SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 24

Es gibt ein Leben vor der Rente

Gewerkschaftliche Kulturpolitik in Zeiten der New Economy

Überall in den Ländern der westlichen Welt sinkt der gewerkschaftliche Organisationsgrad. In den USA von 20 auf 14% in den letzten 20 Jahren. In England ist nur noch jeder fünfte Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert, in Frankreich jeder zehnte. Gleichzeitig geht der Anteil der Vollarbeitsplätze zurück, während Teilzeitjobs und hauseigene Tarifverträge massiv zunehmen. In den 70er Jahren arbeiteten noch 84% aller Beschäftigten in Normalarbeitsverträgen, heute sind es nur noch knapp über 60.
Die Unternehmen der "New Economy" tendieren zu "cooperative cultures", zu teamgeprägten Netzwerken, wo Mitarbeiter zu Mitunternehmern werden, z.B. über Aktienbeteiligungen. Die sog. Flip-Ökonomie bestimmt die Philosophie der neuen Märkte. Das ständige "Mergen", Verkaufen, Reichwerden und Bankrottgehen junger Unternehmen wird nicht als Zeichen von Instabilität gewertet, sondern als das eigentliche Wesen dieser neuen Economy. Das Kult-Blatt Fast-Economy bezeichnet diesen Prozess als den Built-to-Flip-Effekt.
Die Philosophen dieser schönen neuen Welt sprechen vom Kommenden, und damit sind wir auch beim Thema des "kulturellen Zeitalter", das die mechanischen Organisationen des Industriezeitalters auflöst in die Wachstumsbranchen kreativer Tätigkeiten wie Gestaltung, Design, Unterhaltung oder persönlicher Dienstleistungen wie Coaching, Schönheitspflege, Gesunderhaltung, Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung sowie Wissenschaft und Forschung.

Krise der Gewerkschaften

Wie reagieren nun die Gewerkschaften auf diese neuen Signale? Hier einige zugespitzte Beispiele: Da gibt es den Supergau wie im "Employment Contract Act" 1991 in Neuseeland, wo die Gewerkschaften sich auflösten und Gewerkschaftsfunktionäre anschließend mit Hilfe ihres Fachwissens als selbständige "Job- Agenten" auftraten.
Da gibt es den Typ "ADAC"-Gewerkschaft wie die APESMA in Australien, die ihren 25000 Mitgliedern einen Mix aus Arbeitslosenversicherung, Steuer- und Anlagenberatung bis hin zum Managementtraining bieten.
Oder die amerikanische AFL-CIO die die Marke "Cyber-Union" favorisiert. Da sollen alle Mitglieder "online" gehen, weil die Gewerkschaft der Meinung ist, dass nur so die Job- und Weiterbildungschancen verbessert werden können. Ihr Service "workingfamilies.com" bietet außerdem Hilfe bei der Versorgung älterer Familienmitglieder, Gesundheitstraining oder die Vermittlung von (man staune!) Haushaltshilfen.
Ich weiß, dass solche Meldungen aus der "neuen Welt" zu hektischer Betriebsamkeit in gewerkschaftlichen Abteilungen führen, die sich das Wörtchen "Mitgliederentwicklung" aufs Korridorschild geschrieben haben. Und doch bin ich der altbackenen Meinung, dass das Gerede um die neue Arbeitskultur der New Economy, wo es tendenziell nur noch Gewinner geben soll und die Gewerkschaften angeblich nur noch eine Chance haben, wenn sie von der Kampforganisation zum Dienstleistungsapparat mutieren, dass dieses Gerede so aufgeblasen und virtuell ist wie die New Economy selbst.
Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Knochen heute freiwilliger denn je und — ganz japanisch — mit einem frohen Lächeln auf den Lippen über den Markt tragen, wenn die Hierarchien verschwimmen und sich alle mit "du" anreden: Die Masse der Lohnabhängigen muss ihre Arbeitskraft verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, während eine, zwar immer größer werdende, Minderheit auf der anderen Seite von den erarbeiteten Gewinnen gut lebt.
Wenn es hart auf hart kommt, oder bei Reden zum 1.Mai, wird das auch mal von Gewerkschaftsführern so benannt, die tägliche und die pragmatisch-programmatische Politik aber will uns glauben machen, es gebe heute eher Klassenharmonie denn -widersprüche.
Dass mit der Aufgabe grundlegender Einsichten und Erkenntnisse über die politisch-ökonomischen Verhältnisse im kapitalistischen Staat auch die Legitimation, die Existenzfrage der Gewerkschaften selbst auf die Tagesordnung gesetzt wird, scheint den Protagonisten des sanften Ausgleichs wohl nicht bewusst zu sein.
Statt der Globalisierung des Kapitals die globale, grenzübergreifende Zusammenarbeit aller Lohnabhängigen entgegen zu stellen — was Karl Marx mit der Losung "Proletarier aller Länder, vereinigt euch" visionär angemahnt hatte, als der imperiale Triumphzug noch in den Kinderschuhen steckte —, ergeht man sich in Wohlverhaltenskonzepten. Dies vermag vielleicht, über kurze Zeit nationale Standards zu sichern. Den globalen und brutalen Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation wird man aber um so hilf- und machtloser gegenüber stehen.

