SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 13

Kommunistische Erneuerung beim Wort genommen

Thesen von Rifondazione Comunista zur Selbstreform der Partei

Die italienische Partei der kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista — PRC) hat auf ihrem V.Parteitag am 6./7.April 2002 "Thesen" verabschiedet, die u.a. eine tiefgreifende Veränderung ihres Parteiverständnisses umschreiben. Sie verabschiedet sich darin von dem in der sozialdemokratischen wie kommunistischen Tradition bislang überwiegenden Verständnis, wonach die Partei eine identitätsstiftende Vereinigung ist, die auf der institutionellen Ebene mit den anderen Parteien konkurriert und der die sozialen Bewegungen bestenfalls zuarbeiten. In der europäischen Parteienlandschaft der Linken sind die "Thesen" bahnbrechend und eine Herausforderung für jeden Ansatz einer Neuformierung der Linken. Diese Diskussion ist an der deutschen Linken trotz 1989 im Wesentlichen vorbeigegangen. Wir bieten deshalb nachstehend eine zusammenfassende Übersetzung des letzten Teils der "Thesen" (48—63), in der Hoffnung, sie für die hiesige Debatte fruchtbar machen zukönnen.

63 — Warum wir eine kommunistische Partei brauchen
Eine kommunistische politische Kraft ist heute aus einem wesentlichen Grund erforderlich: Sie ist in der Lage, mit einem umfassenden Kampfprojekt alle Widersprüche und Gebiete zu erfassen, die den Aufbau und die Aktivierung von Subjekten der gesellschaflichen Veränderung ermöglichen. Die verschiedenen Bereiche, in denen man aktiv werden kann — soziale Konflikte, der Bürgerprotest, die Interpretation der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen, die Kultur, die institutionelle Vertretung — tendieren von sich aus dazu, getrennt und ohne Kommunikation untereinander zu bleiben. Die Partei ist ein Ort, an dem sich eine Neuformierung, ein allgemeines Projekt entwickeln kann.
Die Partei ist aber auch ein aktives Instrument der Demokratie: Ort der Teilnahme am politischen Leben für alle, die die Politik nicht als Beruf gewählt haben. In diesem Sinn kann die moderne kommunistische Partei nur eine Massenpartei sein. Deshalb stellt sich die Partei, die wir in den vergangenen Jahren versucht haben aufzubauen, als ein Subjekt in den Rahmen der gesellschaftlichen, kulturellen, institutionellen und Klassenwidersprüche. Sie versucht sich am Arbeitsplatz, unter den abhängig Beschäftigten, in den Fabriken, Schulen und in der Forschung, unter den Erwerbslosen und Nichterwerbstätigen, unter den Migrantinnen und Migranten zu verankern. Sie erkennt den Widerspruch zwischen den Klassen und den Geschlechtern an. Sie fördert die interne Demokratie. Sie gibt sich Mittel zur Bildung und Selbstbildung. Sie weiß, dass sie notwendig, aber nicht hinreichend ist: Der Aufbau einer Alternative ist ein vielgestaltiger und pluraler Prozess, der vielfältige Formen der Organisation, der Kooperation, der Bündnisse und der freiwilligen Aktivitäten annimmt.
Der zweite Grund, warum eine kommunistische Partei notwendig ist, ergibt sich aus dem Problem der gesellschaftlichen Transformation. Dieser wird sich grundlegend unterscheiden von aufständischen wie von reformistischen Vorstellungen. Wir können ihn heute nur andenken als einen Prozess, der sich auf die Mittel stützt, die der Arbeiterbewegung historisch zur Verfügung stehen, aber auch auf eine ständige Dialektik zwischen institutioneller Vertretung und Formen der Selbstverwaltung, zwischen einer zentralen Macht und diffusen Gegenmächten, zwischen Parteien und Bewegungen. Es wird nicht "den" Bruch geben, es wird viele Brüche in unterschiedlichen Momenten geben. In einem solchen Prozess scheint uns die Partei nicht das einzige, aber ein unerlässliches Instrument.

50 — Kommunist sein heute
Die kommunistische Identität … erwächst nicht allein aus dem moralischen Reflex der Ablehnung des Bestehenden, auch nicht allein aus der subjektiven Ablehnung der Ungerechtigkeiten dieser Welt. Sie hat ein wesentliches Fundament in der Klassenanalyse des Bestehenden und der ihm innewohnenden Widersprüche. Den Kapitalismus überwinden, die Logik des Marktes und den kapitalistischen Betrieb … ist eine reale Möglichkeit der Geschichte, trotz der Niederlagen, Irrtümer und Fehlschläge des vergangenen Jahrhunderts.

