SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 3

Zeugnis ablegen

Reisebericht einer Friedensdelegation von Porto Alegre nach Palästina

Im Flugzeug, das mich von Paris nach Tel Aviv führt, überkommen mich Erinnerungen. Im Marokko der 60er Jahre wanderten viele meiner Schulkameraden aus: nach Frankreich, Argentinien, Kanada, aber auch nach Israel. Ein diffuses Gefühl der politischen Verantwortung stellt sich ein: Der Zionismus und Israel waren nicht nur Ergebnis des Völkermords der Nazis, auch nicht nur religiöser Identifikation. Die "laizistische" Definition der Judenheit ist eine andere als die religiöse, aber beide sind irgendwie nahe Verwandte der demokratischen und der Arbeiterbewegung. Moses Hess, ein Vorläufer des Zionismus, hat mit Marx sympathisiert, wie dieser kam er vom Linkshegelianismus. Und es waren jüdische Offiziere der Roten Armee, die nach 1945 die Haganah, die erste Armee Israels aufgebaut haben. Ein Gefühl der Traurigkeit aus dem Eindruck einer totalen Sackgasse.
Die Reise war am Vorabend beschlossen worden, als Attac erfuhr, dass der Internationale Rat des Weltsozialforums von Porto Alegre eine internationale Delegation nach Palästina unterstützte, die aus einer starken brasilianischen Gruppe sowie Personen aus Europa, Nordamerika und Asien bestehen sollte. Das schien mir die Gelegenheit, mich der internationalen Solidaritätsbewegung mit Palästina anzuschließen.
In vielen Ländern wurden in den letzten Monaten solche Delegationen zusammengestellt, um die Lage vor Ort zu erkunden. An Weihnachten machten sich 400 Menschen auf den Weg; danach fuhr jede Woche eine neue Delegation, zeigte permanente Präsenz. An Ostern waren 600 vor Ort, als die israelische Armee ihre Offensive gegen die palästinensischen Dörfer begann. Darunter waren führende Vertreter der MST (Bewegung der Landlosen), der baskischen Antiglobalisierungsbewegung, Via Campesina, Attac; Verantwortliche des Genoa Social Forum haben tagelang im Krankenhaus von Ramallah ausgeharrt; sie wurden von griechischen Vertretern der Bewegung abgelöst, die für Genua mobilisiert hatte…
Europäer waren in Ramallah zahlreich vertreten, US-Amerikaner in Bethlehem. Am Tag der Invasion haben sie mit weißen Fahnen palästinensische Ambulanzwagen begleitet, damit diese nicht zur Zielscheibe israelischer Soldaten würden; andere haben die Flüchtlingslager in der Stadt "beschützt" und damit das Eindringen der Truppen um wertvolle Tage hinausgezögert.
Rory, ein 30-jähriger Schotte, der über zehn Tage in Bethlehem war, ist ein gutes Beispiel für diesen neuen Typ von Aktivisten. Sechs Monate im Jahr ist er Wirtschaftsanwalt in einer Londoner Kanzlei; damit verdient er genug, um für den Rest der Zeit etwas anderes zu tun. Vor der Abfahrt hat er sich eine kleine digitale Kamera besorgt und vor Ort Kontakte zur Presse aufgenommen. Er ist ein privilegierter Zeuge, seine Berichte wurden auf der Titelseite einer großen schottischen Tageszeitung veröffentlicht, er steht in regelmäßigem Kontakt mit BBC und CNN.
Die weltweite Bewegung, die seit Seattle in Gang gekommen ist, war in der Lage, sich im Krieg gegen Afghanistan der Friedensbewegung anzuschließen. Heute trägt sie maßgeblich zum Erwachen einer Art internationalen zivilen Gewissens bei. Die hier ins Kriegsgebiet fahren, wollen nicht mehr, wie im spanischen Bürgerkrieg oder auch noch während der sandinistischen Revolution Seite an Seite mit den Revolutionären kämpfen, sie wollen sich selbst ein Bild machen, Zeugnis ablegen, demokratische Spielräume öffnen und versuchen, die Zerstörungen durch die Armeen in Grenzen zu halten.

