halten. Er hat nicht kapituliert vor dem historisch Bösen und auch nicht verzichtet auf differenzierendes Bewusstsein und Einfühlung. Doch es zerfraß ihm sein
eigenes Leben. "Wenn es auch", schrieb er gegen Adorno gerichtet, "kein richtiges Leben im falschen geben kann, so doch ein richtigeres. Aus dieser minimalen Differenz
ließe sich ein neuer Kosmos entfalten." Fürwahr: Was bleibt, ist ein umfangreicher Schatz an Erfahrungen und Reflektionen, der nur darauf wartet, gehoben zu werden.
Christoph Jünke
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