SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 22

Linksradikaler ‘Erfolg‘

Berliner Bündnis für anderen 1.Mai gescheitert

Krawall und Randale, Straßenschlachten und Polizeiterror, das sind die Bilder, die sich im Zusammenhang mit dem "revolutionären 1.Mai" in Berlin alle Jahre wieder einstellen. In diesem Jahr sollte alles anders werden.
Im letzten Sommer gründete sich die Initiative "Denk Mai neu!" rund um Peter Grottian, einem der letzten linken Professoren an der Freien Universität. Das Ziel: Die Polizei sollte sich aus dem Kiez heraushalten und Krawalle vermieden werden — stattdessen wollte die Initiative mit Diskussionen und Kulturveranstaltungen im ganzen Bezirk den 1.Mai "repolitisieren". Unterstützt wurde die Initiative durch ein breites Bündnis von SPD- Abgeordneten über Attac bis hin zur Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB).
Inzwischen gilt das ambitionierte Projekt als gescheitert, vor allem am Widerstand aus der linksradikalen Szene. Die warf Grottian vor, er wolle den 1.Mai befrieden. Unter den Gegnern des Bündnisses finden sich differenzierte Argumentationen (siehe nebenstehende Stellungnahme von FelS), bei vielen ist der Übergang zu Verschwörungstheorien allerdings fließend. "Das Bürgerbündnis ist in Wirklichkeit ein Bürgerwehrbündnis, das sich auch gegen einen Großteil der Bevölkerung wendet", so die "Revolutionären Kommunisten". Mitte März eskalierte der Streit: Unbekannte zündeten Grottians Wagen an. Auf einer Podiumsdiskussion zwei Tage später musste sich nicht nur Innensenator Ehrhard Körting (SPD), sondern auch Grottian, Attac und AAB-Vertreter stundenlanger Sprechchöre und Zwischenrufer erwehren. "Peter Grottian fährt jetzt Straßenbahn", rief einer der Störer.
Danach zog der Koordinierungskreis von "Denk Mai neu" die Konsequenzen. Auf die Kultur- und Politikveranstaltungen im Kiez soll verzichtet werden, übrig bleibt eine kleinere Diskussionsrunde auf dem Oranienplatz vor der 18-Uhr-Demo der AAB. Das Bündnisplenum muss den geänderten Plänen noch zustimmen. Grottian macht vor allem Innensenator Körting für das Scheitern der Initiative verantwortlich. Den Vorschlag für einen polizeifreien 1.Mai hatte Körting zurückgewiesen, weil ein solches Konzept die Bereitschaft zur Gewaltfreiheit auch auf der anderen Seite voraussetze. "Was die linke Szene betrifft, haben wir es nicht ausreichend geschafft, das Konzept mit den Gruppen zu diskutieren, bevor das Bündnis damit an die Öffentlichkeit getreten ist", sagte Grottian.
Doch Grottians Initiative war wohl von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aus der Berliner linksradikalen Szene ist zuletzt nur wenig Produktives zu hören gewesen. Einen Bezug zur städtischen Politik gibt es nicht mehr. Während Berlin in seiner größten ökonomischen Krise seit 1945 versinkt, kümmert sich die Szene ausschließlich um symbolische Politik. Der 1.Mai ist das einzige Datum, an dem sie noch zu nennenswerten Mobilisierungen in der Lage ist — und diese Gelegenheit lässt sie sich nicht wegnehmen. Vielleicht muss die entscheidende Kritik an Grottians Initiative lauten, dass sie sich auf diese Ebene symbolischer Politik eingelassen hat, statt die politische Diskussion in der Stadt unabhängig davon zu organisieren.
Die Kreuzberger Anwohner tun einstweilen gut daran, ihre Wagen am 1.Mai wieder außerhalb des Kiezes zu parken. Einziger Erfolg von "Denk Mai neu" ist bislang, dass in diesem Jahr eine weitere Demonstration angemeldet wurde, die sich ausdrücklich gegen die "Befriedungsstrategie" richtet. Symbolträchtiger Ausgangspunkt: die Ruine des bei den Maikrawallen 1987 abgebrannten Bolle-Supermarkts.

Nobert Eustart

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