SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 14

Der Mensch als Subjekt

Kämpfe um den Beteiligungshaushalt in Porto Alegre


Im Anschluss an das Weltsozialforum hatte eine Gruppe deutscher Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter Charlotte Weyers, Hermann Dierkes und Paul Kleiser, Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Joćo Verle, dem stellvertretenden Bürgermeister von Porto Alegre. Joćo Verle ist seit Anfang April 2002 amtierender Oberbürgermeister, nachdem Mitte März eine interne Abstimmung in der Arbeiterpartei (PT) im Bundesstaat Rio Grande do Sul Oberbürgermeister Tarso Genro mit nur knappem Vorsprung gegen den derzeitigen Gouverneur Olívio Dutra zum Kandidaten für die Gouverneurswahl im Oktober nominiert hat.

Joćo, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Weltsozialforum, dessen großer Erfolg maßgeblich auch auf eure beispielhafte politische Arbeit in Porto Alegre — Stichwort erweiterte Demokratie und Beteiligungshaushalt — zurückgeht. Klar ist uns aber auch, dass euer Kampf für soziale Gerechtigkeit nicht nur Freunde hat. Wie schätzt du die Lage in Porto Alegre aus kommunalpolitischer Sicht ein?
Joćo Verle: Seitdem wir 1999 die Landesregierung übernahmen, sind wir zwar stärker geworden, aber der Widerstand gegen unsere Politik ist sehr groß. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul ist er sogar noch massiver als hier in der Stadt Porto Alegre. Vom ersten Tag an war die Opposition im Landesparlament sehr hart. Das hat auch das Klima im Stadtrat vergiftet. Die Oppositionsparteien behindern wichtige Reformen, wo sie nur können.
Ein Beispiel: Letztes Jahr wollten wir die Haus- und Grundsteuer progressiv gestalten. Wir hatten die Progressivsteuer schon einmal, sie wurde aber für verfassungswidrig erklärt. Später konnten die linken Parteien im Bundesparlament eine Änderung der Verfassung durchsetzen, um die Progressivsteuer zu ermöglichen. Daraufhin hat die PT in vielen Orten Brasiliens entsprechende Vorstöße unternommen. In Sćo Paulo konnte Marta Suplicy von der PT die Progressivsteuer einführen. In Porto Alegre haben wir einen Änderungsentwurf vorgelegt, es kam aber gar nicht zur Abstimmung. Weil der Widerstand zu groß war, haben wir ihn zurückgezogen, bevor die Opposition Änderungen einbringen konnte, die das Ganze zu entstellen drohten.
Auch gegenüber unserem Haushaltsvorschlag haben die Oppositionsparteien Abänderungen durchgesetzt. Sie haben eine sog. emenda popular organisiert [ein Abänderungsvorschlag aus der Bevölkerung; nach der Stadtverfassung reichen die Unterschriften von nur wenigen Vereinigungen, um derartige Abänderungsvorschläge zum städtischen Haushalt einzubringen].

Was war das Ziel des Änderungsvorschlags?
Ziel der Opposition war es, Haushaltsmittel, die für Asphaltierungsarbeiten vorgesehen waren, für Maßnahmen gegen Überschwemmungen einzusetzen. Vereinigungen, die am Prozess des Orēamento Participativo (Beteiligungshaushalt) teilnehmen, wurden benutzt, um Änderungen am Haushalt außerhalb des Beteiligungsverfahrens einzubringen. Das war eine ernsthafte Gefahr. Wir haben den [bürgerschaftlich gewählten] Haushaltsrat (COP) mobilisiert, damit er mit diesen Vereinigungen diskutiert. Er konnte die Betroffenen davon überzeugen, den Abänderungsvorschlag zurückzunehmen. Dann hat ein Stadtverordneter der Opposition den Änderungsvorschlag eingebracht, er wurde im Stadtrat mehrheitlich angenommen und unsere Präfektur hat ihr Veto eingelegt. Jetzt wird das Veto geprüft. Es ist das erste Mal in dreizehn Jahren, dass sie ein solches Manöver machen. Die Opposition zielt darauf ab, die Bewegung zurückzuwerfen und den Beteiligungshaushalt zu zerstören.