Krise gewerkschaftlicher Kultur

Ich wurde angefragt, wie sieht ein politischer Liedermacher seine Zukunft bzw. die Zukunft der Gewerkschaften. Meine Zukunft als politischer Liedermacher entschied sich vor rund zehn Jahren, schleichend, fast unspektakulär. Mir ging es wie vielen aus unserer Zunft, denen die Stimme oder der Stift versagte, weil "das Einfache plötzlich so schwer zu machen war" (frei nach Brecht), weil die Verhältnisse plötzlich so kompliziert wurden, dass daraus keine Lieder mehr geformt werden konnten, kein Ton gefunden wurde, der den Veränderungen auch nur annähernd gerecht geworden wäre.
Hinzu kam, dass Anfang der 90er Jahre der "Markt" für politische Kunst einbrach — es gab keine Nachfrage mehr — die Lähmung war umfassend, erfasste die politische Linke in ihrer Gesamtheit, Gewerkschaften eingeschlossen. Heute gibt es ein neu gewonnenes Anliegen, das da heißt: die politische Kunst und die Erinnerung muss verteidigt werden, gegen die Attacken der neuen und alten Eliten, gegen ihre Versuche der Geschichtsumschreibungen.
Soviel zu mir und meinen letzten zehn Jahren — doch nun zu der wichtigeren Frage: Wie steht es mit der gewerkschaftlichen Kunst und Kultur heute? Es gibt bis heute kein mir bekanntes gewerkschaftliches Kulturkonzept. Den Gewerkschaften wurden zwar in ihrer Geschichte immer wieder künstlerische Ideen und Aktivitäten durch die politische Szene zugespielt. Aber sie waren meist nur Abnehmer und selten Initiatoren. Es gab kaum Dialoge, schon gar nicht über Kunst — dafür Anweisungen für den Rahmen, in dem die künstlerische Aktivität stattfinden sollte. Daher auch der schöne Begriff des "Rahmenprogramms". Wer aus dem Rahmen fiel, zu frech wurde, zum Beispiel den Einlader selbst hinterfragte, wurde nicht mehr angefragt — das war die Schere im Kopf.
Aber es gab auch Gewerkschafter und Gewerkschaften, die künstlerische und politische Prozesse unterstützten, förderten, die Anregungen einbrachten oder den Auftritt mit einer praktischen Lerneinheit verbanden. Wie etwa die Besichtigung der Hütte in Salzgitter, als wir mit der Revue "Es gibt ein Leben vor der Rente" unterwegs waren. Das war die Zeit der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche, der größten kulturpolitischen Kampagne der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Tatsache, die von den Gewerkschaften selbst nie so erkannt oder bewertet wurde.
Es ging um eine tarifpolitische Forderung, die aber das Leben in seiner Gesamtheit berührte, es ging um Alles, denn es ging um die Verfügungsgewalt über die Zeit. Es ging um Machtfragen, um die Verteilung von Reichtum und um die Frage, wer kann sich wann was leisten und warum nicht. Die 35-Stunden-Kampagne ging über einen längeren Zeitraum, und sie traf auf eine hochsensible, politisch-kulturelle Szene, die sich selbstbewusst, kreativ in die Kampagne einklinkte.
In dieser Zeit bildeten sich Chöre, Theatergruppen, Songgruppen. Einzelkünstler, Schauspieler, Interpreten und Schriftsteller meldeten sich zu Wort. Filmemacher und Fotografen begleiteten die Aktionen. Es gab einen allgemeinen Boom von Kulturseminaren. Gewerkschaftsmitglieder jeden Alters drängelten sich unter der Losung: "Leben, lieben, lachen, kämpfen".
