SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 15

Erdölreserve des Westens

National denken, gemeinsam ausbeuten: Geopolitik in Zentralasien

Der 11.September hat neben Pakistan und Afghanistan auch die früheren südlichen Republiken der Sowjetunion, die seit einem Jahrzehnt unabhängig sind, ins Zentrum der Interessen westlicher Staaten gerückt. So ist es den USA gelungen — was vor dem 11.9. kaum denkbar schien —, mit Zustimmung Russlands Luftwaffenstützpunkte in Usbekistan zu errichten. Weitere Militärstützpunkte in der Region, etwa in Kirgisien, sollen folgen oder werden bereits aufgebaut.
Dies widerspricht den auch von vielen Linken gezogenen Analogien zum von Rudyard Kipling so beschriebenen "great game", dem Kampf um Mittelasien zwischen Russland und dem britischen Kolonialreich im 19.Jahrhundert, der nach blutigen Niederlagen der Briten zur Stabilisierung eines unabhängigen und neutralen Afghanistan führte, das spätestens seit dem Ersten Weltkrieg unter dem vom sowjetischen Oktober beeinflussten "Reform- Emir" Amanullah auch seine eigene Außenpolitik machen konnte.
Natürlich gibt es Zusammenhänge zwischen der Versorgung der westlichen Welt mit Erdöl und Erdgas und dem "Krieg gegen den Terrorismus", doch sollte man vorsichtig sein, die mit den Taliban ausgehandelten und schließlich wieder abgeblasenen Pläne zum Bau einer Pipeline durch Afghanistan an den Indischen Ozean umstandslos als wichtigsten Kriegsgrund zu sehen. In dieser Region gibt es inzwischen ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Interessen sowohl der Groß- wie auch der Regionalmächte Iran, Indien und China, die sich nicht mehr einfach um zwei Lager herum polarisieren lassen.

Die weltweiten Ölressourcen

Die längerfristige Bedeutung der kaspischen Region für die weltweite Energieversorgung lässt sich nur vor dem Hintergrund der heutigen Gegebenheiten und ihrer Entwicklungstendenzen angemessen begreifen.
Wenn wir uns in den Berichten der Internationalen Energieagentur (IEA) die Verteilung von Reserven, Produktion und Verbrauch von Öl, noch immer das wichtigste Schmiermittel der kapitalistischen Weltwirtschaft, genauer ansehen, dann ergibt sich folgendes Bild: Die USA und Kanada besitzen einen Anteil an den bekannten Weltreserven von 3,5%, fördern auf ihren Territorien und an den Meeresküsten jedoch 14% der Gesamtproduktion und verbrauchen über 28% des weltweit geförderten Öls.
West- und Mitteleuropa verfügen über 1,8% der Reserven, fördern 9% und verbrauchen 22%. Russlands Reserven liegen bei 4,6%, seine Produktion bei 8,8% und sein Verbrauch bei nur 3,3%. Es kann also — noch — massiv exportieren. Die Staaten der OPEC, der Erdöl exportierenden Länder, haben einen Anteil an den Reserven von 78%.
Allein auf die fünf wichtigsten Ölländer am Persischen Golf (Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate) entfallen 63% oder fast zwei Drittel aller weltweiten Reserven. Sie haben einen Anteil an der Förderung von 41% bzw. 27% bei einem Eigenverbrauch, der unter 5% liegt und sich — von Ländern wie Nigeria, Venezuela oder dem Iran vielleicht einmal abgesehen — auch nur wenig erhöhen dürfte.
Wenn man nun die Förderung zu den Reserven in Beziehung setzt, dann ergibt sich, dass sich, einigermaßen gleichbleibender Verbrauch vorausgesetzt, die Reserven sowohl der USA und Kanadas wie auch Europas in den kommenden zehn Jahren tendenziell erschöpfen werden. Auch Bushs Pläne, in Alaska neue Quellen zu erschließen, werden diese Entwicklung kaum aufhalten können.
Russlands Reserven werden noch gut doppelt so lange reichen. Hingegen lassen die Vorräte der OPEC das begehrte Schwarze Gold noch zwischen 70 und 100 Jahre fließen. Daraus kann man ableiten, dass die OPEC — nachdem es dem Westen in den 80er Jahren gelungen war, durch Ausbeutung neuer Ölfelder, z.B. in der Nordsee, das Kartell zeitweilig zu brechen, in nicht allzu ferner Zukunft am längeren Hebel sitzen wird.
Im März 1999 ist es der OPEC erstmals seit 13 Jahren wieder gelungen, durch Begrenzung der Förderung eine Anhebung des Rohölpreises auf eine Marge zwischen 22 und 28 Dollar durchzusetzen, die bis zum 11.9. Bestand hatte. Man kann davon ausgehen, dass bei einer Erholung der Weltkonjunktur dieser Preis pro Barrel wieder erreicht werden wird.
Doch politisch entscheidend ist, dass die Regime der OPEC-Golfstaaten allesamt despotisch sind und ihre Stabilität als ziemlich kritisch eingeschätzt werden kann. Daher ist ein zentrales Ziel der westlichen Strategie in dieser Region, mit allen — auch militärischen Mitteln — eine Stabilisierung der dem Westen genehmen Regime zu bewirken.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die kaspische Region? Die Ölvorkommen Aserbaidshans um die Hauptstadt Baku herum gehören zu den ältesten bekannten "Ölquellen". Schon um das Jahr 1900 herum engagierten sich dort die Brüder Nobel in der Förderung. Hitler versuchte, in den Kaukasus vorzustoßen, um die Achillesferse der Wehrmacht, die Benzinversorgung, durch Besetzung Bakus zu sichern.
Nach der Unabhängigkeit 1991 hoffte Aserbaidshans Hauptstadt, wieder im alten Glanz erstrahlen zu können, da sich auf einmal die Unterhändler sämtlicher westlicher Ölfirmen die Klinken in die Hand gaben. Inzwischen ist die ursprüngliche Euphorie über die Möglichkeiten der kaspischen Ölproduktion — auch wegen der beginnenden Erschließung der in Kasachstan liegenden Tengiz-Ölfelder durch westliche und russische Konsortien — einem gewissen Realismus gewichen: Diese Region wird in etwa zehn Jahren 5—6% der Weltölförderung liefern können.
Hinzu kommen noch beträchtliche Gasvorkommen, vor allem in der Mary-Region in Turkmenistan. Es steht also zu erwarten, dass das Kaspische Meer an die Stelle der in Bälde erschöpften Quellen der Nordsee treten wird — und dass die Länder der EU, besonders Deutschland, über die russische Verbindung zu den Hauptnutznießern dieser "neuen" Ölregion gehören werden.
Trotz des vergleichsweise geringen Prozentsatzes der möglichen Förderung von Öl in der kaspischen Region sollte man die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft nicht gering achten: 1973 hat eine Verknappung des Angebots von etwa 4% zu einem massiven Höhenflug des Ölpreises und erheblichen weltwirtschaftlichen Folgen geführt.

