SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 16

Frankreich nach der Präsidentschaftswahl

Auf der Suche nach Alternativen zur Mitte

Die Ergebnisse des ersten Durchgangs der französischen Präsidentschaftswahl sind Ausdruck einer tiefen Legitimationskrise der politischen Repräsentation. Dies vor dem Hintergrund des — begründeten — Eindrucks vieler Wählerinnen und Wähler, dass die parlamentarischen Mehrheiten zwar wechseln, die durch die jeweiligen Regierungen real betriebene Politik aber weitgehend die gleiche bleibt — vor allem in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht. Zwischen 1981 und 2002 wurde bei jeder Wahl die jeweils vorhergehende Mehrheit abgestraft: 1981 zugunsten der Linksparteien, 1986 zugunsten der Rechten unter Chirac, 1988 zugunsten von Staatspräsident François Mitterrand und der Sozialdemokratie, 1993 (Parlamentswahl) und 1995 (Präsidentschaftswahl) wieder zugunsten der Rechten unter Chirac, bei der vorgezogenen Parlamentswahl 1997 zugunsten der Sozialdemokratie unter Jospin. Jetzt aber hat ein qualititativer Sprung in der Legitimationskrise der politischen Klasse stattgefunden.
Das Netzwerk Réseau Voltaire, das Investigativjournalismus mit Agitation verbindet, die aufklären will — was manchmal daneben geht —, hat auf seiner Internet-Seite eine nachprüfbare Rechnung aufgemacht. Sie lautet: Von 45,9 Millionen Erwachsene des Landes haben 2,7 Millionen mangels Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht; 2 Millionen Staatsbürger — darunter viele Jüngere — haben sich nicht in die Wählerlisten eingetragen (die adminstrative Voraussetzung, um das Wahlrecht auszuüben). 12,7 Millionen eingeschriebene Wahlberechtigte wiederum gaben im ersten Wahlgang entweder gar keine oder eine ungültige Stimme ab. 17,3 Millionen stimmten am 21.April für Kandidaten einer der als "regierungsfähig" geltenden Parteien — davon 5,7 Millionen für Jacques Chirac.
Weitere 11,2 Millionen stimmten für politische Kräfte, die nicht zu den als staatstragend geltenden Parteien gehören: weil sie auf der linken oder auf der rechten Seite außerhalb des "Verfassunsbogens" stehen (5,5 Millionen stimmten für die faschistischen Kandidaten und 3 Millionen für die radikale Linke) oder weil sie als nicht regierungswillige oder -fähige Protestformationen gelten wie die Partei der Jäger. Letztere hat immerhin 1,1 Millionen Wähler vor allem im ländlichen Raum angezogen — eine Kombination aus rechtspopulistischem Protest und durchaus rationaler Entscheidung für eine Interessenvertretung, die unter anderem gegen den Rückzug des öffentlichen Dienstes aus den ländlichen Gebieten unter dem Druck staatlicher Sparpolitik eintrat.
Insgesamt hat damit nur noch ein starkes Drittel der erwachsenen Bevölkerung im ersten Wahlgang für einen der "staatstragenden" Kandidaten gestimmt. Im zweiten Wahlgang hat sich das Szenario umgekehrt: 25,3 Millionen und damit deutlich mehr als die absolute Mehrheit der 40,7 Millionen eingeschriebenen Wähler stimmten für Jacques Chirac. Die Wahlbeteiligung stieg um über 8% an, wobei der Anteil der Nichtwähler aus dem ersten Wahlgang, die es im zweiten "gegen Le Pen" an die Urnen zog, noch wesentlich größer ist. Denn rund ein Fünftel der Wählerschaft der Linksparteien — quer durch die radikale wie durch die Regierungslinke — hatten sich der Entscheidung "Chirac oder Le Pen" entzogen. Zum allerersten Mal wurde ein Präsident der Fünften Republik mit einer Stimmenzahl gewählt, die mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten entspricht. Auch das Ergebnis von über 82% dürfte in einem hochentwickelten kapitalistischen Land mit westlicher Demokratie seinesgleichen suchen. Ob die politische Legitimationskrise damit auch nur annähernd behoben ist, darf dennoch getrost bezweifelt werden.
Denn eines dürfte klar sein: Eine deutliche Mehrheit dieser 82% hat nicht für den bürgerlichen Kandidaten Chirac, sondern gegen den Neo- oder Altfaschisten Jean-Marie Le Pen gestimmt. Am Wahlabend der zweiten Runde am 5.Mai war unter den Chirac-Anhängern kein Freudentaumel — wie es ihn ansatzweise am 7.Mai 1995 gegeben hatte: damals hatte der konservative Demagoge einen betont sozialpolitischen, gegen Sparpolitik und EU- Zwänge gerichteten Wahlkampf betrieben. Dieses Mal zeigten zwar viele Erleichterung, weil Le Pen in der Stichwahl deutlich geschlagen wurde. Doch Jubel gab es so gut wie keinen.