Diese Losung entsprach zwar nicht dem offiziellen Duktus der Gewerkschaften, aber sie wurde übernommen. Der Funke sprang über, ein kreativer Dialog entstand, in dem Künstler und Funktionäre sich gegenseitig qualifizierten, gegenseitig forderten und förderten. Wie ernüchternd war der plötzliche Abbruch dieser fruchtbaren Beziehung, als das Ziel erreicht war, ein Etappenplan zur Einführung der 35-Stunden-Woche erzielt wurde.
Es gab kein Konzept über den Tag X hinaus, keine Rahmenbedingungen, die das kulturelle Feuerchen am Glimmen hätten halten können. Die gewerkschaftlich orientierte und kulturelle Bewegung lief sich tot.
Mein vorläufiges Resümee als politischer Liedermacher, das ich vor zehn Jahren noch einmal auf einen Tonträger gebannt habe, trägt den flapsigen Beisatz: "Ich war der Stehgeiger des modernen Klassenkampfs, ich meine, zumindest — ein Entertainer seiner Vision." Das mag selbstironisch klingen und ist auch so gemeint. Doch es ist auch die nüchterne Beschreibung des Verhältnisses zwischen meiner politisch- künstlerischen Arbeit und den jeweiligen Veranstaltern: Gewerkschaften, politische Organisationen, Kultur- oder Bürgerinitiativen.
Ein Dienstleistungsverhältnis, das sich bestimmte aus dem frei gewählten Anspruch, mit meiner Kunst der arbeitenden Bevölkerung "dienen", meine Kunst in den "Dienst ihrer Sache" stellen zu wollen. Alles Formulierungen, die damals weder exotisch noch weltfremd klangen, sondern Lebenshaltung und -einstellung einer Generation politisch aktiver Menschen war. Ausdruck eines Lebensgefühls, welches das gemeinsame Ziel über den Anspruch auf individuelle Verwirklichung stellte und gerade so der individuellen Entwicklung von Kreativität, Phantasie und persönlicher Lebensplanung Zielrichtung und Anschub gab.
Und doch kann der politische Liedermacher nur dort zu Hause sein, wo sich etwas bewegt. Seine Qualität entsteht aus der erlebten Dialektik gesellschaftlicher Prozesse, menschlichen Handelns — braucht den öffentlichen Auftritt, die Reaktionen des Publikums, die erlebte Auseinandersetzung. Nur so gibt es eine Weiterentwicklung.
Wo Dumpfheit, Rückzug, Stillstand, Etikette oder elitäres Gehabe herrschen, wo sich Koalitionen breit machen, die Konflikte verschleiern und nicht austragen, wo der schnelle Kompromiss zur Leitlinie wird, dort wird auch der Agitator müde. Wo keine Schlachten ausgetragen werden, braucht es auch keine Schlachtgesänge.
Will er nicht komisch werden, tritt er zurück, überlässt, da er nichts anderes kann bzw. machen will, anderen das Podium. z.B. den Comedians, den Zynikern, den Quacksalbern des Geistes, die auch in diesen Zeiten ihr Publikum finden, weil sie alles ansprechen ohne etwas einzufordern (außer der Kohle natürlich). Wenn wir nichts mehr zu lachen haben, lachen wir doch lieber über andere — das ist immer noch besser, als in Depression zu versinken.