In Israel

Die Formalitäten an der Grenze bringe ich problemlos hinter mich, weil ich die Adresse eine Freundin habe; das erlaubt mir, die inquisitorische Befragung über die Gründe meiner Einreise zu überstehen. Alle, die in einer Gruppe einreisen, werden ohne Umstände ausgewiesen, ebenso Einzelpersonen, deren Gründe der Einwanderungsbehörde nicht ausreichend erscheinen. In den letzten Tagen wurde auf diese Weise etwa hundert Menschen die Einreise verweigert.
Am Abend treffe ich mit Michael Warschawsky zusammen. Er erzählt über die Situation in Israel. Die Lage ist sehr schlecht, nicht nur deswegen, weil in jedem Krieg der erste Reflex der Schulterschluss ist; nicht nur deswegen, weil den Israelis wegen der Selbstzensur der Presse ein völlig verstelltes Bild von der Realität vermittelt wird: Sie bekommen lange Reportagen über die Beerdigung der Opfer der Selbstmordattentate und über deren Angehörige zu sehen, aber nur kurze Bilder über die Lage im Westjordanland, die zudem den Eindruck erwecken, die Lage würde sich dort normalisieren.
Der Kern des Problems ist, wie Sharon das Scheitern von Camp David und Taba interpretiert. Demnach hätten Yasser Arafat und die palästinensische Führung in den Verhandlungen einen Palästinenserstaat auf dem Territorium von Gaza und dem Westjordanland abgelehnt. Dies und die Selbstmordattentate gegen Zivilisten innerhalb von Israel wären der Beweis dafür, dass das wirkliche Ziel der Palästinenser nicht, wie sie sagen, die Bildung eines Staates in den 1967 besetzten Gebieten sei, sondern die Zerstörung Israels.
Sharons Erklärungen, es gehe derzeit um das "Überleben des jüdischen Volkes", mögen in den Ohren ausländischer Beobachter irreal klingen, im Land selbst erfüllen sie ihre Funktion. Dass die Arbeitspartei in der Regierung bleibt, gibt ihnen zusätzliche Glaubwürdigkeit, ebenso die Anschläge auf Synagogen wie in Frankreich; sie werden benutzt als Beleg für ein neues Anschwellen des Antisemitismus auf der ganzen Welt. In diesem paranoiden Klima wiegen die zahlreichen Verurteilungen der israelischen Aktionen durch die internationale Gemeinschaft recht wenig.
Es ist deshalb wichtig, noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum die Verhandlungen damals gingen. Sharons Vorgänger, Ehud Barak von der Arbeitspartei, hatte keinesfalls vor, die gesamten besetzten Gebiete zurückzugeben; er wollte die grenznahen Siedlungen behalten, hätte sie bestenfalls gegen ein Stück Wüste ausgetauscht. Auch in Ostjerusalem sollte nur ein kleiner Stadtteil am Stadtrand den Palästinensern zurückgegeben werden. Keinerlei Zugeständnisse gab es beim heikelsten Problem, dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge von 1948, nicht einmal die 200000, die im Libanon leben und deren Situation am schwierigsten ist.

Jenin

In einem jener Hotels, in denen sich ausländische Journalisten, Diplomaten und Verantwortliche aller Art in solchen Konfliktsituationen versammeln, treffe ich auf Leo Gabriel von den Europäischen Märschen und Attac Österreich. Er hat ein Auto, das sich nach Jenin aufmacht. Die Nachrichten, die uns vom dortigen Flüchtlingslager erreichen, sind sehr besorgniserregend.
Jenin liegt ganz im Norden der Westbank. Im israelischen Gebiet drum herum sind zahlreiche arabische Dörfer verstreut; aus ihnen stammen etliche, die beim Exodus 1948 im Flüchtlingslager von Jenin gelandet sind — ein Exodus, den die Palästinenser noch heute nakbah, die Katastrophe, nennen.
Zunächst irritiert der unglaubliche Flickenteppich von Territorien und Bevölkerungen. Jederzeit kann man, inmitten der besetzten Gebiete, auf eine israelische Siedlung treffen; wer über Kontakte verfügt, kann leicht zwischen Israel und dem Westjordanland hin und her pendeln. Allein dieser Tatbestand macht die Vorstellung von einer festen Grenze, die die besetzten Gebiete von Israel abtrennen würde, völlig unwirklich — es sei denn, man schickt die 200000 israelischen Siedler wieder weg.
Die Nachrichten aus Jenin sind schrecklich. Wir können das Lager nicht betreten. 13000 Menschen leben dort, man kann draußen noch Maschinengewehrsalven hören. In den Nachbardörfern Taybeh und Rumanah treffen wir Flüchtende. Es sind nur Männer; Frauen und Kinder sind in anderen Dörfern untergebracht. Die Zeugnisse gleichen sich.
Zahlreiche Häuser wurden von Raketen zerstört, die von Hubschraubern oder Panzern abgeschossen wurden, die Mehrzahl der Männer war verhaftet worden, zwei, drei Tage lang unter entwürdigenden Umständen festgehalten und so hart gefesselt, dass die Narben noch sichtbar waren. Sie mussten mit verbundenen Augen ausharren und wurden nicht auf die Toilette gelassen. Später wurden sie einige Kilometer vor Jenin ausgesetzt, ihnen wurde absolut verboten, das Dorf jemals wieder zu betreten; sie kamen in die Dörfer ohne die mindeste Nachricht von ihren Familien.
Einige von ihnen tragen die Zeichen von Misshandlungen am Körper. Ein junger Mann von 15 Jahren sagt, er habe eine Massenexekution mit angesehen und viele Leichen auf den Straßen. Ein 38-jähriger Vater von vier Kindern erzählt, er sei zwei Tage lang als menschliches Schild von israelischen Soldaten vor sich her getrieben worden; er musste als erster die Häuser und engen Gassen betreten, um die Soldaten zu "schützen". In diesen zwei Tagen hat er erlebt, wie vier junge Menschen erschossen wurden, weil sie weiße Fahnen trugen.