Le Pen schlagen — erst an der Urne, dann auf der Straße

Knapp 3000 Leute kamen am Wahlabend auf die Pariser Place de la République, um den erwarteten Wahlsieg Chiracs zu feiern — im Fernsehen war ein größtenteils leerer Platz mit einer riesigen Musikanlage zu bewundern. Dreimal soviel Menschen versammelten sich zur gleichen Zeit zu einer Demonstration der Linken auf der Place de la Bastille. Während die der Sozialdemokratie nahe stehende Organisation SOS Racisme, die Jungsozialisten und die KP auf dem Platz blieben, zogen 6000—8000 Menschen durch den kalten Nieselregen quer durch Paris: Sans papiers (nach herrschender Terminologie "illegale" Immigranten), linke Gewerkschafter etwa von SUD, Antifaschisten vom Anti-FN-Netzwerk Ras-le-Front (Schnauze voll vom FN), die wochenlang gegen Le Pen mobilisiert hatten, die LCR und Anarchosyndikalisten. Sie versprachen dem neuen Präsidenten, er werde sich auf seinen Lorbeeren nicht ausruhen können: "Le Pen, dich haben wir gekriegt — Chirac, dich kriegen wir noch!"
Die massiven Demonstrationen und gesellschaftlichen Mobilisierungen zwischen den beiden Wahlgängen haben erheblich mit zur deftigen Niederlage des rechtsextremen Kandidaten beigetragen. Die Jugend an Schulen und Universitäten hat diese Mobilisierungen in hohem Maße geprägt. Diese Generation hat sich als relativ resistent gegen die Verbreitung von Rassismus und Neofaschismus erwiesen, unter anderem wohl deswegen, weil die laizistische französische Schule (mit eingliedrigem Schulsystem, anders als in der BRD) für sie tatsächlich einen gewissen Melting Pot (Schmelztiegel) darstellt. Auch die Lehrerinnen und Lehrer waren deutlich überdurchschnittlich in den Demonstrationen vertreten. Die etablierten Medien hatten die Straßendemonstrationen in eher freundlichem Licht dargestellt, sie aber eher in republikanisch-staatstragendem Sinn gedeutet, was zumindest zum Teil tendenziös ist.
Doch darf die Mobilisierung in den Banlieues, den proletarisierten Trabantenstädten, unter den Migranten und unter den sozial schlecht gestellten Klassen und Schichten nicht unterschätzt werden. Zwei kritische Politologen, Jean-Yves Dormagen und Céline Braconnier, haben jüngst in der Pariser TageszeitungLibération eine Untersuchung über das wahlpolitische Verhalten der Bewohner der Cité des cosmonautes präsentiert. Die "Kosmonautensiedlung" in der Pariser Vorstadt Saint-Denis, eine ehemalige Hochburg der KP, gehört zu den klassischen Vorstadtsiedlungen mit Plattenbauten, hohem Immigrantenanteil und überdurchschnittlich junger Bevölkerung, hat aber noch überschaubare Dimensionen. 20% der von Braconnier und Dormagen befragten Wähler in der Siedlung gaben an, zwischen den beiden Wahlgängen "an einer Demonstration oder einer öffentlichen Versammlung teilgenommen" zu haben. Das wäre ein deutlich höherer Anteil als unter der Gesamtbevölkerung auf nationaler Ebene. Eine Reihe jüngerer Leute, die — aus Desinteresse für die etablierte Politik — gar nicht in den Wahllisten eingetragen waren, haben am 5.Mai stundenlang das Wahlbüro belagert, weil sie um jeden Preis mitstimmen wollten. Die Wahlbeteiligung in der Cité stieg zwischen beiden Wahlgängen um überdurchschnittliche 10% an, bleibt aber insgesamt mit 67% unterdurchschnittlich.

