SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 3

Alternativen braucht das Land

Arno Klönne über den rot-grünen Systemwechsel

In vielen europäischen Staaten, so auch in der Bundesrepublik, vollzieht sich gegenwärtig ein Prozess des Verfalls demokratischer Potenziale in unterschiedlichen Ausformungen, teils als Ausbreitung des sog. Rechtspopulismus, teils als Rückzug aus der Beteiligung an der institutionellen Politik.

Wer sich mit diesem hochriskanten Trend auseinandersetzen will, muss die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Herausforderungen insgesamt in den Blick nehmen und fragen: Welche Umbrüche in der Sozialverfassung und im Politiksystem wirken sich da aus, weshalb geraten im Bewusstsein vieler Menschen demokratische Ideale in Misskredit — auf welche Weise wird der Boden bereitet für jene Neigungen, die dann — ziemlich ungenau — als rechtspopulistisch bezeichnet und beklagt werden?
Was die Bundesrepublik Deutschland angeht, so reicht es wahrhaftig nicht aus, Jürgen W. Möllemann als Antreiber im demagogischen Umgang mit Politik zu identifizieren —, der war demagogisch tätig schon zu Zeiten, als christdemokratische und sozialdemokratische Parteivorständler ihn noch konkurrierend als Koalitionär akzeptierten oder sich wünschten.
Nach meinem Eindruck hat der gegenwärtig in der Bundesrepublik herrschende politische Diskurs den Charakter einer kalkulierten Ablenkung von den realen gesellschaftlichen Problemen und Veränderungen; ein Vertuschungsmanöver spielt sich da ab, auch im Hinblick auf die Hintergründe rassistischer und antisemitischer Tendenzen.

Der schleichende Umsturz

In Deutschland wird, seit einigen Jahren schon und inzwischen mit gesteigerter Intensität, ein schleichender Umsturz der gesellschaftspolitischen Verhältnisse betrieben, auch als stillschweigender Bruch mit Prinzipien der geschriebenen Verfassung, des Grundgesetzes also.
Dieser Vorgang kommt undramatisch daher und spielt sich ohne öffentliche Entscheidungsdebatte hinter dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger ab. In der Substanz aber geht es um einen historisch dramatischen Systemwechsel, und zwar in drei Zugriffen, die einen ursächlichen Zusammenhang haben:
Erstens werden die Grundlagen einer auf sozialen Ausgleich gerichteten, kollektiven und Solidarität verlangenden Daseinsvorsorge zerstört, wohldosiert in der Taktik, aber höchst konsequent in der Strategie — im Rentensystem, der Absicht nach demnächst auch im System der gesundheitlichen Versorgung und der Absicherung bei Arbeitslosigkeit. Die "Privatisierung" bisher öffentlicher Dienstleistungen läuft auf denselben Effekt hinaus.
Es geht bei alledem nicht um eine "Modernisierung des Sozialstaats", sondern um dessen schrittweise Abschaffung, um die Anbahnung einer — sozial betrachtet — anderen Republik, in der alle Lebensvollzüge den Regeln des Kapitalismus und sozialdarwinistischen Grundwerten unterworfen sein sollen.
Zweitens wird das deklarierte Prinzip beseitigt, auf das nach dem Desaster des "Dritten Reiches" deutsche Militärpolitik beschränkend festgelegt worden war, nämlich das der territorial begrenzten Verteidigung. Im Zeichen der "Enttabuisierung des Militärischen" wird deutsche Militärmacht weltweit einsetzbar für die "robuste", d.h. gewaltförmige Interessen- und Machtpolitik, auf geostrategische Räume und ökonomische Ressourcen zielend, teils auf fremde, teils auf eigene Rechnung.
Das geschieht angepasst an die globale Hegemonie der USA, aber doch durchaus mit selbstständigen deutschen Ambitionen, unter Herabsetzung der Vereinten Nationen, unter Vernachlässigung des Völkerrechts, ideologisch gestützt durch die Feinderklärung gegen eine flexibel definierbare "Achse des Bösen", inzwischen auch mit dem Anspruch, Präventivkriege zu führen.
Mit dem herkömmlichen Sinn des Ressortbegriffs "Verteidigung" hat dies nichts mehr zu tun. Es handelt sich vielmehr um die Entscheidung für eine deutsche Teilnahme an imperialistischer Politik, wenn auch im zweiten Rang. Mit den Intentionen des Grundgesetzes ist eine solche militärpolitische Doktrin zweifellos nicht vereinbar. Dass militärpolitischer Ehrgeiz zu Umschichtungen im Staatshaushalt führen wird, zulasten der Sozialpolitik, liegt auf der Hand.
Drittens betreibt die politische Klasse in Deutschland einen Wandel des Politiksystems. Demokratische Funktionen und Strukturen in den Parlamenten und Parteien verflüchtigen sich, an ihre Stelle tritt eine telekratisch geformte Konkurrenz um Führungsämter (Kanzler, Ministerpräsidenten), mit Parteien als Marketingagenturen und Parlamenten als Akklamationsversammlungen für regierende oder um das Regierungsamt sich bewerbende Spitzenkräfte.
Parteitage dienen der Inszenierung innerparteilicher Geschlossenheit und des Machtwillens, nicht der politischen Willensbildung. Es gilt inzwischen als selbstverständlich, dass Parteiführer bei Parteitagen eine Zustimmungsrate von 95 plus x der Delegiertenstimmen zu erreichen haben, wie einst in "volksdemokratischen" Veranstaltungen. Parlamentarier legen ihr Gewissen beiseite, um Vertrauen (oder Misstrauen) zu einem Kanzler zu demonstrieren.