Wir haben gehört, dass das Verfahren des Beteiligungshaushalts derzeit reformiert wird?
Ja. Das macht einen Teil unserer Schwierigkeiten mit der Opposition im Stadtrat aus. Zum Glück muss nicht jede Verfahrensänderung beim Beteiligungshaushalt durch den Rat gehen, denn dieser Prozess ist nicht gesetzlich geregelt. Die juristische Basis des Beteiligungsprozesses bildet ein Artikel in der Stadtverfassung, der besagt, dass der Haushalt in Konsultation mit der Bevölkerung aufgestellt werden soll. Das ist Aufgabe der Stadtregierung, der Exekutive. Sie entscheidet, wie das gemacht wird. Auf dieser Grundlage hat sich die Bewegung mit einer eigenen Satzung selbstständig organisiert. Jedes Jahr diskutiert der Haushaltsrat über verbesserte Spielregeln.
Im vergangenen Jahr hat die Stadtregierung eine Arbeitsgruppe gebildet, um den Ablauf der Bürgerbeteiligung gründlich zu studieren und Änderungsvorschläge zu erarbeiten. Wir haben ein internationales Seminar veranstaltet, 16 Sozialwissenschaftler haben daran teilgenommen, Leute die den Beteiligungshaushalt genau studiert haben und Magister- oder Doktorarbeiten darüber schreiben. Sie sollten den Prozess von außen beobachten. Außerdem haben wir Bürgervereinigungen konsultiert — solche, die am Prozess beteiligt sind, und solche, die bis jetzt nicht daran beteiligt waren. Am Ende der Konsultation hat die Arbeitsgruppe einen Änderungsvorschlag erarbeitet. Die Stadtregierung hat den Vorschlag angenommen und ihn dem Haushaltsrat vorgelegt. Mit einer kleinen Änderung hat auch dieser ihn angenommen.

Was waren die Ziele der Reform?
Zum einen sollte der Prozess vereinfacht werden. Außerdem sollte den Teilnehmenden ermöglicht werden, sich ein Gesamtbild von der Stadt zu machen, statt sich nur mit den Problemen der eigenen Straße oder des eigenen Stadtteils zu befassen. Bisher dienten die sog. thematischen Versammlungen dazu; jetzt wollten wir, dass auch die regionalen Versammlungen in dieser Perspektive diskutieren. Ein drittes Ziel des Vorschlags war, den Delegierten mehr Verantwortlichkeit und Entscheidungsmacht zu geben. Bisher war die Macht im Haushaltsrat konzentriert.
Dieser setzt sich aus je zwei Ratsmitgliedern aus jeder der 16 Regionen und zwei Ratsmitgliedern aus jeder der sechs thematischen Versammlungen zusammen. Hinzu kommen noch zwei Vertreter der Stadtregierung sowie je eine Person für den Verband der Bürgervereinigungen von Porto Alegre (UAMPA) und für die Gewerkschaft der städtischen Angestellten. Die Zahl der gewählten Delegierten beträgt dagegen 2000. Wir haben dem gesamtstädtischen Delegiertenforum mehr Entscheidungsmacht und Befugnisse gegeben und die des Haushaltsrats eingeschränkt. Dieser hat zwar immer noch das letzte Wort, muss aber mit den Delegierten diskutieren. Teilweise haben das einige Regionen und thematische Versammlungen schon so gehandhabt. Aber nicht alle Mitglieder des Haushaltsrats haben Diskussionen geführt. Etliche haben ihre Informationen für sich behalten, statt sie an die Bevölkerung weiterzugeben. Ein typisches Verhalten von Personen, die vor allem hohen Wert auf Führungspositionen legen!

Was ändert sich jetzt am Ablauf des Beteiligungshaushalts?
Früher hatten wir zwei Runden von regionalen und thematischen Plenarversammlungen. In einer Zwischenrunde gab es Diskussionen in kleineren Gruppen auf Stadtteilebene. Das wurde jetzt geändert, es gibt nur noch eine Runde. Davor und danach werden kleinere Versammlungen durchgeführt. Die davor — bis in die Mikroregionen hinab — sollen die Plenarversammlungen vorbereiten. Die danach sollen die Forderungen konkretisieren.
Die große Änderung besteht darin, dass jetzt die Prioritäten und großen Themen während dieser einzigen Runde von Plenarversammlungen festgelegt werden. Also: was soll bei den Investitionen Vorrang haben? Die Asphaltierung von Straßen oder der Wohnungsbau? Gesundheit oder Bildung? Wohlfahrt, Sport oder Kultur? Die großen Themen werden somit von allen mitbestimmt, die auf den regionalen und themenspezifischen Versammlungen anwesend sind. Vorher war das nicht so.