Die Machtinteressen

Nicht nur übertrifft das Energiepotenzial der kaspischen Region jenes der Nordsee erheblich, es hat auch das größte Wachstumspotenzial aller bekannten Regionen — abgesehen vom Persischen Golf. Mittlerweile wird diese Region von internationalen Konsortien erschlossen, an denen US-amerikanische, europäische und russische Anteilseigner dergestalt beteiligt sind, dass keinem eine Mehrheit zufällt.
Anfänglich schlechte Erfahrungen mit der Politik haben die Ölmultis bewogen, auf eine gewisse Distanz zur häufig wechselnden Politik jener Regime zu gehen und in einer langfristigen Anlagestrategie ihre gemeinsamen Profitinteressen oben an zu stellen. Natürlich sind die Konsortien an politischer Einflussnahme zu ihren Gunsten interessiert, sofern sich dadurch die Rahmenbedingungen verbessern lassen, wie dies z.B. in der 1998 in Kraft getretenen "Energiecharta" vorgeführt wurde.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat die US-Politik unter Clinton die russische Vorstellung, bei den GUS-Staaten handle es sich um "nahes Ausland", in das sich die USA politisch nicht einmischen sollten, akzeptiert. Doch als Kasachstan 1993 mit der US-Firma Chevron einen Vertrag über die Erschließung der Tengiz-Ölfelder im Norden des Kaspischen Meeres abschloss und Aserbaidshan am 20.September 1994 mit elf internationalen Ölfirmen sein "Jahrhundertgeschäft" zur Erschließung von drei Off-shore-Ölfeldern unter Dach und Fach brachte, wurden auch mit dem Iran Absichtserklärungen ausgetauscht, das Öl den einfachsten Weg zum Golf nehmen zu lassen.
Nun begannen in Washington die Alarmglocken zu läuten, denn seit der islamischen Revolution rechnen die USA den Iran zu den "Schurkenstaaten", der die Stabilität ihres Öl-Protegés seit 1945, der saudischen Monarchie nämlich, bedrohen. Massiver Druck aus den USA auf den kasachischen Präsidenten Nasarbajew verhinderte den Bau einer Pipeline durch den Iran.
Auch Aserbaidshans Präsident Alijew willigte auf Clintons Druck hin ein, das Öl über die neue Pipeline durch Georgien an den Schwarzmeerhafen Supsa bzw. durch Russland an den Hafen Noworossijsk zu verfrachten. Das gegen Kasachstan ausgesprochene Verbot, sein Öl ins iranische Netz zu leiten, brachte nun Russland in eine Monopolsituation als Transitland.
Die Russen hatten jedoch keinerlei Eile, kasachisches Öl durchzuleiten, weil sie einerseits ihre Exportmöglichkeiten nicht beeinträchtigen wollten und andererseits keine russische Firma an der Erschließung der Tengiz-Felder beteiligt war. Erst als Kasachstan den russischen Konzern Lukoil beteiligte, willigte Russland in den Bau einer neuen Pipeline ans Schwarze Meer ein, die 2001 dann auch in Betrieb ging.
Im Fall von Turkmenistan konnten die USA nicht verhindern, dass jenes Land 1997 seine Gaspipeline ans iranische Gasnetz anschloss. Doch die Vorhaben beider Länder, den rasch wachsenden türkischen Gasmarkt zu beliefern, wurden von den USA torpediert mit dem Ergebnis, dass die Türkei beim Gas nun fast völlig von Russland abhängig ist.
Die Pläne der USA, eine Gaspipeline unter Umgehung des Iran durch das Kaspische Meer und über Georgien in die Türkei zu führen, dürften auf absehbare Zeit nicht realisiert werden, da es über den Rechtsstatus jenes Binnenmeers — See oder Meer — und damit die Hoheitsrechte kein Einvernehmen gibt.
Außerdem hat der turkmenische Präsident Nijasow inzwischen mit Russland einen Vertrag geschlossen, das Gas durch die russischen Leitungen zu schicken, um endlich Devisen in die klamme Staatskasse zu bekommen. Dabei kommen ihm die Probleme der russischen Seite zu Hilfe, ihren Lieferverpflichtungen an die Europäer nachzukommen.
Der Wille einer Verhinderung von Pipelines durch den Iran hat am 23.Juli 1997 auch zum häufig zitierten Vertrag von Islamabad geführt, in dem die Staaten Turkmenistan und Pakistan unter Beteiligung eines Vertreters der Taliban für Afghanistan mit den Ölfirmen Unocal (USA) und Delta (Saudi-Arabien) übereinkamen, ab Ende 1998 eine Pipeline von den Mary-Gasfeldern durchs westliche Afghanistan in Richtung Karachi zu bauen.
Die sich zuspitzende Krise in Afghanistan ließ die Investoren schließlich zurückschrecken, doch ist keineswegs ausgeschlossen, dass das Projekt nach einer "Stabilisierung" der Lage in Afghanistan nicht doch noch in Angriff genommen wird.
Bei der Durchsetzung ihrer Politik gegen den Iran waren die USA bisher ziemlich erfolgreich. Es gelang ihnen hingegen nicht, Investoren für ihr Lieblingsprojekt einer Pipeline durch Armenien und die Türkei an den türkischen Hafen Ceyhan zu gewinnen. Die "Kapitaleigner" misstrauen offenbar den US-Beteuerungen über die angebliche Stabilität der Türkei.
Jenes Land kann man inzwischen zu den Verlierern rechnen, da auch alle Versuche, mit den Turk-Republiken Zentralasiens in Geschäft zu kommen, gescheitert sind. Hauptnutznießer der zahlreichen Interessenkonflikte in der Region waren auf energiepolitischem Gebiet bisher Russland und damit indirekt die Staaten der EU, die bekanntlich über die russischen Verteilungsnetze beliefert werden.
Dem entspricht die militärische Taktik der Europäer im "Krieg gegen den Terrorismus", an der Seite der USA bei allen wichtigen Aktionen dabei zu sein bzw. sich hineinzudrängen, jedoch mehr und mehr auch eigene Aktionen zu unternehmen, um mit einer geschmeidigen Taktik Präsenz zu zeigen und die eigenen Interessen zu fördern.
Paul B. Kleiser


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