Politikverdrossenheit und Opposition

Wer käme heute noch auf die Idee, dass im Parlament über gesellschaftspolitische Weichenstellungen gestritten und entschieden werden soll? Ein wachsender Teil der Bevölkerung, insbesondere der nachwachsenden Generation, gibt dieser Form von Politik keinen Kredit mehr und hält das Parteiensystem im günstigen Fall für einen nur manchmal unterhaltsamen Zirkus, im weniger günstigen Fall für ein Schwindelunternehmen.
Immer mehr Menschen haben das Gefühl: Die wirklichen "Macher" in der Gesellschaft stellen sich ohnehin nicht zur Wahl, und die tatsächlichen gesellschaftlichen Richtungsentscheidungen werden von der offiziellen Politik gar nicht erst zur Diskussion gestellt, insofern demokratischer Willensbildung entzogen. Politische Apathie ist eine Reaktion auf diesen Zustand, eine andere die Empfänglichkeit für das, was da — diffus auftretend — als Rechtspopulismus etikettiert wird.
Aber es gibt andere Reaktionen, auch diese in wachsendem Umfange. Es kommt demokratisch motivierte Opposition auf, vielgestaltig und als Suchbewegung. Zur Resignation besteht kein Grund. Vorschlagsweise und aus meiner persönlichen Sicht einige Orientierungspunkte für die nächste Zeit, beim Vorgehen derjenigen, die das Wegräumen sozialer Solidarität nicht hinnehmen, den globalen Militarismus nicht akzeptieren, sich mit dem stillen Abschied von der Demokratie nicht abfinden wollen.

Schröder, Stoiber oder was?

Bei der für September anstehenden "Kanzlerwahl" (die in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist) mag es plausible Gründe geben, Gerhard Schröder den Vorzug vor Edmund Stoiber zu geben (auch wenn Guido Westerwelle als Vize so oder so dabei herauskommen kann).
Aber es gibt keinen Grund, deshalb mit der Kritik zurückzuhalten: Die rot-grüne Bundesregierung trägt ihre eindeutige Verantwortung für Weichenstellungen in Richtung auf Abbau des Sozialstaats, Umverteilung nach oben, Militarisierung der Außenpolitik, Verfall der Parlaments- und Parteiendemokratie. Das ist öffentlich und unmissverständlich herauszustellen.
Eine Wiederbelebung sozialer, gewaltfreier und demokratischer Ideale in der Politik ist nicht von einem Erweckungserlebnis der etablierten Parteien zu erhoffen, sondern nur von einem wachsenden Druck sozialer Bewegungen und Verbände, konfliktbereiter Gewerkschaften, außerparlamentarischer Initiativen, in der Auseinandersetzung mit der lähmenden Ideologie, die Globalisierung lasse keine Alternativen zu den herrschenden Politikmustern zu.
Demokratie gibt es nur, wenn es Opposition mit dem Anspruch auf gesellschaftspolitische Alternativen gibt, nicht als bloße Rivalität um politische Ämter. Entgegenzutreten ist dem weitverbreiteten Irrtum, gesellschaftliche Wirkung sei nur durchs Mittun im etablierten Politikbetrieb und durch Regierungsfähigkeit zu erreichen. Soziale und demokratische Fortschritte sind, geschichtlich betrachtet, in aller Regel durch entschiedene Opposition zustande gekommen.
Außerparlamentarischen oppositionellen Bewegungen heute werden die Massenmedien keinen Vorschuss geben. Es wird notwendig sein, auf eigene Weise Öffentlichkeit herzustellen, eigene organisatorische Fähigkeiten zu entwickeln, kooperative Strukturen für die Diskussion und für Aktionen auszubauen, in aller Vielfalt, ohne Rechthaberei und ohne Monopolansprüche; da ist vieles an Fehlern aus der Vergangenheit der Linken zu vermeiden. "Alternativen braucht das Land" — in der Sache, aber auch in der Methode von Politik. Die Suche nach solchen Alternativen setzt ein mit der öffentlichen Klarstellung: Wir jedenfalls wollen uns auf das, was die herrschende Politik den Bürgerinnen und Bürgern zumutet, nicht länger einlassen.
Arno Klönne

Arno Klönne, Politikwissenschaftler in Paderborn und Aktivist der Initiative "Wir mischen uns ein", hielt diesen Beitrag als Statement zur Abschlussdiskussion der Tagung "Alternativen braucht das Land" am 8.Juni in Frankfurt am Main. Siehe den Bericht.




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