51 — Die Kommunisten und der Oktober
In der jahrhundertealten Geschichte der Befreiungsversuche des Menschen behält die Oktoberrevolution einen besonderen Wert: Sie war die Wasserscheide des 20.Jahrhunderts. Sie hat den Wert und die Rolle des organisierten Subjekts unterstrichen, ein erstes außergewöhnliches Beispiel für das "Ja, man kann". Sie hat das Kräfteverhältnis auf der Welt grundlegend verändert, die weltweite Alleinherrschaft des kapitalistischen Marktes gebrochen und den gesamten Verlauf der revolutionären Bewegung des 20. Jahrhunderts bis bin zu den antikolonialen Befreiungsbewegungen beeinflusst. Sie hat die herrschenden Klassen im kapitalistischen Westen zu bedeutenden Kompromissen mit der Arbeiterbewegung gezwungen. Sie hat entscheidend zur Niederlage des Nazifaschismus beigetragen.
Diese unleugbaren politischen und historischen Verdienste haben nicht verhindert, dass die postrevolutionären Gesellschaften einen Regressions- und Degenerationsprozess durchgemacht haben, was derHauptgrund für ihre Niederlage war. Damit stehen wir vor der Aufgabe, eine kommunistische Identität eigenständig und komplex zu definieren.

52 — Nach ‘89
In den letzten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts, aber vor allem nach 1989 hat die kommunistische Bewegung seine dramatischste Krise erlebt: Gegen sie (wie gegen jede organisierte antikapitalistische Instanz) wurde eine Offensive entfaltet, die ihre vollständige Entlegitimierung zum Ziel hat. Die Antwort der kommunistischen Parteien war in vielen Fällen eine zweifache: entweder eine Erneuerung, die die Notwendigkeit der Niederlage und damit den Standpunkt des Gegners verinnerlichte, häufig durch Namensänderung; oder eine neo-orthodoxe und neodoktrinäre Verhärtung. Das politische Schicksal der Kommunisten riskierte, zwischen beiden Alternativen gefangen zu bleiben, die beide auf der Verliererstraße sind.
Vor diesem Hintergrund haben sich Rifondazione Comunista wie auch andere kommunistische Parteien und revolutionäre Bewegungen bemüht, einen eigenen Weg zu gehen: Erneuerung und Radikalität, kulturelle Öffnung und revolutionäre Perspektive miteinander zu verbinden. Die Marksteine dieses Wegs sind:
1. Die Rückkehr zu Marx…
2. Das Erbe Antonio Gramscis…
3. Das Erbe des 20.Jahrhunderts.
Im Mittelpunkt des Kampfes für die Befreiung der Menschheit stand die Arbeiterbewegung… Wesentlich war auch der Kampf gegen das Patriarchat: Die feministische Revolution hat nicht nur ein neues Subjekt und den Kampf für neue Rechte hervorgebracht, sondern auch eine Umwälzung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die die Familie als historisch-gesellschaftlichen Ort, der die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern reproduziert, in Frage stellt. Gleichermaßen konstitutiv für eine moderne Identität ist der Begriff der Grenze: Er beschreibt die Kritik an einer Vorstellung und Praxis, die Fortschritt mit quantitativem Wachstum und mit der unkontrollierten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gleichsetzt. Diese Protagonisten der Moderne — Arbeit, Geschlecht, Umwelt — addieren sich nicht einfach, sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.

53 — Kommunismus contra Stalinismus
Der Aufbau einer kommunistischen Identität, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist, impliziert einen radikalen Bruch mit dem Stalinismus. Im italienischen Kommunismus ist der Bruch überwiegend im Namen der Rechte des Individuums und der repräsentativen Demokratie erfolgt…
Zu dem negativen Erbe, von dem wir uns absetzen, gehört in erster Linie die Vorstellung von einem "sozialistischen Lager" — ein Lager von Staaten —, dem die strategischen Interessen der Arbeiterbewegung weltweit untergeordnet oder geopfert werden müssten. Eine solche Perspektive ist in Zukunft undenkbar. In zweiter Linie gehört dazu die dogmatische Versteinerung der Theorie. Und schließlich die Reduzierung des Sozialismus auf die Dimension der Eroberung der politischen und institutionellen Macht, außerhalb der Orte der Arbeit und der Produktion und außerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen, im Verbund mit einem gigantomanen Industrialisierungsprozess, der zwangsläufig von oben diktiert war. Der Stalinismus war auch ein Entwicklungsmodell, das im quantitativen Wachstumsdenken verhaftet blieb. Aus diesem Defizit — nicht aus einem Überfluss — an Sozialismus hat sich die totalitäre und despotische Vorstellung und Praxis der Partei entwickelt.

54 — Kommunismus heute
Es wird immer deutlicher, dass die Theorie der "zwei Etappen" — erst der Sozialismus, zentriert auf die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel, dann in ferner Zukunft der Kommunismus — jeder Grundlage entbehrt. Das bedeutet nicht, dass der Kommunismus hinter der Ecke warten würde oder dass es keiner Übergänge bedürfte. Es bedeutet, dass die kommunistische Perspektive nicht politisch-strategisch von den Kämpfen der Gegenwart getrennt werden kann. Die Hauptlosung des "Volks von Seattle" lautet nicht zufällig: Eine andere Welt ist möglich. Das kommt daher, dass die Bewegung gegen die liberale Globalisierung eine radikale Bewegung ist, die die Verhältnisse an der Wurzel packt. Von diesem Standpunkt aus kann der Kommunismus gerade auch den jungen Generationen wieder als befreiende Alternative vorgeschlagen werden.

