SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 19

Marxistischer Troubadour

Zur Erinnerung an Paul Lafargue (1842—1911)

Paul Lafargue ist nur als der Schwiegersohn von Karl Marx bekannt, der das "Recht auf Faulheit" proklamierte. Andere Facetten seiner vielseitigen Persönlichkeit und seines theoretischen Werkes sind weithin vergessen.
Durch seine Geburt in Santiago de Cuba war Lafargue der einzige Marxist seiner Generation, der hautnahe Bekanntschaft mit der Kehrseite der europäischen Expansionspolitik machte. Unter seinen Vorfahren waren Angehörige von drei unterdrückten Nationalitäten — er stammte von Schwarzen, karibischen Ureinwohnern, Juden und Franzosen ab.
Bei seinem Leben als Mulatte in Paris, Madrid und London war er immer aufs neue mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert — auch innerhalb der Arbeiterbewegung. (1856 schrieb er in einem Artikel über die Sklaverei in Amerika: "Sie schleudern uns als Beleidigung die Bezeichnung homme de couleur [farbiger Mensch] ins Gesicht. Es ist unsere Aufgabe als revolutionäre Mulatten, die Bezeichnung aufzunehmen und sich ihrer würdig zu erweisen.")
Durch diese einzigartige Abstammung vereinigte sich eine Fülle von widersprüchlichen kulturellen und intellektuellen Einflüssen in Lafargues Denken.
Wie im ersten Band seiner Schriften, der 1995 mit einem Vorwort von Frigga Haug unter dem Titel Geschlechterverhältnisse im Argument-Verlag erschien, gezeigt wurde, war Lafargue — obwohl ein Mann — während seines ganzen bewussten Lebens vehement in der Bekämpfung des Patriarchats engagiert, was ihm den Spitznamen "marxistischer Troubadour" einbrachte. Bei diesem Kampf wurde er einerseits von den feministischen Traditionen der Kämpferinnen der Pariser Kommune (Louise Michel, Paule Mink) inspiriert, andererseits war er in manchen Aspekten ein Nachfolger der Saint- Simonisten, die unter der Leitung von Enfantin die Bedeutung der Frauenfrage immer mehr herausstrichen, um schließlich für freie Liebe zu plädieren und die Vollendung des historischen Prozesses mit der "Emanzipation" und der "Erlösung" des Fleisches zu identifizieren. Mit diesen radikalen Ideen, verursacht wahrscheinlich durch die Ähnlichkeit zwischen rassistischen und antifeministischen Vorurteilen, beeinflusste er prominente politische Exilantinnen in Paris (Clara Zetkin, die aus dem wilhelminischen Deutschland entkommen war, und Alexandra Kollontai, ein Flüchtling aus dem zaristischen Russland).
Im jetzt vorliegenden Band sind alle wesentlichen Essays über kulturelle und religiöse Fragen gesammelt. Obwohl Lafargue zu Recht oft beschuldigt wurde, die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Faktoren und Klassenkämpfen mit kulturellen Phänomen in allzu vereinfachender Weise zu erklären (weshalb ihn Karl Marx als "großes Orakel" verspottete), verstand er den Marxismus vorrangig als Methode zur Analyse: "Marx hat seine Geschichtsauffassung nicht in einem Lehrgebäude mit Axiomen, Theoremen, Haupt- und Hilfssätzen vorgebracht, sie ist für ihn nur ein Forschungsmittel, er formulierte sie im Lapidarstil und machte die Probe darauf."
Dieser pragmatische Zugang zum historischen Materialismus, verbunden mit einem kritischen Geist und einer Neigung zur Häresie, ermöglichte ihm auch unorthodoxe Positionen einzunehmen. So schrieb er in einer Studie über die "Anfänge der Romantik": "Das Gehirn des genialen Künstlers … ist der zauberhafte Schmelztiegel, in dem sich im bunten, wirren Durcheinander die Tatsachen, Gefühle und Anschauungen der Gegenwart mit den Erinnerungen an die Vergangenheit versammeln. Dort treffen die heterogensten Elemente zusammen, vermischen sich miteinander, verschmelzen und verschlingen sich, um endlich als gesprochenes, geschriebenes, gemaltes, in Marmor gehauenes oder gesungenes Kunstwerk vor die Welt zu treten. Und das aus dem geistigen Gärungs- und Schmelzprozess geborene Werk ist reicher an Vorzügen als die einzelnen Elemente, die zu seiner Gestaltung beigetragen haben. So weist ein Mischmetall andere Eigentümlichkeiten auf als die Metalle, aus denen es besteht."
Dera rote Faden aller im vorliegenden Buch gesammelten Essays ist Lafargues permanenter Krieg gegen alle bourgeoisen "Gottheiten" des "Fortschritts", der "Gerechtigkeit", des "Friedens", der "Vernunft", der "Freiheit", der "Zivilisation", der "Menschlichkeit", der "Nation" — gegen alles, was angeblich das Schicksal jener Länder bestimmt, die es geschaffen haben, das aristokratische Joch abzuschütteln. Bürgerliche Moral war für ihn nichts anderes als Rechtfertigung für Handeln oder Nicht-Handeln der Bourgeoisie.
Indem Lafargue in seinen literarischen Kritiken immer den Klassencharakter der Kunst und die soziale Funktion des Künstlers in den Mittelpunkt stellt, nimmt er in vielem die grandiosen Studien von Mehring und Plechanow auf diesem Gebiet vorweg. Im Lichte dieser Fakten muss er wahrscheinlich als erster Vertreter einer "Kulturpolitik" angesehen werden, der den versteckten Formen politischer Dominanz entgegenwirken und die bestehende soziale Ordnung durch ein System überwinden wollte, in dem Macht nicht mehr zentralisiert und zwanghaft, sondern auf Basis eines breiten Konsenses ausgeübt wird.

Entnommen aus: Paul Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Berlin (Karl Dietz Verlag) 2002, 392 S., 24,95 Euro.




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