Was versprecht ihr euch davon?
Die Diskussion wurde bisher zwischen den großen Runden von Plenarversammlungen weitergeführt, in den kleinen Stadtteilgruppen. Um die Priorität einer Region festzulegen, musste man anschließend die Diskussionen und Forderungen wie ein Puzzlespiel zusammenführen. Jetzt wird die Diskussion in den regionalen und thematischen Versammlungen durchgeführt und dort wird auch abgestimmt. Alle Anwesenden haben das Recht, über die Prioritäten zu entscheiden. Im Haushaltsrat gab es Widerstand gegen diese Änderung.
Nach dem neuen Verfahren werden die einzelnen regionalen und thematischen Plenarversammlungen die ganze Region im Blick haben, wenn nicht sogar die ganze Stadt. Vorher haben die kleinen Zwischenversammlungen folgendermaßen diskutiert: Welche Priorität steht hier in meinem Stadtteil obenan? Was brauchen wir hier am dringendsten? Die Priorität der einzelnen Region wurde — nach Abstimmungen — entsprechend der Zahl der Anwesenden in diesen Versammlungen ermittelt, — eine induktive Methode, von unten nach oben. Jetzt entscheidet die Region als ganzes, und erst dann versammeln sich die Leute in ihren Stadtteilen, um die regional definierten Prioritäten lokal anzupassen.
Eine weitere Neuerung wird eine gesamtstädtische Versammlung (assembleia municipal) sein, wo die von der Bevölkerung gewählten Mitglieder des Haushaltsrats und die Delegierten zusammenkommen. Die Räte waren schon im Haushaltsrat versammelt, die Delegierten aber hatten so etwas nicht. Sie hatten nur die Versammlungen der 16 Regionen und sechs Themengebiete, die sich getrennt voneinander getroffen haben. Nun machen wir eine Versammlung, wo alle zusammen sein werden.

Was waren die bedeutendsten Projekte und Investitionen im letzten Jahr?
Unser Rechenschaftsbericht steht im Internet. Dort sind alle genehmigten Projekte abrufbar und auch der Stand der Umsetzung. Im Moment bauen wir eine 12 km lange Schnellstraße, die 20 Stadtteile verbindet. Als wir 1989 die Stadtverwaltung übernahmen, fuhren alle Buslinien in Richtung Zentrum. Um von einem Stadtteil in einen anderen zu fahren, musste man erst ins Zentrum und dort in eine andere Linie umsteigen. Zehn Linien werden für diese Art von Verbindung gebraucht. Jetzt sind wir dabei, die Stadtteile direkt zu verbinden, um den Verkehr zu vereinfachen.
Der zweite große Punkt ist der Bau einer Kläranlage. Als wir die Stadtverwaltung übernahmen, waren nur 2% des Abwassers geklärt, heute sind es 27%. Wir haben zwei große Projekte für unsere vierte und fünfte Mandatszeit: Mit Hilfe einer japanischen Bank wollen wir 77% des Abwassers klären. Wenn wir das fertig haben, hat der Guaíbasee, an dem Porto Alegre liegt, Badewasserqualität. Unser zweites großes Projekt ist die Urbanisierung einer Favela am Stadteingang, die aus etwa 3000 Hütten besteht. Die Mittel dazu kommen aus einem Gemeinschaftsfonds der südlichen Länder Lateinamerikas, an dem Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien beteiligt sind. Sie haben eine Laufzeit von 15 Jahren und eine Verzinsung von 5%.

Wie stehen die städtischen Finanzen?
Ausgeglichen. Am Anfang war die Situation sehr schwierig, die Stadt war praktisch pleite. Der Gesamthaushalt beläuft sich derzeit auf etwa 130 Millionen Reais, der Investitionshaushalt umfaßt 15 Millionen Reais. Dann haben wir noch das Dezernat für Wasser und Abwasser mit einem Haushalt, der etwa 25% des Gesamthaushalts entspricht. Es kann aber mehr investieren, weil es weniger Personalausgaben hat. 60—65% unseres Haushalts geben wir für Personal aus.Wir beschäftigen derzeit etwa 22000 städtische Angestellte. Ein Drittel der Personalausgaben geben wir für die Rentner aus.
Letztes Jahr haben wir einen Überschuss erzielt, den wir teilweise künstlich herbeigeführt haben, indem wir ca. 100 Millionen Reais [etwa 51 Millionen Euro] nicht ausgegeben haben, um auswärtige Kredite zu erlangen. Dafür brauchen wir die Genehmigung der Bundesregierung, und diese stellt entsprechende Bedingungen. Die schon erwähnte Schnellstraße wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert. Von der Weltbank haben wir weniger. Im Moment geben wir etwa 2% der Einnahmen für Zinsen aus.

Können ihr euch eine Partnerschaft mit einer deutschen Stadt vorstellen?
Wir haben eine Reihe von Partnerschaften in der ganzen Welt: Barcelona, Rosario (Argentinien), St.Denis bei Paris, eine japanische Stadt. In Deutschland bisher nicht, aber ich könnte es mir gut vorstellen.

Den Beteiligungshaushalt gibt es seit elf Jahren. Was würdest du als seinen größten Erfolg ansehen?
Die Bevölkerung wurde vorher immer als Objekt betrachtet, dessen politische Aktivität sich im Wesentlichen auf einen Urnengang alle vier Jahre beschränkte. Durch den Beteiligungshaushalt sind die Menschen Subjekte geworden. Heute verstehen sie sich als Bürgerinnen und Bürger, die ihre Stadt regieren. Die Prioritäten bei den Investitionen haben wir umgekehrt und endlich damit begonnen, die Peripherie der Stadt zu sanieren, ohne die großen Projekte wie Kläranlagen, Müllabfuhr, Verkehrsorganisation usw. zu vernachlässigen.


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