SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 17

‘Vor allem viele Jugendliche wollen sich den Revolutionären anschließen‘

Interview mit Olivier Besancenot

Das folgende Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), Olivier Besancenot, führte Manuel Kellner für die SoZ.

Was drückt das Ergebnis des zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen, der Stichwahl zwischen Chirac und Le Pen, deiner Meinung nach politisch aus, und was ist vom Regierungschef Chiracs, Jean-Pierre Raffarin, zu erwarten?
Olivier Besancenot: Am 5.Mai hat die überwältigende Mehrheit der Wähler ihre Ablehnung der rassistischen Thesen der französischen extremen Rechten zum Ausdruck gebracht. Sicherlich hatten alle Regierungsparteien der Linken wie der Rechten dazu aufgerufen, Chirac zu wählen. Doch angesichts der Diskreditierung der französischen politischen Klasse kann das allein nicht den Umfang der Niederlage der extremen Rechten erklären.
Der Ausgang der Stichwahl ist auch Ergebnis einer regelrechten Erhebung der Welt der Arbeit und vor allem der Jugend nach Bekanntwerden der Ergebnisse des ersten Wahlgangs. Eine Woche lang demonstrierten Jugendliche in allen Städten Frankreichs und jeden Tag in Paris. Am 1.Mai nahmen 2 Millionen Menschen an den Demonstrationen teil. Es ist also vollkommen klar, dass die Wahl Chiracs nicht die Zustimmung zu seiner Politik ausdrückt.
Derzeit ist die Aufgabe der neuen Regierung hauptsächlich, die Parlamentswahlen zu gewinnen, um Chirac eine parlamentarische Mehrheit für seine Politik zu verschaffen. Diese Politik wird ein weiterer Schritt nach rechts sein, sowohl sozial- als auch sicherheitspolitisch: Verlängerung der Lebensarbeitszeit, tiefgreifende Infragestellung des Pensionssystems der Beamten, Schaffung von Rentenfonds als Schritt in Richtung Privatisierung der Altersversorgung, weitere Privatisierungsmaßnahmen, weiterer Abbau öffentlicher Dienste, weitere Steuergeschenken an die Unternehmer.
Im Bereich der Sicherheitspolitik, wo während der Präsidentschaftswahlen die etablierte Rechte ebenso wie die etablierte Linke versucht hatten, die extreme Rechte noch zu übertrumpfen, wird es zu Lasten der demokratischen Freiheiten eine Vervielfachung repressiver Maßnahmen insbesondere gegen Jugendliche in "sozialen Brennpunkten" geben.

Wie geht die LCR an die Parlamentswahlen heran? Können wir ein Wahlergebnis erwarten, das an deines im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen herankommt, oder sogar mehr?
Nach unserem Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen und nachdem Lutte Ouvrière (LO) unseren Vorschlag abgelehnt hat, dass sich beide Organisationen die Wahlkreise aufteilen, hat die LCR beschlossen "100%ig linke" Kandidatinnen und Kandidaten in 440 von den 577 Wahlkreisen aufzustellen.
Diese Kandidatinnen und Kandidaten werden für die sozialen, ökologischen und demokratischen Sofortmaßnahmen eintreten, die wir in der Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen präsentiert haben und dazu aufrufen, "nützlich" radikal links zu wählen, um die extreme Rechte zu schlagen, die Rechte zurückzuweisen ohne darum die Regierungslinke zu unterstützen, die unfähig ist, die Bilanz ihrer eigenen Politik zu ziehen, die doch zum wahlpolitischen Desaster des 21.April geführt hat.
Wir können keine seriöse Prognose zum Wahlergebnis abgeben. Viele Beobachter denken, dass in der linken Wählerschaft der Reflex der "nützlichen Wahl" eher zugunsten der PS bzw. der Regierungslinken ausschlagen wird, um eine vergleichbare Situation wie beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zu vermeiden, so dass die radikale Linke diesmal schwächer abschneiden würde. Aber das ist nicht zwangsläufig so.

Gab es Stimmen in Frankreich, die die revolutionären Organisationen beschuldigten, durch ihre Kandidaturen die Stimmen der Linken aufgespalten zu haben und somit für den Erfolg Le Pens verantwortlich zu sein?
Natürlich gab es solche Reaktionen. Die PS versuchte sogar, daraus eine Kampagne zu machen. Unsere Antwort lautet: Was zersplittert worden ist, muss vorher eine Einheit gewesen sein. Das war es aber nicht. Wir waren nicht Teil der Regierungslinken und mit deren Politik nicht einverstanden. Unsere Kandidatur war also legitim.
Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus: Es standen vier Kandidaten der "Pluralen Linken" zur Wahl (PS, PCF, Grüne und die [linksliberalen] Radikalen Linken), obwohl die doch alle mit an der Regierung waren und im Wesentlichen für die gleiche Politik stehen. Es hätte gereicht, dass sich nur einer ihrer Kandidaten zurückgezogen hätte, und Jospin wäre wohl in den zweiten Wahlgang gekommen. Demnach ist es zumindest etwas kühn, den Kandidaturen der revolutionären Linken die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.

