SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 16

Israels ‘Krieg gegen Terror‘

Hintergründe, Methoden, Argumente

Der 29.März, der Tag der israelischen Militäroffensive gegen die Städte und Flüchtlingslager des formell autonomen palästinensischen Westjordanlands, markiert nicht nur eine neue Phase der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern. Auch weltpolitisch nehmen Gewalt und Unsicherheit immer bedrohlichere Ausmaße an, zeigt der vermeintliche "Krieg gegen den Terror" seine verheerende, imperialistische Logik.
Mit der Anerkennung des Existenzrechts Israels in den Grenzen von 1967 bekam die PLO im Abkommen von Oslo 1993 eine eingeschränkte, unvollständige Autonomie über den Gazastreifen und das Westjordanland. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) blieb abhängig von Israels (und der USA) Gnaden.

Oslo und danach

Während Israel die weitere Umsetzung des Friedensplans, den militärischen Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Übertragung ziviler Rechte auf die PA immer mehr verschleppte und ihre jüdische Siedlungspolitik in Gaza und der Westbank sogar noch ausbaute, versank das territorial immer mehr einem Schweizer Käse gleichende autonome Palästina in die ökonomische, soziale und politische Depression.
Landwirtschaft und Kleinbetriebe sowie Wohnsiedlungen wurden von israelischer Seite systematisch zerstört, große Teile der Bevölkerung gettoisiert und um ihre Reisefreiheit innerhalb des autonomen Gebietes gebracht. Sicherheitsbelange und der gesamte Zugriff auf die Wasserreserven blieben in israelischer Hand. Während die Arbeitslosigkeit auf etwa 55% kletterte, leben fast zwei Drittel der Palästinenser mit 2 Dollar am Tag unter der Armutsschwelle. Der Lebensstandard ist seit 1993 um 40% gesunken.
Die israelische Politik der Nadelstiche fand ihre politische Entsprechung in den weiterhin ungeklärten Fragen der Stellung Jerusalems, des Rückkehrrechtes der im zumeist arabischen Ausland auf mittlerweile über vier Millionen angewachsenen palästinensischen Flüchtlinge sowie anderer Grenz- und Souveränitätsfragen.
Doch dies ist nicht die gesamte Tragödie Palästinas. Die aus dem Exil auf die Posten der Autonomiebehörde zurückgekehrten PLO-Kader — als militärische linksnationalistische Befreiungsorganisation nicht gerade eine Ausgeburt an Demokratie — entwickelten unter der unumstrittenen Führung Yasser Arafats deutliche Züge von Korruption und Willkürherrschaft. Ihre mal mehr mal weniger starke politische Kollaboration mit den Autonomiegebern tat ein übriges, die Legitimität der PA zu untergraben, und den Aufstieg der fundamentalistischen Islamisten zu begünstigen.
Während beide Entwicklungen in großen Teilen der palästinensischen Bevölkerung zu Enttäuschung und massivem Unmut über die erreichten Fortschritte des Friedensprozesses führte, nahm Arafat — hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität zum von Israel diktierten Friedensprozess einerseits, seiner eigenen Bevölkerung andererseits — die ungeklärten Fragen Ostjerusalem und Flüchtlinge zum Anlass, den Barak-Plan im Juli 2000 in Camp David abzulehnen.
Nachdem daraufhin der israelische Oppositionsführer Sharon, offensichtlich mit Duldung des israelischen Premiers Barak, den heiligen Tempelberg besuchte, um Israels Ansprüche auf Ostjerusalem zu demonstrieren, brach Ende September 2000 die sog. zweite Intifada aus.
Auf der einen Seite verfügten nun nennenswerte Teile der Palästinenser über mehr als nur Steine, vor allem über leichte Waffen und Sprengstoff, während die islamistischen Milizen durch ihren scheinbar erfolgreichen bewaffneten Kampf im Südlibanon und ihre parallel organisierte Sozialarbeit an Einfluss gewannen. Sie begannen, ihre Selbstmordtaktik zu perfektionieren und auszuweiten. Auf der anderen Seite reagierte die israelische Regierung mit der Verschärfung ihrer "Anti-Terror-Taktik" ("Schlägst du mich, schlage ich unmittelbar und um so härter zurück") und der zunehmenden prinzipiellen Infragestellung der Friedenswilligkeit und -fähigkeit auf Seiten der Palästinenser.
Nach Schätzung israelischer Menschenrechtsgruppen wurden vom September 2000 bis zum 30.März 2002 etwa 230 palästinensische Sicherheitskräfte und 940 Zivilisten von israelischem Militär getötet, etwa 70 Menschen bei gezielten "Exekutionen". Im gleichen Zeitraum wurden von Palästinensern etwa 120 israelische Sicherheitskräfte und etwa 250 israelische Zivilisten getötet. Schätzungen gehen davon, aus, dass allein im Jahr 2001 150000 Palästinenser ins Ausland flüchteten.
Eine Spirale der Gewalt, die Ende März, nachdem erstmals auch Selbstmordattentäter direkt auf israelischem Gebiet mordeten, zur Invasion Israels in die autonomen Städte und Flüchtlingsgebiete führte. Innerhalb weniger Wochen sind nun weitere Hunderte Menschen tot, Tausende verhaftet. Und die Hoffnung auf Waffenstillstand haben sich mit Powells "Vermittlungsreise" vorerst zerstoben. Der Rückzug ist ein Teilrückzug und rein taktischer Natur. Das nächste Selbstmordattentat wird bereits erwartet.

Kampf gegen "Infrastruktur des Terrors"?

Die israelische Regierung begründet ihre militärische Invasion damit, dass sie die "Infrastruktur des Terrors" zerschlagen möchte. So vertraut uns diese Argumentation seit dem 11.September 2001 ist, so fragwürdig bleibt sie: Was ist eine terroristische Infrastruktur? Kann man die mit Panzern, Raketen und Kampfjets bekämpfen? Kann man die bekämpfen, indem man Straßen und Wohnsiedlungen, Schulen, Krankenhäuser und Verwaltungsgebäude zerstört, indem man landwirtschaftliche Flächen und Ernten, sowie Geschäfte zerstört und ganze Wohngebiete von Wasser und Strom abhängt? Genau dies tut Israel und verhängt Ausgangssperren, behindert die Presse sowie die medizinische Versorgung der Angegriffenen.
Sie hält den palästinensischen Präsident Arafat nicht nur gefangen und isoliert, sie zerstört systematisch die zivile Infrastruktur der palästinensischen Autonomiebehörde und macht dabei, ernst zu nehmenden, aber schwer zu überprüfenden Berichten von UN-, EU- und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen zufolge, auch nicht vor willkürlichen Tötungen, Folter und Plünderungen halt.
Solcherart militärisches Eingreifen ist kein spontaner Akt der Vergeltung, keine, wie der Vorsitzende des deutschen Zentralrats der Juden Deutschlands, Paul Spiegel, nach der Invasion sagte, "angemessene und legitime" Reaktion auf die Anschlagsserie. Es handelt sich dabei vielmehr, wie es u.a. die Sprach- und Kulturwissenschaftlerin Tanya Reinhart aus Tel Aviv festgestellt hat (junge Welt, 8.1.02), "um einen wohlüberlegten Plan, an dem seit langem gearbeitet wird".
Im Oktober 2000, also unmittelbar nach Ausbruch der zweiten Intifada, wurde offensichtlich ein alter, aus dem Jahre 1996 stammender Operationsplan namens "Dornenfeld" aus der Schublade geholt und überarbeitet. Erklärtes Hauptziel ist die Zerschlagung der PA und die Ausschaltung Arafats, durch Vertreibung oder Tod. Die isolierende Ghettoisierung nennenswerter Bevölkerungsteile sowie ihre ökonomische, soziale und politische Demütigung gehört ebenso zu diesen Plänen wie die Zerstörung der palästinensischen Infrastruktur und die Tötung führender "Terroristen".
Die spätestens seit 1999 unumschränkt herrschende militärische Rechte um Barak und Sharon, habe, so Reinhart, die Gunst der Stunde genutzt, den seit einiger Zeit in Israel stattfindenden Richtungskampf innerhalb der herrschenden Klasse für sich zu entscheiden und der palästinensischen Gesellschaft ihre politische Führung und Institutionen zu nehmen. "Palästina wird als Thema von der internationalen Tagesordnung verschwinden", zitiert sie den ehemaligen Leiter des israelischen Geheimdienstes Mossad, Shabtai Shavit vom Dezember 2001.
Norbert Blüms Rede von einem "hemmungslosen Vernichtungskrieg" ist deswegen schlicht falsch: Es geht nicht um Vernichtung, sondern um Ausgrenzung und möglichst umfassende Vertreibung, und diese auf alte zionistische Traditionen zurückgreifende Politik ist trotz gezielter Eskalation durchaus nicht hemmungslos. Integraler Teil dieser israelischen Regierungspolitik ist die Festigung des nationalen zionistischen Konsenses innerhalb Israels bspw. durch die Benennung des ultraradikalen Ex-Premiers Netanyahu zum öffentlichkeitswirksamen Botschafter in den USA sowie die jüngst erfolgte Aufnahme ultrareaktionärer Parteien wie der die Vertreibung offen fordernden National-Religiösen Partei (NRP) in die herrschende Große Koalition.
Die mehrfach gespaltene Gesellschaft Palästinas dagegen wird durch die israelische Aggression erneut zusammengeschweißt. Um den Preis, dass die Islamisten sich im historisch-politischen Recht wähnen können und ihre Eskalation der barbarischen Selbstmordattentate als Politik "der" Palästinenser erscheint. Ja, es mag als einigermaßen sicher gelten, dass Arafat zu wenig tut.
Er ist unwillig, weil ihm selbst die islamischen Fundamentalisten als Teil des nationalen Befreiungskampfs gegen Israel erscheinen, weil sie — zumindest früher — ein nicht unwillkommenes Drohmittel gegen Sharon und andere waren und weil er für sein langjähriges Entgegenkommen vermeintlich zu wenig bekommen hat. Seit längerem offensichtlich ist jedoch auch, dass ihm mittlerweile die administrativen Voraussetzungen für das von ihm geforderte Durchgreifen fehlen.
Insofern tragen beide Seiten Verantwortung für den Furor. Es bleibt nichts desto trotz offensichtlich, wer in diesem Krieg der Treibende und wer der Getriebene, wer der übermächtige Aggressor ist und wer nicht. Da hat der liberale Obermufti Möllemann durchaus Recht. Wenn sich auch beide Seiten nichts geben, gleichgewichtig sind sie nicht und es bedarf einer massiven Verdrängungsleistung, um diese schlichte Wahrheit zu leugnen.

Die ganze Welt gegen Israel?

Israel rechtfertigt sich damit, dass es sich in seinem Existenzrecht grundlegend bedroht und von der ganzen Welt verlassen sieht. Bleibt man an der Oberfläche kleben, scheint dies zu stimmen. Die gemeinsame, Israels Aggression verurteilende Erklärung von UNO, EU, USA und Russland hat nochmals deutlich gemacht, dass Israel gegen den erklärten Willen aller Formen der Weltgemeinschaft agiert und entsprechend massivem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt ist — nicht erst seit neuestem, wie die Geschichte der Israel verurteilenden UNO-Resolutionen zeigt.
Sieht man jedoch genauer hin, so ist die Selbsteinschätzung Israels zumindest grob verzerrend. Dass der Staat Israel in seiner Existenz bedroht ist, ist fraglich.
Die arabischen Ölmonarchien standen noch nie so fest und tief im Netz der Bündnistreue zu den USA. Symbolhaft verbringt Ägyptens Staatschef Mubarak seine politische Energie mit dem Schreiben von flehenden Bittbriefen nach Washington. Nicht nur der saudische Friedensplan spricht hier eine deutliche Sprache. Mehr noch war es der arabische Gipfel Ende März, der mit seiner Weigerung, die Grußbotschaft des eingeschlossenen Arafat live auszustrahlen, was Arafat in ganz Arabien brüskieren und ihm bedeuten sollte, wie isoliert er mittlerweile ist. Die Ausnahmen Saddam Hussein und Bin Laden bestätigen hier nur die Regel.
Solcherart allein gelassen sind die Palästinenser selbst zu kaum mehr als zähem moralischen Widerstand einerseits und organisiertem Selbstmord andererseits fähig. Letzteres ist schrecklich genug, stellt aber den Staat Israel nicht in Frage.
Auch eine nennenswerte internationale Solidaritätsbewegung mit Palästina gibt es mindestens in den Metropolenländern nicht. Der Zerfall der revolutionären Linken in den 70er und 80er Jahren sowie die durch ihn bedingte Umwertung aller Werte wirkt nachhaltig. Die verbliebene Macht der arabischen Massenbewegungen ist schwer einzuschätzen. Sie scheint erneut zu wachsen, ist jedoch kaum vergleichbar mit den 70er Jahren.
Israel ist die mit Abstand stärkste Macht im Nahen Osten, immerhin eine Atommacht mit der vor Ort schlagkräftigsten und bestmotiviertesten Armee, sowie einen der besten Geheimdienste der Welt mit vielen palästinensischen Kollaborateuren. Und es hat die denkbar mächtigsten Verbündeten.
Denn trotz verbalem Druck stehen die USA voll und ganz hinter Israels "Krieg gegen den Terror". Wenn es denn eines Beweises bedurfte, so hat dies die "Vermittlungsreise" von US-Außenminister Powell gezeigt. Man verlangt verbal den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten, aber lässt der israelischen Regierung alle Zeit, die sich Sharon meint nehmen zu müssen. Was wie eine große Ohrfeige für den Außenminister der mächtigsten Nation der Welt aussah — das Scheitern von Powells "Vermittlungsreise" — ist keine, es ist die Vollstreckung der herrschenden US-Politik.
Auch die EU, naturgemäß etwas differenzierter und unabhängiger von Weltmachtinteressen, sowie abhängiger vom arabischen Öl und Handel, stellt Israels Politik nicht grundsätzlich in Frage und hat sich nach des deutschen Fischers Vermittlungsansinnen schnell zurückgezogen: Nicht ohne meinen großen Bruder! Deutschland hat zusammen mit Großbritannien gar die mit großer Mehrheit angenommene UN- Menschenrechtsresolution abgelehnt: es fehle die Distanzierung von palästinensischen Terrorakten — als ob sich dies nicht von selbst verstehe.
Die grundsätzliche Solidarität mit der politischen Führung Israels vermischt sich hier auf höchst brisante Weise mit der neuen Weltpolitik des "Kriegs gegen den Terror". Israel hat diese Logik ausdrücklich für sich reklamiert. Die USA, und, in deren Schlepptau, auch fast alle anderen, haben sie anerkannt. Der u.a. auch antisemitisch geführte Feldzug arabischer Fundamentalisten bekommt dadurch bei vielen "Verdammten dieser Erde" Legitimation. Die Lunte brennt — und der "aufgeklärte Westen" tut nichts, um sie zu löschen. Mehr noch, er hat sie so gezielt wie fahrlässig angezündet.
Und ebenso wie für den "Krieg gegen den Terror" steht und fällt auch im Krieg zwischen Israel und Palästina alles mit der Beantwortung der einen Frage: Können solche Methoden Frieden, Anerkennung und Sicherheit bringen?
Christoph Jünke


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