SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 9

Psychologisch wichtig

Der IG-Metall-Streik hat sich durchaus gelohnt

Nach einer breiten Warnstreikwelle und nach einem rund zehntägigen Streik in Baden-Württemberg — der Streik in Berlin-Brandenburg hatte gerade begonnen — wurde ein Tarifabschluss von 4% für das laufende Jahr und eine Tariferhöhung von 3,1% für 2003 erreicht. Viele aktive Metallerinnen und Metaller meinen, dass "mehr drin" war. Einige argumentieren, dass ein längerer Streik nicht nur für ein besseres Ergebnis wichtig gewesen wäre, sondern auch dafür, dass der Erosionsprozess bei den Mitgliederzahlen gebremst und eine neue Aktivierung der Basis erreicht wird. Der Tenor "Gutes Ergebnis, aber es war noch mehr drin", sagt allerdings bereits, dass der Arbeitskampf und sein (bisheriges) Ergebnis als Erfolg angesehen wird.
Dafür gibt es gute Gründe:
• Ein 4%-Ergebnis hat die psychologisch wichtige "4" vor dem Komma, was die Unternehmer zuvor als "wirtschaftlich untragbar" strikt abgelehnt hatten.
• Die 3,1% Lohnerhöhung 2003 (ohne Kampfmaßnahmen) liegt über den Abschlüssen der letzten Jahre.
• Die zweijährige, lange Laufzeit könnte sich allerdings noch als Pferdefuß erweisen, zumal unklar ist, wie sich die Inflation — Stichwort: Euro/Teuro — entwickelt. Allerdings ist das "zweijährig" nur formell, in Bezug auf das Auslaufen des letzten Tarifvertrags, gemeint: die Laufzeit des neuen Abschlusses endet faktisch in gut eineinhalb Jahren, am 31.12.2003.
• Insgesamt dürfte das Ergebnis dazu beitragen, dass in den noch ausstehenden Tarifverhandlungen Ergebnisse erzielt werden, die über 3% liegen und damit zumindest die Inflationsrate ausgleichen. Auch dies wäre gegenüber den vorausgegangenen Jahren ein Fortschritt.
Immerhin war es in Baden-Württemberg, das früher einmal "berühmt" für seine reiche Streiktradition war, der erste Streik seit 18 Jahren. Bundesweit handelte es sich um den ersten Streik seit sieben Jahren. Nach der Wende gab es insgesamt erst sehr wenige Arbeitskämpfe. In Berlin und Brandenburg wurde zum ersten Mal seit Beginn der Nazidiktatur gestreikt — nicht nur gab es in der DDR faktisch ein Streikverbot, in West- Berlin streikten die DGB-Gewerkschaften nie — mit Rücksichtnahme auf den "besonderen Status" der Halbstadt.
Die Stimmung in den Betrieben im Streikgebiet war während des Streiks kämpferisch. Die ersten Streikaufrufe wurden im Arbeiterbereich nahezu zu 100% befolgt. Auch viele Angestellte, die einen erheblich niedrigeren Organisationsgrad aufweisen, beteiligten sich an den Arbeitskampfmaßnahmen. Eine Frage stellte sich jedoch bereits nach wenigen Streiktagen: Wie lange kann ein solcher neuartiger "Wechselstreik" durchgeführt werden, ohne dass es zu Unmut an der Basis kommt? Die Forderung nach einer Ausweitung der Streiks stand bereits in der ersten Streikwoche auf der Tagesordnung. Auf einer Streikversammlung in Mannheim am 7.5. bei Alstom Power gab es den stärksten Applaus, als der Betriebsratsvorsitzende Udo Belz berichtete, dass Belegschaftsvertreter von anderen Betrieben des Unternehmens Alstom Power von außerhalb des Streikgebiets ihre Bereitschaft zu Warnstreiks in Solidarität mit den Streikenden übermittelt hätten. Diese Stimmung dürfte eine Rolle im Unternehmerlager gespielt haben, als dieses doch noch Kurs auf eine relativ schnelle Einigung nahm und die "4" vor dem Komma akzeptierte. Die weitgehend geschlossene Streikfront und die mögliche Ausweitung der Streiks am Ende der zweiten Woche und nach der Pfingstunterbrechung hat diese Einsicht befördert.
War der Streik damit also unnötig, da es doch nur "um ein paar Zehntel-Prozent-Punkte" ging? Fühlen sich gar "die Metaller verarscht", wie die junge Welt titelte? Sind gar "die Industriellen zufrieden", so dasselbe Blatt?
Solche Einschätzungen stellen eine Mixtur von Uninformiertheit und Wunschdenken dar. Die offiziellen Äußerungen aus dem Unternehmerlager sind eindeutig ablehnend. BDI-Präsident Rogowski sagte: "Dieses Ergebnis wird uns weiter zurückwerfen in unserer Wettbewerbsfähigkeit." Der Präsident der Industrie- und Handelskammer (DIHT), Ludwig Georg Braun, meinte, die vereinbarten Zuwächse seien "eindeutig zu hoch". Und Otmar Zwiebelhofer, der Verhandlungsführer für den regionalen Metallverband Südwestmetall erklärte: "Für eine beschäftigungsfreundliche Tarifpolitik ist mit rund einem Prozentpunkt überzogen worden."
Natürlich gehört hier Klappern zum Geschäft und die Rogowski-Äußerung, wonach der Abschluss "eine Katastrophe" sei, ist natürlich einem solchen Klappern zuzurechnen. Doch daraus das Gegenteil zu machen, zu behaupten, die "Industriellen" seien "zufrieden" ist schlicht unseriös. Das dürfte sich auch für die Gegenseite zeigen. Die Masse der Beschäftigten scheint das Ergebnis als ein Erfolg zu werten. Richtig ist, dass die Aktiven und die kämpferischen Kolleginnen und Kollegen wissen, dass "mehr drin" war und — zu Recht — betrübt darüber sind, dass die Mobilisierung und der Streik nicht länger dauerten. Tom Adler, Betriebsrat bei DaimlerChrysler: "Der Abschluss bleibt weit hinter dem zurück, was bei der guten Mobilisierung möglich gewesen wäre."
Dass dieses Potenzial nicht ausgeschöpft wurde, hängt natürlich mit dem Charakter der Gewerkschaftsführung zusammen. Diese wollte zwar einerseits etwas tun, um den Mitgliederverlusten zu begegnen. Andererseits ist sie natürlich eng mit der SPD- Führung verbunden und mindestens über diesen Umweg Teil des kapitalistischen Systems.
Einzelne Gewerkschaftsführer — so IG-Metall-Chef Zwickel — sind darüber hinaus möglicherweise persönlich erpressbar (ähnlich wie zuvor Franz Steinkühler als IG-Metall-Chef Anfang der 1990er Jahre), weil sie in undurchsichtige Geschäfte im Top-Management großer Konzerne verwickelt sind. So war Zwickel als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Mannesmann AG daran beteiligt, dass an die damaligen Mannesmann-Manager vor der Übergabe des Konzerns an den britischen Aufkäufer Vodafone Millionenabfindungen ausgezahlt wurden. In diesem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft noch.
Eine entscheidende Lehre aus der Geschichte der Arbeiterbewegung wurde mit diesem 2002er Streik neu bestätigt: Höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen oder eine niedrigere Arbeitslosigkeit kann den Unternehmern nur durch massive Kampfmaßnahmen abgerungen werden. Erstmals seit rund einem Jahrzehnt gelang es, einen Lohnabschluss zu erreichen, der deutlich über der (offiziellen) Inflationsrate liegt. Darüber muss man nicht in Jubel ausbrechen, eben weil "mehr drin" war und weil an der Basis die Stimmung für einen längeren und ausgedehnteren Kampf vorhanden war.
Andererseits sollte auch bedacht werden, dass die deutsche Arbeiterbewegung das Kämpfen erst noch oder wieder lernen muss und dass auch vor diesem Hintergrund solche Erfahrungen wichtig sind.
Winfried Wolf


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