SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 21

Vom Selbstmorde

Karl Marx, Vom Selbstmord, herausgegeben und eingeleitet von Kevin Anderson und Eric A. Plaut, Vorwort von Michael Löwy, Köln: Neuer ISP Verlag, 2001, 118 Seiten, 16,50 Euro

Der Tod ist kein Unglück für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt" — so pflegte Karl Marx mit dem von ihm geschätzten griechischen Philosophen Epikur zu sagen, der nach seinem Biografen Diogenes Laertios diese Haltung folgendermaßen begründete: "Denn es gibt im Leben nichts Schreckliches für den, der wirklich begriffen hat, dass auch im Nichtleben nicht Schreckliches ist." Das waren nicht nur leere Worte. Denn als Epikur aufgrund eines Nierensteinleidens seinen Tod nahen fühlte, soll er in eine Bronzewanne mit Warmwasser gestiegen sein, dort puren Wein hinuntergestürzt und sein Leben beendet haben.
Diese grundsätzliche Einstellung zu den letzten Dingen macht verständlich, warum Marx sich schon in Jugendjahren nicht nur ausführlich mit den Erinnerungen von Jacques Peuchet (1758—1830), von 1815 bis 1825 Chef des Pariser Polizeiarchivs in der Zeit der Restauration der Bourbonen, befasste, sondern Auszüge aus dem Abschnitt "Über den Selbstmord und dessen Ursachen" oft recht frei übersetzte und mit eigenen Kommentaren 1846 publizierte. In diesem kurzen Text polemisierte Marx entschieden gegen alle Versuche, den Freitod als widernatürliche Handlung darzustellen, denn "der Selbstmord ist in keiner Weise widernatürlich, weil wir täglich seine Zeugen sind". Philosophische Tiraden wie "Es wäre würdiger, gegen die Verzweiflung zu kämpfen, als ihr zu unterliegen" wären außerdem nur eine "schwache Zuflucht gegen das Leiden".
Der Freitod müsse vielmehr als Folge gesellschaftlich produzierten Unglücks begriffen werden, fährt Marx fort, und wendet sich dann ausführlich jenen nichtproletarischen Opfern der bürgerlichen Gesellschaft zu, die in Peuchets Abhandlung breiten Raum einnehmen: den Frauen. Die menschenunwürdigen Existenzbedingungen dieser Frauen veranlassen Marx zu einer der emotionellsten Verurteilungen der Gewaltherrschaft des Patriarchats, die er je schreiben wird. Ihre Tragödien lassen ihn in diesem Text sogar die Bemerkungen Peuchets über den 1797 guillotinierten Frühkommunisten Gracchus Babeuf vergessen.
Das Thema Freitod spielt in Marx‘ Schriften fortan keine Rolle mehr. Seine grundsätzliche Einstellung dazu ändert sich jedoch nicht. Nach seinem Tod erklärt sein Weggefährte Friedrich Engels in seinem Brief vom 15.März 1883 an Friedrich Adolph Sorge: "Die Doktorenkunst hätte ihm vielleicht noch einige Jahre eine vegetierende Existenz sichern können, das Leben eines hülflosen … zollweise absterbenden Wesens. Das hätte unser Marx aber nie ausgehalten … Und diesen gewaltigen genialen Mann als Ruine fortvegetieren zu sehn, zum größeren Ruhm der Medizin und zum Spott für die Philister, die er in seiner Vollkraft so oft zusammengeschmettert — nein, tausendmal besser wie es ist, tausendmal besser, wir tragen ihn übermorgen in das Grab, wo seine Frau schläft."
Eine wichtige Rolle spielt der (Frei-)Tod hingegen in Marx‘ Familie: Seine Tochter Jenny stirbt 1883, im selben Jahr wie ihr Vater, an Krebs. Eleanor leidet an schweren Depressionen und scheidet nach mindestens einem missglückten Versuch aus dem Leben. Laura erklärt bereits anlässlich ihres 38.Geburtstags: "Ist es nicht skandalös? Ich dachte niemals, dass ich so lange leben werde! — Und niemand gibt mir dafür Kredit." Am 25.November 1911 scheidet sie zusammen mit ihrem Ehemann Paul Lafargue, der das ewige Leben immer schon für "eine langweilige Idee" gehalten hat, durch Zyankalispritzen aus dem Leben. Die beiden hatten sich zehn Jahre zuvor geschworen, das siebzigste Lebensjahr nicht zu überschreiten.
Die Stellungnahmen der Repräsentanten der Arbeiterbewegung gerade zu diesem Doppel-Freitod machen deutlich, dass nur wenige Karl Marx‘ epikureische Einstellung teilen. Unisono rügen Jean Jaurès und Jules Guesde den Freitod — ein Vorwurf, in den auch Franz Mehring einstimmt: "Denn mehr als je gilt von dem proletarischen Emanzipationskampf, dass der Dienst der Freiheit ein strenger Dienst ist, der auch dem reich mit Lorbeeren geschmückten Veteranen nicht gestattet, seinen Posten zu verlassen." Die anderen führenden Sozialdemokraten, die Laura und Paul schriftlich gedenken — Eduard Bernstein, Adolf Braun und Karl Kautsky —, zeigen vorsichtiges Verständnis für ihre Ablehnung des "Strohtodes". Nur Clara Zetkin fordert offen: "Lassen wir doch endlich die Toten ihre Toten begraben und haben wir den Mut zur Umwertung eines Wertes, den uns eine zweitausendjährige Knechtung des Geistes durch den kirchlichen Spiritualismus in die Seele eingehämmert hat." Rosa Luxemburg vermerkt in einem Brief: "Die Lafargues haben mir imponiert." Lenin sagt, als er vom gemeinsamen Freitod erfährt, zu Nadeshda Krupskaja: "Wenn man nicht mehr für die Partei arbeiten kann, so muss man der Wahrheit ins Gesicht blicken und so sterben wie die Lafargues" (sein Versuch, diese Worte zu realisieren, wird an der Weigerung Stalins scheitern, dem Todkranken Zyankali ausfolgen zu lassen, das er ab Frühjahr 1922 mehrfach verlangte).
Zetkins Appell verhallt. Die Umwertung der religiösen Werte, zu denen auch die Vorstellung vom Selbstmord als Todsünde gehört, findet in der Arbeiterbewegung nur rudimentär statt. Was sich an den Merkwürdigkeiten bei den Veröffentlichungen von Marx‘ Essay über den Selbstmord offenbart: 1846 in der von Moses Hess in Elberfeld herausgegebenen Zeitschrift Gesellschaftsspiegel veröffentlicht, wird er erst 1932 in der noch vom späteren Stalin-Opfer David Rjasanow herausgegebenen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mit äußerst spärlichen editorischen Anmerkungen nachgedruckt. In der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW), die ab 1956 in der DDR mit weniger Anspruch auf Vollständigkeit erscheint, fehlt der Essay überhaupt. Eine erste englische Übersetzung erscheint 1975 im Rahmen der in Moskau herausgegebenen Collected Works, wiederum mit sehr spärlichen Anmerkungen. Im Rahmen der zweiten MEGA — 1975 in Moskau und Ost-Berlin begonnen und ab den 90er Jahren mit neuen Herausgaberichtlinien unter Beteiligung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam (IISG) fortgeführt — ist der entsprechende Band noch nicht erschienen.

Fritz Keller

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