SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 11

Geopolitik und Antiterrorkampf

Peter Gowan über die globalen Strategien der USA

Die Diskussion um den "Krieg gegen den Terror" hat die Frage nach den geopolitischen Interessen der USA erneut ins Zentrum gerückt. Peter Gowan hat mit seinem Buch "The Global Gamble. America‘s Faustian Bid for World Domination" (London 2000) einen der wichtigsten internationalen Beiträge zu dieser Diskussion geleistet. Das folgende Interview aktualisiert seine Thesen.

Was steckt hinter den Zielen der USA in ihrem "Krieg gegen den Terrorismus"?
Die erklärten Ziele sind natürlich die Zerschlagung der "Schurkenstaaten" und der "Terroristen". Bei drei der vier von den USA hauptsächlich ins Visier genommenen Organisationen handelt es sich um Befreiungsbewegungen in Verbindung mit dem Kampf der Palästinenser. Was allerdings die wirklichen Ziele anbetrifft, würde ich sagen, dass die USA immer noch das machen, was sie während der ganzen 90er Jahre versucht haben: eine endgültige Antwort auf die Frage zu geben: "Wer hat den Kalten Krieg gewonnen?" Und dies drückt sich heute in dem Versuch aus, über den eurasischen Kontinent die Vorherrschaft zu erobern.
Man könnte es als ein Projekt bezeichnen, die USA zu einer souveränen Weltmacht zu formen — in dem Sinne der deutsche Politikwissenschaftler und Staatsrechtler Carl Schmitt den Begriff "Souveränität" benutzte. Schmitt definierte die Mächte als souverän, die erstens bestimmen könnten, wer Freund und wer Feind ist, die zweitens die Definitionsmacht bezüglich des Notfalls, des Ausnahmezustands hätten und die drittens in der Lage wären, die Spielregeln fest zu legen, also willkürlich die Gesetze zu ändern. Das ist in der Tat das, was die USA versuchen: Sich selbst zur souveränen Weltmacht zu erheben.
Diesem Konzept der USA stehen zwei andere Grundsatzpositionen gegenüber, wie der weltweite Kapitalismus reguliert werden sollte. Die europäischen Mächte verfolgen das Konzept der "multilateralen Weltordnung", der Herrschaft der "internationalen Gemeinschaft". Das bedeutet eine gemeinsame Führerrolle der Gruppe der sieben führenden Industriestaaten (G7), denen dann die gesamte OECD folgt. Dieser Ansatz, der dem entgegensteht, was in Europa der US-amerikanische "Unilateralismus" bezeichnet wird, bedeutet in Wahrheit die Zerstörung der Souveränität der Staaten. Das heißt, die G7-Staaten haben das Recht, zu intervenieren, wenn ihnen die Politik eines einzelnen Staates nicht gefällt — so wie gerade im Falle Zimbabwes. Das Problem für die europäischen Regierungen ist, dass diese Strategie in den USA als konkurrierend zur eigenen angesehen wird, wenn nicht sogar als deren Hauptkonkurrent. Das ist der Grund, warum die Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, Condoleeza Rice, erklärt: "So etwas wie eine internationale Gemeinschaft gibt es nicht."
Es gibt noch die dritte Konzeption, dass der UN-Sicherheitsrat und die UN-Charta die Weltordnung zu bestimmen hätten. Diese Position wird von China, Russland, im gewissen Ausmaß von Frankreich und anderen mächtigen Staaten, wie Indien, eingenommen. Gegenwärtig versucht der russische Präsident Putin, dieses Lager wieder zu verlassen und sich dem G7-Flügel anzuschließen. Diese Konzeption einer Weltordnung darf nicht unterschätzt werden, weil sie nicht nur von Staatsregierungen unterstützt wird, sondern im Bewusstsein von Milliarden Menschen verankert ist. Ich würde sagen, in bestimmter Weise ist die Macht und Ausstrahlung dieser weltpolitischen Konzeption auch an der Schlagkraft der palästinensischen Intifada zu erkennen.

