SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 4

Die Antisemitismusfalle

Karsli, Möllemann und der Zustand der Republik

von Christoph Jünke

Das qualitativ Neue am Fall Karsli—Möllemann ist nicht, dass sich Politiker im Ton vergreifen, falsche Vergleiche ziehen oder antisemitische Klischees bedienen. Das qualitativ Neue ist hierbei die aggressive Vehemenz und politische Einmütigkeit, mit der nicht nur Karsli und Möllemann, sondern gleich deren ganze Partei zur Unperson der Republik erklärt wurde. Karsli ein bundesdeutscher Outlaw und Möllemann allein gegen alle, die FDP nicht mal mehr regierungsfähig — kurios, aber wahr. Selten nahm die in Deutschland notorische Große Koalition solche Breite an. Eine vermeintlich auf der kommunikativen Vernunft gegründete Republik argumentiert nicht mehr, sondern spricht moralische Tabus aus. Doch wer einzig mit moralischer Empörung reagiert statt mit argumentativer Auseinandersetzung, der muss sich auch die Frage nach der eigenen Moral gefallen lassen.
In Israel/Palästina herrscht Krieg und wie häufig tragen beide Seiten Verantwortung dafür. Es bleibt nichtsdestotrotz offensichtlich, wer in diesem Krieg der Treibende und wer der Getriebene, wer der übermächtige Aggressor ist und wer nicht. Wenn es einen deutschen Politiker gegeben hat, der dies in den letzten Wochen klar und deutlich gesagt hat, war es Möllemann und er hat damit vollkommen Recht. Mit der Diskussion über seine Motive wird dabei gekonnt die Diskussion um die Sache verdrängt. Auch darin hat der neoliberale Obermufti Recht. Das hat ihn zur Zielscheibe der Hetzjagd gemacht, nicht seine schützende Hand über Jamal Karsli.
Mindestens in den ersten Wochen der "Diskussion" waren die Antisemitismusvorwürfe kaum mehr als Kaffeesatzleserei. Für jenen Präsidenten des Zentralrats der deutschen Juden, Paul Spiegel, der die israelische Invasion in die Westbank offen als "legitime und angemessene Reaktion" rechtfertigte, war er, gerade weil er Israel des Staatsterrorismus bezichtigte, ein Antisemit — zur gleichen Zeit setzte die israelische Armee gezielt ihre "Exekution" führender "Terroristen" fort. Spiegels Vize Michel Friedman sprach ebenfalls bemerkenswert früh vom "Antisemitismus im Stürmerjargon". Dass der solcherart in die Ecke gedrängte Möllemann konterte, die "Gehässigkeiten" und "unverschämten Unterstellungen" Friedmans schürten "den Unmut gegen die Zielgruppe, die er zu vertreten vorgibt" mag zeigen, dass auch Möllemann, wie vor ihm Karsli, mit antisemitischen Klischees zu spielen vermag. Zum braunen Antisemiten stempelt ihn dies jedoch noch nicht.
Als die "Grande Dame" des FDP-Liberalismus, Hildegard Hamm-Brücher, in ihrem öffentlich gemachten Drohbrief über Möllemann herfiel, sprach sie typischerweise vom "auf beiden Seiten grausam geführten Kampf für und gegen das Existenzrecht Israels". Dieser Krieg, den einen Kampf zu nennen eine Beschönigung ist, wird aber nicht nur grausam, sondern auch ungleich geführt — nicht um das Existenzrecht Israels, sondern um das der Palästinenser.
Nach dem Scheitern der diversen Friedensinitiativen, nach der bedingungslosen Parteinahme der USA für die israelische Regierung und der Blamage der UN hatten Sharon und Co. freie Bahn. Weitere Siedlungen sind bereits angekündigt und die israelische Regierungspartei Likud hat die praktizierte Politik der Vertreibung programmatisch festgeklopft.
Es bedarf deswegen spätestens seit Anfang Mai einer massiven Verdrängungsleistung, um den schmutzigen Krieg Israels weiter zu rechtfertigen. Einer solch massiven Verdrängungsleistung, dass die immer notwendigere Infragestellung dieser Verdrängung — und das war Möllemanns "Sünde" — massive Pogromstimmungen gegen den Sünder freizusetzen vermag. Dies und den deutschen Kontext eines auf den Hund gekommenen Wahlkampfs können bei der Debatte nur die ausblenden, die Antisemitismus nicht bekämpfen, sondern zum Zwecke der Herrschaftssicherung tabuisieren wollen.
Das Lehrstück Karsli—Möllemann—Spiegel—Friedman und Co. zeigt, in welche herrschaftskonforme Sackgasse ein beliebig aufgeblähter Antisemitismusbegriff die Diskussionskultur einer Gesellschaft treiben kann. Ob der neoliberale Möllemann einen Ausweg aus dieser Sackgasse weisen kann, ist mehr als fraglich. Andere sind leider nicht in Sicht — zurzeit. Auch dies ist eine Folge des (inneren) "Kriegs gegen den Terror".


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