Jugendarbeit und Kultur

Die Gewerkschaftsjugend hat mit ihren mobilisierenden und kreativen Großaktionen gegen Jugendarbeitslosigkeit und für qualifizierte Ausbildung gezeigt, dass es auch heute noch möglich ist, künstlerisches Engagement sowohl von Kollegen- und Kolleginnenseite wie von professionellen Künstlern zu bündeln, Menschen in Aktion zu bringen, zusammenzuführen, Erlebnisse zu organisieren.
Das gewerkschaftliche Jugendcamp in Markelfingen am Bodensee hat die Biografien tausender Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen entscheidend geprägt. Generationen von Jugendlichen haben in diesem einfachen Zeltlager am Rande des Bodensees nicht nur billige Ferien und Freizeiten erlebt, sie wurden auch mit vielfältigen Formen kritischer Kunst konfrontiert.
Markelfingen wurde zum Symbol dafür, dass gewerkschaftliche Aktivität Kult werden kann, wenn sie am Puls der Zeit betrieben wird. Modern in den Formen und Angeboten. Anders und anspruchsvoll in den Themen. Und Markelfingen ist ein Beispiel, dass sich politische Aktivitäten und Spaß nicht ausschließen, sondern fast zwangsläufig bedingen.
Zur Entwicklung eines bewussten, mutigen, wenn nötig auch listigen gewerkschaftlichen Verhaltens gehören viele Facetten. Bei dieser Entwicklung spielt die Auseinandersetzung mit künstlerischen Prozessen, Denkweisen und künstlerischem Handeln eine hervorgehobene Rolle, auch bei der Entwicklung von Haltung und Toleranz.
Die Unternehmer haben das mittlerweile erkannt, graben uns den Boden weg bei dem Erreichen der Herze und Hirne. Für junge freie Theatergruppen gibt es einen wachsenden Markt betrieblicher Auftritte. Diese jungen Künstler werden mit ihrer Fantasie, ihrer Kreativität eingeladen und gut bezahlt, um betriebliche Themen im Interesse des Unternehmens aufzuarbeiten — mit Methoden, die das "social theatre" der 70er und 80er Jahre entwickelt hatte. So ist der Kapitalismus, wenn wir es zulassen.
Das gemeinsame Erlebnis auf einer Kulturveranstaltung, das gemeinsame Erarbeiten von Kunst/Kultur hat schon manches politische Seminar überflüssig gemacht. Der persönliche Kontakt, die Information von Mensch zu Mensch, ist durch keine Hotline zu ersetzen. Künstler als Ideengeber, Anreißer, Skizzierer erfühlen und füllen Räume der menschlichen Wahrnehmung, die sonst nicht erreicht werden. Eine Kulturveranstaltung, die sich erfrischend zwischen die Monotonie des Alltags schiebt, schafft Identifikation, Verbundenheit, Haltungen.
Wer seine kämpferische politische Kultur aufgibt, der gibt sich als politischen Faktor selbst auf. Das ist wie im Sport: Wo die Leidenschaft fehlt, bleiben die Zuschauer weg. "Wir wollen euch kämpfen sehn", gilt nicht nur auf dem Fußballplatz, es ist das Überlebensprinzip der Unterprivilegierten gegenüber den Privilegierten.
Ich denke, wenn wir diese Lehre beherzigen, muss uns um die Zukunft der Gewerkschaften auch unter neuen und veränderten Bedingungen nicht bange sein. Und dann, dessen bin ich sicher, wird auch eine politische Kunst wieder auf unserer, an eurer Seite stehen.
Bernd Köhler

Bernd Köhler wurde in den 70er und 80er Jahren durch seine Auftritte als politischer Liedermacher unter dem Spitznamen "Schlauch" bundesweit bekannt. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag vor dem SalzgitterForum der IG Metall, Anfang 2001.



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