Die Parlamentswahlen

Dennoch werden die Parlamentswahlen am 9. und 16.Juni wahrscheinlich von der bürgerlichen Rechten gewonnen. Denn die Sozialdemokraten hatten ihren Präsidentschaftswahlkampf unter anderem damit bestritten, mit der Cohabitation (dem Nebeneinander eines Staatspräsidenten und eines Ministerpräsidenten konträrer Parteizugehörigkeit) müsse Schluss sein. Dies Argument kehrt sich nun gegen sie. Viele eher staatstragenden Wähler aus dem Mitte-Links-Bereich werden daher im zweiten Wahlgang eher für die Bürgerlichen stimmen — ihnen wird derzeit ein Wahlsieg in der Größenordnung von 55 zu 45% gegen die Linksparteien vorausgesagt. Rechtsextreme Kandidaten dürften es in vielen Wahlkreisen allerdings bis zum zweiten Durchgang schaffen, in vielen Wahlkreisen, was die Verhältnisse kompliziert.
Zugleich ist ein leichter Wiederanstieg der etablierten Linksparteien (Sozialdemokratie und KP) zu erwarten. Den Sozialdemokraten werden rund 24% der Stimmen vorausgesagt (16% holte Jospin am 21.April), der KP rund 6%. Das Erschrecken der Wählerschaft über das Abschneiden von Jean-Marie Le Pen dürfte ihr einen Teil derer wieder in die Arme treiben, die am 21.April nicht wählen gegangen waren. Das wird auch einen gewissen Rückgang der Stimmen für die radikale Linken bedingen — wobei erwartet wird, dass LO stärker zugunsten der KP an Boden verliert. Das liegt daran, dass LO die Stimmabgabe im zweiten Wahlgang für Chirac bzw. gegen Le Pen heftig gegeißelt hat — Arlette Laguiller sprach mehrfach öffentlich von einer "Prostitutierung der Linken".
Die derzeitige Situation ist kompliziert; zwei Fehler müssen vermieden werden. Auf der einen Seite ist jede Verharmlosung der Stärke, die die extreme Rechte erreicht hat, absolut fehl am Platz. Auch das — rational stimmige — Argument, sie habe ja seit 1995 "nur" 900000 Wähler (jetzt 5,5 Millionen) hinzugewonnen, und diese seien überwiegend ehemalige Anhänger der rechtskonservativen EU-Gegner, kann nicht trösten. Am 21.April trennte nur noch ein halber Prozentpunkt die Rechtsextremen von der 20%-Marke. Und das in einer Zeit, die zwar von sozialen Krisen und Verarmungstendenzen geprägt ist, in der die Mittelschichten aber noch weitgehend verschont bleiben.
Auf der anderen Seite ist es ebenso gefährlich, wie das Kaninchen auf die Schlange auf das Phänomen Le Pen zu starren. Die dominierenden politischen Kräften und Medien benutzen diese Haltung derzeit dazu, die Bilanz ihrer eigenen Regierungstätigkeit unter den Teppich zu kehren und das Wahlvolk erneut hinter sich ein "kleineres Übel" zu scharen. Das dürfte die sicherste Garantie dafür sein, dass das Übel weiter wächst. Denn nach fünf weiteren Jahren antisozialer Politik — egal, von welcher Seite er kommt — dürfte der Ruf nach einer Alternative auf der Rechten eine Antwort finden, wenn die Alternative auf der (nicht staatstragenden, nicht parlamentarischen) Linken ausbleibt. Mit 3 Millionen Wählerinnen und Wähler für die radikale Linke am 21.April und den Mobilisierungen zwischen den beiden Wahlgängen gibt es positive Ansatzpunkte dafür. Doch sie müssen genutzt werden.
Bernhard Schmid (Paris)


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang