SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 9

Schadet Streiken der Konjunktur?

von Winfried Wolf

Eines der ideologischen Killerargumente gegen den Streik lautete, dieser schade der Konjunktur, dem Aufschwung, koste gar neue Arbeitsplätze. Tatsächlich ist zu fragen: Wer ist "schuld" an mieser Konjunktur und hoher Erwerbslosigkeit?
Seit Anfang der 1990er Jahre gab es "moderate" Tarifabschlüsse. Gleichzeitig lagen in den Jahren 1993—2001 die Wachstumsraten immer deutlich im "grünen Bereich" — bei durchschnittlich mehr als 2%. Die Reallöhne sanken im Zeitraum 1993—2000 um 6,5%. Die ausgewiesenen Nettogewinne der Kapitalgesellschaften stiegen jedoch um 85% und die Bezüge der Vorstände der Kapitalgesellschaften erhöhten sich im Zeitraum 1991—2001 gar um mehr als 90%.
All dies waren Rahmenbedingungen, die nach den "Theorien" der "neutralen Wissenschaft" zu einem veritablen Jobwunder führen müssten. Doch das Gegenteil trat ein: Seit 1992 stieg die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenzahl um mehr als eine Million — von 3 Millionen 1992 auf 4,2 Millionen im Jahresdurchschnitt 1998. In den ersten zwei "Schröder-Jahren", 1999 und 2000, ging sie leicht zurück — auf 3,8 Millionen 2000. Seit 2001 steigt sie wieder. 2002 werden erneut 4 Millionen im Jahresdurchschnitt erreicht. Die Werte für April 2002 brachten sogar nochmals einen Anstieg — trotz der eigentlich wirkenden "saisonalen" Auftriebskräfte (Frühjahr) und trotz der vielfachen Beteuerungen, es gebe Aufschwungstendenzen. Im April jedoch gab es noch keine Streiks.
Im übrigen sind die "neuen Bundesländer" selbstverständlich der schlagende Beweis dafür, dass die hier angeführte "Wirtschaftstheorie" nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat: Das reale Netto-Lohn- und Gehaltsniveau liegt in Ostdeutschland weiterhin gut um ein Viertel unter dem in Westdeutschland; gearbeitet wird zwei Stunden länger. Also müsste es dort ein Jobwunder geben. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur liegt die Arbeitslosenquote im Osten deutlich höher als im Westen. Diese Kluft hat sich seit Beginn der Regierung Schröder auch noch vergrößert — von rund 1:2 im Jahr 1998 auf 1:2,2 im ersten Quartal von 2002.
Auch die aktuellen Rezessionstendenzen haben nichts mit einem "beschäftigungsfeindlichen Kurs" der Gewerkschaften zu tun. Sie sind in erster Linie Ergebnis des internationalen Konjunkturzyklus, der seit Sommer 2001 (bereits vor dem 11.9. 2001) von rezessiven Tendenzen geprägt ist. Wenn demnächst auch die deutschen Exporte zurückgehen sollten, dann hat dies mit der aktuellen Aufwertung des Euro und mit dem Handelskrieg zwischen der US-Regierung und der EU zu tun.
In den vergangenen zwölf Jahren taten die Gewerkschaften fast alles, was die offiziell vorherrschende Wirtschaftswissenschaft und die sog. "angebotsorientierte Wirtschaftstheorie" von ihnen verlangten. Sie haben dafür nicht nur nichts bekommen. Die soziale Kluft im Lande wurde vielmehr größer. Die Arbeitslosigkeit stieg an. Die Gewerkschaften wurden massiv geschwächt und verloren Hunderttausende Mitglieder.
Wenn die Gewerkschaften in diesem Streik mehr Reallohn forderten und wenn sie dies in den anderen, noch laufenden Tarifrunden tun, dann verlangen sie im Grunde nur eine bescheidene Rückverteilung von oben nach unten. Dass sie damit einen Aufschwung abwürgen würden, ist absurd. Schließlich stellen höhere Löhne und Gehälter zwar beim einzelnen Unternehmen einen Kostenfaktor dar. Doch sie erhöhen zugleich die Massenkaufkraft. Und ein Faktor für die aktuelle schlechte Konjunktur sind auch die gesunkenen Reallöhne, also die zurückbleibende Nachfrage.


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