SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 9

Zurück zur Arbeitsanstalt

Was die Regierung für die Erwerbslosen plant, gab es schon mal

Die Sanierung der Haushalte auf Kosten der Arbeitslosen lässt feudale Strukturen der Armenfürsorge wieder aufleben.

Sozialpolitische Vorschläge hierzulande heißen derzeit "Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe" bzw. erweiterte "Arbeitsverpflichtung für Sozialhilfebezieher". Gemeinsam ist ihnen zumindest die ideologische Komponente: Erwerbslosigkeit resultiert nicht aus dem Fehlen von Arbeitsplätzen, sondern aus Fehlern der Einzelnen: zu unqualifiziert, zu alt, zu unflexibel, zu Frau, zu unwillig, zu ungeübt, zu unmotiviert, zu faul, zu satt. Die Individualisierung hat Folgen. Die Erwerbslose wird auf ihre "Aktivierbarkeit", sprich: Verwertbarkeit geprüft, dann eventuell für den mehrwertschaffenden Einsatz "fitgehalten" oder "fitgemacht" — oder aus der Sozialversicherung aussortiert.
Was für die Aussortierten bleibt, ist — glaubt man den noch unkonkreten Plänen von SPD, CDU/CSU, FDP, Grünen — die Sozialhilfe oder eine neu zu schaffende Leistung, die nach zwei Hauptkriterien unterscheidet: eine Sozialhilfe für die "wirklich Bedürftigen", also diejenigen, die nach aktuellen Maßstäben nicht arbeitsfähig sind (RentnerInnen, Kranke) — sie sollen etwas mehr für etwas weniger Gegenleistung bekommen; und eine geringere Sozialhilfe für diejenigen, die arbeitsfähig sind und sich deshalb ständig einer Prüfung ihrer Arbeitswilligkeit unterziehen müssen.
Noch sind die vorliegenden SPD-Pläne zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe an vielen Punkten denkbar vage, vor allem dort, wo es um ihre verwaltungstechnische Umsetzung geht. Wer soll die neue Leistung wie umsetzen? Oder in "modernerem" Vokabular: "Wie sollen "die Strukturen moderner Arbeitsmarktdienstleister" aussehen?
Klar ist die Papierlage jedoch an folgenden Punkten:
• Die Aktivierung erwerbsloser Arbeitnehmer soll "die Potenziale der Arbeitsuchenden unter Beachtung der aktuellen und perspektivischen Arbeitskräftenachfrage systematischer entwickeln und nutzen" — bei Vorhandensein "transparenter Anreiz- und Sanktionsmöglichkeiten".
• Alle Arbeitsfähigen zwischen 18 und 65 Jahren ohne Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung (heute Arbeitslosengeld oder bei beruflicher Bildung das Unterhaltsgeld) sollen diesem Arbeitsmarktdienstleister überstellt werden. (Nur für dauerhaft Erwerbsgeminderte und RentnerInnen gibt es ab dem 1.1.2003 eine Grundsicherung; nur für solche Personen, "die aus irgendwelchen Gründen durch diese Netze fallen, (soll) die Sicherung des Lebensunterhalts und der Zugang zu bedarfsspezifischen Hilfeformen gewährleistet sein".)
• Die Alimentierung dieser Erwerbslosen soll verwaltungstechnisch einfach abgewickelt werden können (einfach zu ermittelnde "bedarfsdeckende Gesamtpauschale" mit "eventuell (!) einem einzelfallbezogenen Zuschlag").
• Der Finanzierung dieser Leistung werden heute schon engste Grenzen gezogen — siehe Eichels Versprechen an die EU- Länder, bis 2004 ausgeglichene Haushalte vorzulegen; von der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verspricht er sich Einsparungen in Höhe von jährlich 5—6,5 Mrd. Euro.
• Die Ausgestaltung der Leistung wird (bewusst?) unattraktiv gehalten: Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung würden wohl abgeführt, Rentenversicherungsbeiträge dagegen nicht.
• Wenn SPD-seitig heute die "Harmonisierung zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe" diskutiert wird, dann soll der Maßstab für die "aktiven Leistungen" die "Hilfe zur Arbeit" (des Bundessozialhilfegesetzes — BSHG) sein. Im Klartext: den Erwerbslosen sind dann erheblich schlechtere Jobs zumutbar, der Berufsschutz entfällt (fast) ganz.
Die Umsetzung solcher Vorhaben würde in vielen Fällen eine dramatische materielle Schlechterstellung von Erwerbslosen bedeuten — und — mehr noch als heute — repressiven Charakter haben. Und obwohl diese Ideen gerne mit dem Argument der vermeintlich leeren Kassen und der allgemeinen Haushaltslage der Bundesrepublik begründet werden, liegt ein anderer Schluss nahe: Zielscheibe sind alle Lohnabhängigen, egal ob mit oder ohne Arbeitsplatz. Denn wenn die Arbeitslosenunterstützung auf ein Niveau heruntergefahren wird, das jedwede Form der Lohnarbeit als attraktive Alternative erscheinen lässt, bedeutet dies im Umkehrschluss Druck auf erkämpfte Standards bei Arbeits- und Entlohnungsbedingungen insgesamt.
Eine solche These legt auch ein kurzer Rückblick in die Geschichte nahe. Es lohnt sich, sich den Umgang mit dem "arbeitsfähigen" Teil der Armenbevölkerung in der Vergangenheit anzusehen. Dabei dienten verstärkte Repressalien gegen Arme bzw. arbeitsfähige Arme, die Einweisung derselben in Arbeitshäuser und Pflichtarbeit meist als Faustpfand der Herrschenden gegen die gesamte besitzlose Bevölkerung.

