SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 19

Wie geht es ans Eingemachte?

Über einige Ambivalenzen praktischer Globalisierungskritik

Eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung innerhalb und mit der "globalisierungskritischen Bewegung" und ihrem zweifellos wichtigsten Teil hierzulande, das Netzwerk Attac, ist wichtig. Die Diskussionen des letzten Jahres und insbesondere nach Genua trugen zu Klärungsprozessen bei: Es ging hier vor allem um die Frage des Staates, den Stellenwert der Tobinsteuer-Forderung und — direkt um Genua herum — die Bedeutung von Militanz. Auch die vielfältigen anderen politischen Spektren, die sich mehr oder weniger nah beim ohnehin politisch-ideologischen keineswegs einheitlichen Netzwerk Attac verorten, profitieren von der Aufbruchstimmung. Kein Wunder: Sie haben ja zu diesem veränderten politischen Klima mit beigetragen und dazu, dass sich neoliberale Kräfte (egal, ob offen wirtschaftsliberaler, konservativer oder sozialdemokratischer Couleur) zunehmend rechtfertigen müssen.
Hier soll es um einige Ambivalenzen der entstehenden Bewegungen gehen, deren Auflösung übrigens gar nicht sinnvoll wäre, da es sich dabei um notwendige Suchbewegungen handelt.
Globalisierung und Politik
Der Begriff "Globalisierungskritik" ist ziemlich ungenau, wie der Globalisierungsbegriff selbst. Eines ist den jüngsten Protesten und anderen Auseinandersetzungen gelungen: Den neoliberalen Charakter "der" Globalisierung zu benennen, nämlich ein politisch-ökonomisches Projekt, das von dominanten Kräften in Kämpfen (teilweise sehr blutigen wie etwa in Chile) mehr oder weniger zu ihren Gunsten durchgesetzt wurde. Globalisierung bedeutet, auch das würden heute immer mehr Menschen unterschreiben, internationale und gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben, ist Herrschaft und Ausbeutung.
Sicher ist bislang, dass die Proteste eine durchaus in einem weiteren Spektrum geführte Debatte darüber angestoßen haben, was es denn überhaupt mit dieser Globalisierung auf sich hat. Hier ist auch weiterhin die Debatte um die Rolle des Staates zu führen. Wichtig wäre es m.E. aus dieser simplen Gegenüberstellung von Markt und Staat herauszukommen, die immer suggeriert, dass der Neoliberalismus hin zu mehr Markt tendiere, jetzt aber wieder mehr Staat gefordert werden müsse. "Solange es keine weitergehende Alternative gebe", wie viele sofort hinzufügen. Die gilt es aber zu entwickeln und nicht die Staatsillusion von sozialbewegter Seite noch zu nähren. Natürlich ist der Staat wichtig bspw. beim Thema Privatisierung der Rentenversicherung. Derzeit scheinen mir aber andere Aspekte angesichts der Medien- und Staatsfixierung unterbewertet zu werden. Im Gegensatz zu den Diskussionen in anderen Ländern wird die Macht des privaten Kapitals und seine Verflochtenheit mit staatlicher Politik hierzulande wenig thematisiert.
Zuspitzen ließe sich der genannte Punkt weniger in der Frage des "richtigen" Staatsverständnisses, sondern — weiter gefasst — im Politikbegriff. Dass heute Bewegungen und ein konfliktives Politikverständnis "von unten" wieder an Bedeutung gewinnen, ist sehr wichtig ("von oben" werden Konflikte ja, was oft vergessen wird, andauernd losgetreten um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verändern). Gleichzeitig richten sie ihre Forderungen an staatliche Akteure und reproduzieren so ein Politikverständnis, dass eben die Politiker Politik machen und der Rest Forderungen an sie stellt. Suggeriert wird, dass "da oben" auch etwas verändert werden muss (neben staatlicher Politik sind dann noch die Chefetagen der Konzerne gemeint).
Aber: Muss sich kritisch-emanzipative Politik zuvorderst darum kümmern, wie zusammen mit den herrschenden Klassen gesellschaftliche Ordnung hergestellt und staatlicher Gestaltungsspielraum erhöht wird? Zugespitzt formuliert (und keineswegs in heller Freude an Zusammenbrüchen wie derzeit in Argentinien): Geht es angesichts der Perversionen der neoliberalen Globalisierung nicht zunächst einmal um Unordnung?