Ramallah

Das Krankenhaus befindet sich am Eingang der Stadt. Panzer sieht man keine mehr, ein paar Kinder spielen auf der Straße, nur wenige Erwachsene wagen sich nach draußen. Die Ausgangssperre ist noch nicht aufgehoben, jeder Gang auf die Straße strikt verboten. Die Delegation diskutiert über die Möglichkeit, eine Demonstration zu machen. Drei Fernsehteams sind bereit, uns zu begleiten, und Colin Powell ist gerade in Israel eingeflogen: ein Versuch scheint uns möglich.
Wir besorgen uns weiße Fahnen und ziehen los. Es ist ein langsamer Marsch, wir wollen unsere friedlichen Absichten unterstreichen, werden aber auch mehrfach angehalten, zum erstenmal einige hundert Meter in Sichtweite des Krankenhauses, wohin wir eine alte Dame begleiten, die Angst hat, allein dorthin zu gehen.
Nach ein paar hundert Metern kommen wir ins Zentrum. Da ist kein Hund auf der Straße, buchstäblich. Die Stadt macht einen völlig verlassenen Eindruck, aber wir wissen, dass die Bewohner alle da sind, versteckt hinter heruntergelassenen Eisengittern. Die Stimmung ist beklemmend. Auf dem Platz im Zentrum stehen die Panzer, einige Soldaten halten uns in Schach. Die Delegation zieht weiter zum Präsidentenpalast, etwa ein Kilometer entfernt; es ist schon ein Wunder, dass wir soweit gekommen sind. Aber das Wunder ist bald zu Ende, Soldaten rücken in einem Panzer an und stoppen uns. Wir verhandeln um ein Treffen mit unseren Freunden, ohne Erfolg. Wir kehren ins Krankenhaus zurück und hören Schüsse und den Einschlag einer Granate aus einem anderen Stadtteil. Stunden später erfahren wir, dass ein Jugendlicher an dem Morgen erschossen wurde.
Am nächsten Tag trifft sich ein breites Bündnis aus israelischen und arabischen Aktivisten, die über die breite Zugangsstraße vor dem Eingang zum Lager in Dschenin demonstrieren und dabei mehrere Lkw mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Decken begleiten.
Die Demonstration ist ein großer Erfolg: 3000 Leute haben sich ihr angeschlossen, aus verschiedenen Städten Israels. An der Spitze des Zuges sind junge Araber, sie sind sehr aufgeregt und wollen die Gelegenheit unbedingt nutzen, ihre Verwandten wiederzusehen. Es folgt ein bunter Zug aus Pazifisten, verschiedenen linken politischen Gruppen und vielen jungen Leuten. Eine kleine Gruppe Jugendlicher hat sich gebildet, sie tragen T-Shirts mit einem gelben Stern und der Inschrift "Palästinenser". Sie erklären uns, sie hätten sich zusammengetan, als sie erfahren haben, dass vor etwa zehn Tagen ausländische Besucher der Ausgangssperre getrotzt und in Ramallah demonstriert hätten. Wir konnten die Wirkung solcher Aktionen auch in Ostjerusalem spüren, Passanten auf der Straße wussten, dass es in Ramallah Demonstrationen gegeben hatte.
Die Soldaten versuchen, die Demonstration mit einem Jeep und ein paar Mann zu stoppen. Wir sind aber zu viele, sie lassen uns durch. Wenige Kilometer weiter, beim offiziellen Checkpoint vor Jenin, werden wir angehalten. Nach Verhandlungen sichern die Soldaten zu, die Lastwagen passieren zu lassen, wenn die Demonstration sich auflöst. Am nächsten Morgen erfahren wir, dass nur sechs von ihnen ins Lager gelassen wurden, sie mussten ihre Ware in großer Entfernung davon entladen, ohne zu wissen, ob sie je ihre Adressaten erreichen wird.
Den Abschluss bildet ein Treffen mit Pazifisten in Tel Aviv. Dort gibt es ein sehr aktives Team von Indymedia, das eine Zeitung herausgibt und auf dem Internet Videos und Radiosendungen veröffentlicht. Wir diskutieren über Möglichkeiten, Informationen auszutauschen und die Zusammenarbeit zu festigen. Danach noch eine Pressekonferenz; dann fliegen wir mit sieben Teilnehmern einer Friedensdelegation zurück, die gerade aus Israel ausgewiesen wurden.

Christophe Aguiton (16.4.2002)


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