Arbeitshäuser — eine Einrichtung mit Tradition

So wurden bereits im Zeitalter des Absolutismus die Insassen staatlicher Zwangsanstalten (worunter neben Zucht- und Arbeitshäusern auch Waisenhäuser fielen) gerne zu Arbeiten in den neu entstandenen Manufakturen eingesetzt — eine damals neue Form der Arbeitsteilung, für die sich kaum "freiwillige" Arbeitskräfte fanden und die von den jeweiligen Landesherren deshalb auf verschiedene Art und Weise — etwa mittels einer Art früher "Greencards", also gezielter Einwanderungspolitik, gefördert wurden. Gleichzeitig wurde die "Arbeitsfähigkeit" im Sinne von "mutwilliger Armut" zu einem zentralen Kriterium in der Armenfürsorge — was frappant an die Schröder‘sche Faulenzerdebatte erinnert.
Dies stand in gewisser Weise im Gegensatz zu der almosen-orientierten christlich-katholischen Armenpflege des Mittelalters, die der Bremer Pastor Wilhelm Arnold Walte im Jahre 1866 rückblickend so beschrieb:
"Gewiss wollen wir auch die Wohltätigkeitsbestrebungen der vorreformatorischen Kirche, die reichen Spenden an Geld und Lebensmitteln, welche namentlich aus den Klöstern den Notleidenden in weitem Umkreise zuflossen, in gebührender Ehre halten. Doch weit entfernt, dass damit die sittliche Erhebung der Armen befördert worden wäre, so wurden durch solche Spenden, indem sie den Würdigen und Unwürdigen, den wirklich Hilfsbedürftigen und den durch eigene Schuld in Trägheit und Lasterdienst Verkommenen ohne Unterschied dargereicht wurden, in manchen Gegenden ganze Scharen solcher Müßiggänger und Bettler herbeigezogen."
In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts beginnt man in Deutschland verstärkt, Arbeits- und Zuchthäuser aufzubauen, zum Ende des Jahrhunderts gibt es mindestens 60 dieser Anstalten.
Die Funktion der Arbeitshäuser bestand nicht allein darin, die "Arbeitsscheuen" zu disziplinieren, sie zielten — wie auch das Militär in dieser Zeit — auf die Durchsetzung von Moral und Ordnung in der gesamten Bevölkerung. Denn weder wurde ein nennenswerter Teil der Armutsbevölkerung in diese Anstalten eingewiesen — das legt die Zahl ihrer Insassen nahe, noch erwirtschafteten die Zwangsarbeitenden hohe Gewinne für die Anstalt. Letztlich zahlten die Betreiber der Arbeitshäuser meistens sogar drauf, der von den Insassen erzielte Gewinn wurde für ihre Ernährung "aufgefressen" bzw. ging an den Unternehmer, der in den Anstalten arbeiten ließ.
Ein gern gesehener Nebeneffekt aber war, dass dort, wo ein Arbeitshaus neu gegründet wurde, die Armenkasse weniger um Unterstützung gebeten wurde. Kein Wunder, bedenkt man die Zustände in den Arbeitshäusern — Prügelstrafen, Hunger und mangelnde Hygiene, die Sterblichkeit lag teilweise deutlich über 10%.
Die Unterscheidung zwischen Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen war wesentliches Merkmal öffentlicher Armenpflege, wobei den Arbeitsfähigen grundsätzlich Arbeitsscheu unterstellt wurde. Ihnen blieb also nur das Betteln — das bei harter Strafe verboten war. Genannt sei als Beispiel ein königliches Edikt aus Berlin vom 28.April 1748, des Inhalts "wie die würklichen Armen versorget und verpfleget, die mutwilligen Bettler bestrafet und zur Arbeit angehalten, auch überhaupt keine Bettler geduldet werden sollen".
Im ausgehenden 18.Jahrhundert wird denn auch die Parole "Arbeit, Arbeit, Arbeit" (so hieß sie damals natürlich nicht buchstäblich) für die gesamte Armutsbevölkerung ausgegeben. Zwangsarbeitsverhältnisse ziehen nun in die Wohnstätten der Armen ein: sie werden zunehmend zu Heimarbeit verdonnert und von sog. Ehrenamtlichen kontrolliert.
In den 1830er und 1840er Jahren verhalf das Heer der Armen der Industrialisierung zum Aufschwung — arbeitsfähige Arme wurden in öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für umfangreiche Chaussee- und Eisenbahnbauten eingesetzt. Spezialisierte Produktion und weitergehende Arbeitsteilung waren erst aufgrund der neuer Transportwege möglich.