56 — Die Selbstreform der Partei
Unsere Partei leidet unter dem Widerspruch zwischen den von der PCI ererbten Strukturen einer Partei von "Berufsrevolutionären" und der Wirklichkeit, dass die politische Arbeit überwiegend von Freiwilligen, gelegentlich Mitarbeitenden und mobilen Aktivisten geleistet wird. Es ist uns zu keinem Zeitpunkt gelungen, diesen Widerspruch zu überwinden, so dass auch Frauen und Nichtweiße zur Mitarbeit animiert würden. Die Partei gewinnt an Sympathie, gerade unter jungen Leuten, aber die Zahl der Mitglieder geht zurück. Da gibt es einen hohen Durchlauf.

57 — Soziale Beziehungen aufbauen
In erster Linie ist es notwendig, den Mittelpunkt der Partei zu verschieben — weg von ihrem identitären und propagandistischen Profil hin zur Fähigkeit zur politischen Aktion und zur Zusammenarbeit mit anderen Protagonisten der Alternative. Die Partei muss in der Lage sein, soziale Beziehungen und Organisationsstrukturen aufzubauen. Die Erkenntnis, dass wir nötig, aber nicht hinreichend sind, fordert, dass wir uns nach außen öffnen und uns ständig neu befragen. Unsere kommunistische Identität ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung, um politisch für den Aufbau einer linken Alternative agieren zu können.

58 — Fähigkeiten nutzen können
Die Partei muss die Fähigkeiten ihrer Mitglieder, ihre unterschiedlichen Kompetenzen, die in jedem und jeder Einzelnen schlummernde Möglichkeit, in ihrem Bereich eine führende Rolle zu spielen, zur Geltung bringen. Dass das geht, zeigt unsere zehnjährige Erfahrung mit den Festen von Liberazione — ein Ort, wo sich die Partei als offene, agierende Gemeinschaft vorstellt. Aber insgesamt nutzen wir heute nur einen winzigen Teil der Kompetenzen unserer Mitglieder. Zu häufig tun wenige alles und viele nichts.

59 — Die Organisation der Parteiarbeit ändern
Unsere Partei tendiert dazu, politische Ideen und Vorschläge zu produzieren, stellt sich aber fast nie die Frage, wie sie sie umsetzen kann. Ihre Arbeitsweise folgt einem "vertikalen" hierarchisch-bürokratischen Modell, das den Prozess der Prüfung/
Verifizierung kaum kennt und deshalb auch nicht zu Experimenten und Korrekturen in der Lage ist. Es muss eine Arbeitsorganisation aufgebaut werden, bei der das Arbeitsergebnis nicht nur aus der Diskussion nach innen, sondern auch aus der Erprobung unserer Vorhaben nach außen besteht. Auch die Arbeitsteilung zwischen Führung und Mitgliedern muss in Frage gestellt werden. Die Reflexion der Partei über sich selbst und ihre Arbeitsweise ist so gut wie nie Gegenstand parteiinterner Diskussionen, die eigene Arbeit wird kaum bilanziert. Das muss überwunden werden. Damit lassen sich auch Karrierismus und die Personalisierung von Debatten überwinden.

60 — Die Partei in der Gesellschaft verankern
Die Partei darf sich nicht nur als Vertreterin der abhängigen Klassen in den Institutionen verstehen, sie muss Instrument sein, um diese zu einem konfliktbereiten Subjekt aufzubauen. Im Mittelpunkt der Parteiarbeit muss deshalb ihre soziale Verankerung stehen.
Wir wollen eine Partei, die ihren Willen zum Dialog zeigt, ohne eine Vorherrschaft für sich zu beanspruchen; die überzeugt ist von ihrem Projekt, ihre eigenen Vorschläge aber der konkreten Prüfung durch die Gesellschaft unterzieht; die sich bewusst ist, dass ihr eigener Aufbau vom Grad der Eigenaktivität und der Selbstorganisation der sozialen Subjekte und der Bewegungen abhängt.
Wir wollen eine Partei, die Orte des sozialen Konflikts aufbaut, unterschiedliche Betroffenheiten und soziale Subjekte im antikapitalistischen Kampf aktiviert und mit ihnen gemeinsam die Gegner und Bündnispartner definiert. Eine Partei, die ein gemeinsames Netz von Kampfmitteln knüpft und die verschiedenen Momente des Kampfes in einer gemeinsamen Perspektive der Alternative verbindet. So können wir für die Rekonstruktion der Subjekte der gesellschaftlichen Transformation und den Aufbau einer neuen Arbeiterbewegung agieren.

62 — Selbstorganisation befördern
Die Partei muss "Gesellschaft aufbauen" — Orte der Begegnung und der Debatte, neue Volkshäuser. Ausgehend von der positiven Erfahrung mit den Giovani Comunisti [der Jugendorganisation] soll ein Frauenforum, eine "Consulta" der abhängig Beschäftigten und ein Forum der Migrantinnen und Migranten aufgebaut werden. Die Partei hat die Aufgabe, öffentliche Räume zu schaffen, die die Selbstorganisation der sozialen Subjekte befördern.


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