Es ist offensichtlich klar, wer den Kalten Krieg gewonnen hat, die USA sind die Sieger. Die wirkliche Frage ist, warum müssen die USA jetzt zu militärischen Mitteln greifen, um ihre Hegemonie abzusichern?
Das einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass der Kapitalismus den Kalten Krieg gewonnen hat. Das war ein gewaltiger ideologischer und politischer Sieg. Und es ist wahr, dass die wichtigsten kapitalistischen Mächte in den 90er Jahren große Anstrengungen unternahmen, diesen Sieg zu abzusichern, insbesondere durch Schläge gegen die Arbeiterklasse. Und es ist ebenso wahr, dass sich die NATO-Mächte gemeinsam bemühten, ihre Einflusszone auszudehnen und die politische und ökonomische Vorherrschaft in den Teilen der Welt zu etablieren, zu denen sie während des Kalten Krieges keinen Zugang hatten. Aber das Ausmaß dieser Gemeinsamkeit der großen kapitalistischen Mächte war sehr begrenzt.
Die innerimperialistische Konkurrenz ist weiterhin sehr heftig, vor allem zwischen den USA und Europa. Die USA sehen sich zu militärischen und politischen Muskelspielen genötigt, um diese wirtschaftliche Schlacht auf eine Weise zu gewinnen, die mittels der Macht der Konzerne allein nicht möglich ist.
Die Leute, die eine ideologische Definition der Globalisierung haben, glauben, dass es bereits eine mehr oder weniger vereinigte Weltwirtschaft gebe, die unabhängig von staatlichen Regelungen und Einmischung ist und überwiegend durch die multinationalen Konzerne und nicht durch Staaten bestimmt wird. Wenn man ein solches Bild hat, dann könnte in der Tat gesagt werden: was soll dieses ganze Theater, warum können sie ihr ökonomisches Spiel nicht fortsetzen und auf all diese Kriege verzichten?
Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass die "Gesetze des freien Marktes", die von den führenden kapitalistischen Mächten akzeptiert sind, ziemlich beschränkt und zerbrechlich sind.
Die Ära des Neoliberalismus fiel zusammen mit heftigen Angriffen der USA gegen den offenen Weltmarkt, was prompt zu Abwehrreaktionen in Europa — mit der Bildung der Eurozone — und in Japan führte. In Wirklichkeit gibt es eine klare Regionalisierung des Kapitals, bei der jede Region — Nordamerika, Europa und Ostasien — versucht, ihre eigenen Gebiete zu verteidigen und die Barrieren zu den Märkten der anderen zu überspringen. Aber es ist immer noch so, dass 90% dessen, was innerhalb der jeweiligen Region konsumiert wird, auch dort produziert wurde, und ein vergleichbares Bild ergibt sich auch in den Eigentumsverhältnissen.
In diese Analyse muss jetzt noch der Untergang des Sowjetblocks und der Aufstieg Chinas eingefügt werden. Der Kollaps der Sowjetunion und ihrer Verbündeten ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der politischen Basis der US-amerikanischen Schutzherrschaft über Europa. Die französische Entscheidung, auf die neue US-amerikanische Herausforderung mit der Entwicklung eines Regionalismus mit Deutschland zu antworten, führte zu dem Versuch, das Gebiet politisch abzuriegeln und sich nach Zentral- und Osteuropa auszudehnen.
Die USA bemühten sich daraufhin, ein System der bilateralen Beziehungen mit allen wichtigen europäischen Staaten aufzubauen, die zentralen europäischen Institutionen zu übergehen und ihre "Schutzherrschaft" über Europa dadurch zu erneuern, dass die NATO aufgewertet und die Abgrenzung zu Russland verschärft sowie bei der Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen die Rolle des Türwächters gespielt wurde. Aber diese Anstrengungen erzielten keinen umfassenden Erfolg.
In Ostasien wollten die USA eine neutrale Macht gegenüber den Streitereien zwischen China, Japan und Korea sein. Aber ihr Hauptziel war, deren Volkswirtschaften aufzuknacken, so dass der US-amerikanische Kapitalismus dort ungehindert eindringen kann. Sie waren im Zuge der asiatischen Wirtschaftskrise von 1997 einigermaßen erfolgreich, die südkoreanische Wirtschaft für sich zu öffnen. Aber der Preis dafür war der katastrophale Ausverkauf der indonesischen Wirtschaft, was für die USA zum Desaster wird, angesichts der Bedeutung Indonesiens für das US-amerikanische System von politischen Bündnissen. Nach der Finanzkrise von 1997 entwickelten sich starke Regionalisierungstendenzen in Ostasien mit neuen, festeren Beziehungen zwischen Japan und China.
All das schafft ein potenzielles Katastrophenszenario für die USA. Was ist, wenn die europäische Integration weiterhin den Einfluss der USA in Europa zurückdrängt und gleichzeitig die Ressourcen von Russland einbindet? Was ist, wenn parallel dazu eine starke politische und wirtschaftliche Achse in Ostasien entsteht? Und was passiert, wenn diese zwei alternativen Zentren der politischen und ökonomischen Macht ihre Verbindungen gegen die USA ausbauen? Das würde bedeuten, dass die USA Eurasien verlieren.
Das ist natürlich alles nicht sicher, aber es ist möglich. Die Frage, die sich dann stellt, ist, wie werden die USA ihren gigantischen Militärapparat nutzen, um diesen Prozess zu stören, die Staaten enger an die USA zu ketten, den eurasischen Kontinent zu dominieren und potenzielle Konkurrenzbündnisse zu behindern? Zumal der groteske Militärgigant nach dem Abtreten der Sowjetunion ohne neue Feinde ist und riskiert, überflüssig zu werden. Aber er ist der stärkste Trumpf der USA — deshalb gibt es den "Krieg gegen den Terrorismus".

