SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 6

Sind Sie jetzt Kapitalist, Herr Gysi?

Als der Berliner Senat beschloss, die Berliner Bankgesellschaft mit einer Risikoabsicherung von 21 Milliarden Euro vor dem Konkurs zu retten, fiel auch der bürgerlichen Presse auf, dass dies eine ungewöhnliche Maßnahme im Sinne der Kapitalanleger war. In Berlin war sie doppelt ungewöhnlich: Sie stand im Widerspruch zum Vorgehen des Senats beim Bürobedarfhersteller Herlitz, der ebenfalls pleite war; und sie wurde von einer sich sozialistisch nennenden Partei in der Koalition getragen, der PDS. Die konservative Tagesspiegel führte daraufhin ein Interview mit Wirtschaftssenator Gregor Gysi, dessen Kernaussagen wir den Leserinnen und Lesern dieser Zeitung nicht vorenthalten wollen.

Herr Gysi, das Land Berlin stützt die Bankgesellschaft mit Milliarden. Für Herlitz hat der Wirtschaftssenator nicht einmal zehn Millionen übrig. Ist das fair?
Es gibt einen großen Unterschied. Die Bank gehört dem Land — leider. Das Land haftet. Herlitz gehört uns nicht. Herlitz gehört den Banken. Als das Management Fehlinvestitionen beschloss, hat uns ja auch niemand gefragt. Aber die Folgen sollen die Steuerzahler überwiegend tragen.

Engagieren Sie sich nicht für den Erhalt von Arbeitsplätzen?
Natürlich. Aber ich muss das Risiko des Landes doch auch gegenüber den Steuerzahlern rechtfertigen. Da leben zwei Seelen in meiner Brust. […]

Fühlen Sie sich manchmal von Investoren regelrecht erpresst?
Sagen wir es so: es gibt Nötigungssituationen. Einige Unternehmen schreiben seit Jahren riesige schwarze Zahlen, sind auf keine müde Mark des Staates angewiesen und wollen uns dennoch diktieren, wieviel Subventionen wir für ihre Ansiedlung bieten sollen. Die Argumentation der Unternehmer ist simpel: andere Städte bieten das auch. Das hat eine Logik. Aber ich darf ja auch wohl sagen, dass mich das maßlos ärgert.

Sagen Sie das den Managern?
Ja. Das mögen die an mir.

Aber Angebote machen Sie dann trotzdem?
Ja, natürlich. Aber ich sage wenigstens, dass es mich ärgert.

Sie widersprechen also wortreich und folgen dann treu den Gesetzen des Marktes?
Es gibt kein juristisches und kein moralisches Gesetz, das stärker wäre als ökonomische Interessen. Das kann man ja nun wirklich schon bei Marx lernen.

Karl Marx hat daraus aber ganz andere Schlüsse gezogen.
Marx hat sich seine Gedanken darüber gemacht, wie man das verändern kann. Das muss erlaubt sein. Die DDR ist an der permanenten Verletzung von Marktgesetzen gescheitert. Und auch in Berlin wird dieser Versuch immer wieder gemacht. Ich finde hier ein weitverbreitetes staatssozialistisches Denken vor.

Das will der Sozialist Gysi abstellen?
Das will ich insoweit korrigieren, als es für das Land und seine Bürger von Nachteil ist … nicht jede Privatisierung ist göttlich, aber auch nicht jede Privatisierung ist des Teufels.

In Ihrem Kampf gegen Staatseingriffe entscheiden Sie sich also für die Förderung neuer Firmenansiedlungen und gegen den Erhalt Not leidender Betriebe?
Nein. Wenn wir in Berlin eine Pleitewelle hätten, bräuchte ich doch mit Investoren gar nicht mehr reden. Was nichts mehr wird, sollte aber nicht mehr künstlich subventioniert werden. Berlin wird nie mehr der Industriestandort der 20er und 30er Jahre werden.

Und was kann Berlin?
[…] Berlin kann ein wichtiger Standort für ausländische Unternehmen im Ostgeschäft werden.

Erzählen Sie uns jetzt von der zehn Jahre alten Idee von Berlin als Drehscheibe für Ost und West? Die war doch ein Flop.
Das ist mir auch nicht entgangen. Aber das Potenzial ist doch nie richtig genutzt worden. Außerdem startete der Versuch vielleicht zu. Die Chancen kommen erst jetzt mit der Erweiterung der EU nach Osten.

Setzen Sie also die Politik ihres christdemokratischen Vorgängers fort?
Ich bin Senator eines Bundeslandes. Ich lebe in einer kapitaldominierten Gesellschaft und muss unter diesen Bedingungen versuchen, eine soziale Aufgabe zu lösen — nämlich den Abbau von Arbeitslosigkeit. Das geht nur mit den Mitteln des Kapitalismus und nicht gegen den Kapitalismus. Wenn ich hier versuche, ihn zu bekämpfen, dann vergrößere ich die Arbeitslosigkeit.

Der Sozialist Gysi macht alles wie gehabt?
[…] Eine sozialistische Partei muss mittelständische Unternehmen in besonderer Weise fördern.

Das ist dann sozialistische Marktwirtschaft?
Nein. Aber darüber können wir uns in zwanzig Jahren noch einmal unterhalten.


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