Lohnabstandsgebot

Mit der Ausweitung industriekapitalistischer Produktion gab es einerseits vermehrte Lohnarbeitsmöglichkeiten, andererseits eine nach wie vor — bedingt u.a. durch die Landflucht — hohe Arbeitslosigkeit. Zudem reichten die Löhne, die den Arbeitenden gezahlt wurden, häufig entweder gar nicht oder nur ganz knapp zum Überleben.
Damit ergab sich ein neues Problem für die Armenfürsorge: eine Art Lohnabstandsgebot musste her, um Erwerbsarbeit auf jeden Fall attraktiver scheinen zu lassen als jede Art fürsorglicher Zuwendung. Dies beschreibt F.P.Aschrott so:
"Der Staat hat ein erhebliches Interesse daran, dass bei der Gewährung von Unterstützungen auf das Energischste darauf Bedacht genommen wird, dass die Bevölkerung in ihrem Bestreben, selbst für sich zu sorgen, nicht lässig wird. Von diesem Gesichtspunkte aus darf die Lage des Unterstützten nicht über das Niveau des ärmsten selbstständigen Arbeiters erhoben werden: wenn die öffentliche Fürsorge den Unterstützten in irgendeiner Beziehung besser stellen würde als die Lage des selbstständigen, wenn auch noch so bedürftigen Arbeiters ist, so könnte dieser dadurch leicht in seinem Bestreben, seine Selbstständigkeit aufrecht zu erhalten, entmutigt werden. Ja, es erscheint erforderlich, mit der Unterstützung Beschränkungen zu verbinden, welche für den Empfänger der Unterstützung empfindlich sind und ihn veranlassen, von der Inanspruchnahme der öffentlichen Unterstützung, solange es noch irgend möglich ist, Abstand zu nehmen und rechtzeitig selbst Fürsorge für seine Zukunft und etwaige schlechte Zeiten zu treffen."
In der Folge wurde die öffentliche Armenunterstützung in den meisten Gemeinden auf ein Minimum heruntergeschraubt und betrug teilweise nur noch ein Viertel dessen, was den "normalen" (im Vergleich zum Bedarf seinerseits viel zu niedrigen) Arbeitslohn ausmachte.
Man findet noch viele Beispiele dafür, wie Wellen verstärkter Repression gegenüber Armen und Erwerbslosen immer auf die Veränderung von Produktionsbedingungen, auf die Steigerung der Produktivität und so auf die Maximierung von Gewinnen insgesamt abzielten. Die Folgen tragen, wie klar geworden sein dürfte, alle Beschäftigten. Wenn eine sozialdemokratische Regierung sich jetzt anschickt, Millionen von Menschen aus der Sozialversicherung hinauszuwerfen und sie stattdessen einer Art mehr oder weniger "modernen", an der Arbeitspflicht orientierten Fürsorge anheim stellt, so ist das nicht "Privatsache" der Betroffenen, sondern allemal Grund, sich auch im eigenen Interesse als Beschäftigte gegen solche Pläne zu wehren.

Britta Brenner


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