Was sind die wichtigsten Hindernisse für einen Erfolg der USA in ihrer neuen Offensive?
Die außenpolitische Elite der USA ist zunächst von der Lage im indischen Subkontinent und der Gefahr eines Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan in Bann gezogen. Das ist unglaublich gefährlich für die USA. Sie haben große Schwierigkeiten, Pakistan zu stabilisieren, weil die Mittel ihrer Wahl zu massiven antiamerikanischen Unruhen führen könnten. Zweitens glaube ich, dass die USA bezüglich des Irak in der Klemme stecken. Nicht zuletzt, weil jeder weiß, dass es sechs Monate dauern wird, die US-Luftstreitkräfte mit selbst steuernden Bomben und weiterer Wehrtechnik, die über Afghanistan verpulvert wurden, neu nachzurüsten. Und wir erleben eine extreme Unruhe unter den europäischen Mächten wegen eines möglichen Krieges mit dem Irak.
Verallgemeinert besteht das Problem darin, ob die USA es schaffen, die militärpolitischen Fragen des "Krieges gegen den Terrorismus" auf die weltpolitische Tagesordnung zu setzen. Dazu muss ein Mittelweg gefunden werden. Einerseits soll der Terrorismus als eine reale Bedrohung der Menschen in den reichen Ländern empfunden werden, und in dieser Hinsicht wären einige weitere Terroranschläge ganz nützlich. Andererseits darf dies auch nicht überzogen und eine echte Panik unter der Zivilbevölkerung ausgelöst werden.
Dann ist da noch die vorrangige Frage, ob die europäischen Regierungen womöglich die Antiterrorallianz der USA verlassen, z.B. bei der Frage eines Angriffs auf den Irak. Wenn sie dies tun, könnten sich die USA entscheiden, allein gegen den Irak vorzugehen und sich damit voll mit der Opposition in Europa anzulegen. Darin liegt dann die Gefahr, sich zu isolieren.

Was für Aussichten hat die Linke in der gegenwärtigen Situation?
Die Kontinuität zwischen der Außenpolitik von Clinton und der von Bush ist ungebrochener als viele meinen. Wahr ist, dass es einen gewaltigen ideologischen Umschwung in der US-Führung gegeben hat. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob allen bewusst ist, welche Auswirkungen diese Wende auf die Weltpolitik hat. Denn in vielen Teilen der Welt wurden bedeutende Gruppen der sozialdemokratischen und liberalen Linken von den Schlagworten aus Clintons Ideologie der internationalen Menschenrechte, des Liberalismus und der Demokratie beeindruckt. Diese Leute sind durch die Geschehnisse in eine große Orientierungskrise und Verwirrung geraten und stehen jetzt vor einer ziemlich ungemütlichen ideologischen und politischen Entscheidung: Entweder sagen sie, dass sie immer und ewig, egal was passiert, an der Seite der USA stehen oder sie müssen in Opposition zu den Handlungen der USA gehen. Heute kann Tony Blair glücklich verkünden, er stehe zu den USA, komme, was kommen mag. Aber viele unter den sozialdemokratischen Linken werden dies nicht tun.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es Millionen Menschen gibt, die ernsthaft glauben, dass die Welt nach dem Kalten Krieg mehr Freiheit, Demokratie, Frieden und Fortschritt bieten werde. Diese Illusion wurde durch die jetzigen Ereignisse völlig zerstört. Diese Verwirrung öffnet einen großen Raum für Interventionen der Linken. Das kann natürlich mit der Antikriegsbewegung unternommen werden, und dies ist auch sehr wichtig. Aber bezüglich einer umfassenden sozialistischen Intervention hängt viel davon ab, wie gut die Linke die Frage der sozialen Gerechtigkeit aufgreifen kann.
Unser größtes Problem ist, dass wir keine konkrete umfassende Perspektive haben, etwas wie das Beispiel der Oktoberrevolution in Russland — wo wir sagen können, "das ist der Weg, den wir aufnehmen müssen. Wir müssen das machen, was die gemacht haben."

Peter Gowan lehrt Politische Wissenschaften an der Universität Nord-London und ist Redakteur von "New Left Review". In SoZ 4/02 schrieb er eine Kritik des liberalen Kosmopolitismus. Die Langfassung dieses Interviews erschien in der Zeitschrift Inprekorr vom Mai 2002. Als umfangreiches Supplement der Zeitschrift "Sozialismus" (5/2002) ist von ihm außerdem zu empfehlen: "US-Hegemonie und globale Unordnung".




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