Warum hat LO euren jüngsten Vorschlag, die Wahlkreise aufzuteilen, abgelehnt, und welche politischen und wahlpolitischen Konsequenzen wird das haben?
LO nennt als Grund, jegliche Verwirrung und Verwechslung der Politik von LO und LCR zu vermeiden, denn es handele sich um "entgegengesetzte" politische Identitäten — was eine maßlose Übertreibung ist. Weiterhin nimmt LO den Aufruf der LCR zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zum Vorwand, "die extreme Rechte auf der Straße und in den Wahlurnen zu schlagen" und "gegen Le Pen" abzustimmen, wobei für LO die faschistische Gefahr nicht wirklich existiert. Tatsächlich ist die Haltung von LO Ausdruck von Sektierertum.
Die erste politische Konsequenz davon ist natürlich, dass man die Perspektive eines aufeinander Zugehens und einer Einheit der Kräfte, die sich dem Liberalismus verweigern und die reaktionäre offizielle Politik bekämpfen, noch ein Stück weiter in die Ferne verschiebt.
Für die LCR bedeutet das, dass LO unfähig ist, sich der Verantwortung zu stellen, die die politische Lage und die Wahlergebnisse der revolutionären Linken (10% bzw. 2,8 Millionen Stimmen für LO und LCR zusammen!) auferlegen. Dennoch wird die LCR ihre Politik der Einheit gegenüber LO weiter verfolgen, ohne allerdings ihre eigenen Initiativen davon abhängig zu machen, was LO tut oder nicht tut.
Im Verhalten zu den sozialen Bewegungen gibt es eben viele Unterschiede zwischen LCR und LO. So arbeitet LO weder in der Frauenbewegung noch in der Ökologiebewegung mit, weil — so heißt es — die in diesen Bewegungen aufgeworfenen Fragen ohnehin nur durch die sozialistische Revolution, durch die Machteroberung der Arbeiterklasse gelöst werden können.
LO unterstützt auch nicht die Mobilisierungen gegen die neoliberale Globalisierung: Sie hält diese für eine zweifelhafte Ablenkung vom antikapitalistischen Kampf, die automatisch auf reformistische oder protektionistische Positionen hinauslaufen müsse.

Arlette Laguiller ruft ebenso wie du zur Schaffung einer neuen Arbeiterpartei auf, die Zehntausende Werktätige, Jugendliche und Intellektuelle umfassen soll. Arlette Laguiller hat aber betont, dass eine solche Partei nicht durch den einfachen Zusammenschluss der revolutionären Organisationen entstehen kann. Auch dem hast du zugestimmt. Verbergen sich hinter der gleichlautenden Formulierung verschiedene Vorstellungen?
Meine Position bzw. die der LCR unterscheidet sich von der Position, die LO — bislang zumindest — vertreten hat. Ich habe Arlette Laguiller zwar zugestimmt, dass eine neue politische Kraft nicht einfach durch die Addition von LCR und LO entstehen kann. Ich habe aber gleich hinzugefügt, dass sie auch nicht durch die Subtraktion von LCR und LO entstehen kann!
Weder LO allein, noch die LCR allein, noch beide in trauter Zweisamkeit können das schaffen. Vielmehr bedarf es eines Prozesses, der für die Tausenden von Aktiven der sozialen Bewegungen — der Gewerkschaften, der fortschrittlichen Vereinigungen, der Frauenbewegung, der Ökologiebewegung — offen ist, die, obwohl sie kein Parteibuch in der Tasche haben, doch täglich Politik machen, und zwar gut Politik machen. Unserer Meinung nach müssen diese Aktiven beim Aufbau einer neuen politischen Kraft der Linken, einer neuen antikapitalistischen Partei der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielen.

Kann die LCR gegenwärtig den Zugewinn an Sympathien und den wahlpolitischen Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen organisationspolitisch umsetzen und neue Mitglieder gewinnen?
Es gibt zahlreiche Kontaktaufnahmen und Eintrittserklärungen, sowohl in Zusammenhang mit dem Erfolg im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen als auch wegen des Namens, den die LCR sich im Kampf gegen den Rechtsextremismus gemacht hat, in einem Kampf, der ja verstärkt auf der Tagesordnung steht.
In zahlreichen Städten übersteigt die Zahl der Leute, die in die LCR eintreten wollen die Zahl der Mitglieder, die wir vor der Präsidentschaftswahlkampagne hatten! Vor allem viele Jugendliche wollen sich den Revolutionären anschließen und wenden sich der LCR zu. Wir haben deswegen eine Diskussion über die nötige Änderung und Erneuerung unseres Organisationslebens begonnen.
Über das Wachstum der LCR hinaus haben wir beschlossen, ab September dieses Jahres regionale Foren zum Aufbau einer wirklich antikapitalistischen Linken zu organisieren. Diese Foren werden für alle Gruppen und Individuen offen sein, die sich von den Themen und Vorschlägen unserer Präsidentschaftswahlkampagne angezogen fühlen, ohne darum gleich in die LCR eintreten zu wollen.
Das Ziel ist dabei, dass wir uns in offener und auf breite Einheit gerichteter Weise über die Kreise unserer eigenen Sympathisanten hinaus an alle Aktiven der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen wenden, die von der Regierungslinken enttäuscht sind und sich die Frage stellen, wie eine wirklich linke politische Kraft aufgebaut werden kann, die mehr umfasst, als nur die bestehenden revolutionären Organisationen. Im Dezember werden wir die Bilanz aus diesen Foren ziehen und sehen, ob wir eine neue Etappe im Aufbau einer neuen Partei, einer kämpferischen Linken angehen können.


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