Eine andere Gefahr sehe ich in der Privilegierung der internationalen Ebene als die wirklich/einzig bedeutsame von Politik heute. Unterfüttert wird das von postmodern-marxistischen Analysen wie in Empire von Michael Hardt und Toni Negri, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Die Abschätzigkeit gegenüber lokalen Auseinandersetzungen ist hier beeindruckend. Dem wäre entgegenzuhalten: "Lokale Fragen sind globale Fragen, die lokal gestellt werden", wie die Inderin Sudha Sundararama in Porto Alegre formulierte. Zumindest aber sollte ein genauerer Blick darauf geworfen werden, was denn das Lokale und was das Globale ausmacht.
Schließlich wird ein weiterer Aspekt häufig unterschätzt: Die Entwicklung eines rebellischen Bewusstseins (was inhaltlicher Fundierung nicht widerspricht) trägt überhaupt dazu bei, Gesellschaft auch in ihren Herrschaftsstrukturen langfristig zu verändern. Ich würde das als "Gärungsprozesse" bezeichnen — und diese müssen anders vorangetrieben werden als über "einfache Forderungen" und "klare Botschaften". Mit dem verengten Politikbegriff laufen Zusammenhänge wie Attac Gefahr, einer Frage über kurz oder lang nicht mehr ausweichen zu können: Warum gründen wir eigentlich keine Partei? Man darf auf die Diskussionen im kommenden Herbst gespannt sein, wenn Attac weiter an Dynamik gewinnt und die Grünen nicht mehr in den Bundestag kommen.
Theorie, Intellektuelle und Praxis
Wirklich erfrischend ist, dass theoretische Ansätze, die weiterhin meinen, "den" Weg wissenschaftlich untermauert vorgeben zu können, in der Minderheit sind. Dies zeigte Porto Alegre nochmals sehr deutlich. Das Verhältnis von Theorie und Praxis wie auch jenes von Intellektuellen und Bewegung sollte systematischer diskutiert werden. Viele Fragen sind gerade hier offen und Thomas Fritz von Attac (in Blätter des iz3w, Januar/Februar 2002) hat natürlich Recht, dass Bewegungen keine Entscheidung darüber treffen, ob nun die These von der fast vollständigen Abkopplung der Finanzsphäre von jener der Produktion zutreffe oder nicht.
Hinsichtlich theoretischer Fragen halte ich es in der nächsten Zeit für ungemein wichtig, neben der Destruktion der o.g. Staatsillusion auch den Ökonomiebegriff zu "entgrenzen". "Ökonomie" ist eben nicht der "harte Kern" gesellschaftlicher Entwicklung, sondern gesellschaftlich eingebettet und in vielfältige Verhältnisse eingelassen. Mit der Abspaltung sozialökologischer Fragen oder der Ausblendung der Geschlechterverhältnisse reproduziert die Bewegung einen bürgerlichen Ökonomiebegriff und suggeriert sich, nun im Zentrum der Auseinandersetzungen angekommen zu sein. Ich habe hier keine klare alternative Position (natürlich sind Eigentumsfragen entscheidend), das Problem sollte jedoch genauer umrissen und angegangen werden. Eine Perspektive könnte vielleicht sein, von der Kritik ökonomischer Globalisierung wieder zu einer umfassenden Herrschaftskritik zu gelangen.
Zusammengefasst: Skandalierung und Öffentlichkeit sind notwendig. Ein Kriterium schlechthin bleibt jedoch, inwieweit es der globalisierungskritischen und anderen Bewegungen gelingt, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Entwicklungen nicht nur in den Feuilletons anzugreifen, sondern auch materiell zu verändern. Ab wann werden Privatisierungen nicht nur zunehmend kritisiert, sondern wirklich unterlassen und rückgängig gemacht? Inwieweit scheinen in sozialen Praxen jenseits des Staates wirklich andere gesellschaftliche Verhältnisse auf?
Wenn sich die heterogenen Bewegungen, wie sie sich etwa jüngst in Porto Alegre repräsentierten, an ihrem eigenen Anspruch messen ("Eine andere Welt ist möglich!"), dann geht es politisch, sozioökonomisch und kulturell ans "Eingemachte". Werner Rätz (SoZ 25/01) hat Recht: Radikalität entwickelt sich aus sozialer Dynamik und nicht verbal.
Ulrich Brand (BUKO-Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft)


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