SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 8

Falsche Vermischungen

Rückblick auf die Antisemitismusdebatte

Die Antisemitismusdebatte um Karsli, Möllemann und die FDP ist "offiziell" beendet worden. Karsli ist raus aus dem politischen Spiel. Möllemann hat sich (formal) entschuldigt und die FDP hat ihn (weitgehend) in seine Schranken verwiesen. Die Intensität, mit der die Debatte mehrere Wochen die deutsche Innenpolitik beherrscht hat, ist reflexions- und erklärungsbedürftig.
Beides findet man jedoch nur selten in den veröffentlichten Artikeln, TV- und Radiobeiträgen, den Leserbriefen und sonstigen Meinungsbekundungen. Unter einem Berg von Papier- und Filmmaterial ist der tatsächliche Ablauf der Debatte kaum noch zu rekonstruieren. Die Konturen verwischen, Argumentationen stehen sich als prinzipiengesättigte Positionen unvermittelt gegenüber. Und was bemerkenswert kurz gekommen ist, sind die — wenn man es mit dem Thema Antisemitismus ernst meint — doch so wichtigen Fragen, was Antisemitismus eigentlich ist, wie er zu bekämpfen ist und in welchem Kontext die heutige Debatte stattfindet.

Was ist Antisemitismus und wie wird er bekämpft?

Antisemitismus bezeichnet die Haltung einer allgemeinen Judenfeindschaft. Begonnen als religiöse Judenfeindschaft im Mittelalter äußerte er sich zumeist in Formen der Ghettoisierung der jüdischen Minderheit, in mörderischen Pogromen und Vertreibungsaktionen. Er zeichnet sich dabei dadurch aus, dass er in "den Juden" mal mehr mal weniger Sündenböcke oder Verschwörer sieht und sie für ursächlich schuld an diesem und jenem hält. Im 19.Jahrhundert, im Kontext der Nationalisierung imperialistischer Politik, wurde der Antisemitismus politisch aufgeladen und rassistisch-biologistisch gefasst. Aufgrund vermeintlicher rassischer Minderwertigkeit müsse man sich von "den Juden" distanziert halten. Im deutschen Faschismus nahm dieser Reinhaltungsgedanke schließlich kollektiven Vernichtungscharakter an.
Nach Auschwitz wurde der Antisemitismus nicht nur, aber vor allem in Deutschland geächtet und tabuisiert. Mit der Aufarbeitung des faschistischen Erbes durch die Neue Linke der 60er und 70er Jahre wurde auch der Antisemitismus sowohl in seiner historischen als auch seiner latent weiterwirkenden Form erneut zum Thema. Politisch verkompliziert wurde diese aufkommende Diskussion durch die im Gefolge des israelischen Sechs-Tage-Krieges 1967 sich zuspitzenden Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Der arabische Befreiungsnationalismus wandte sich seit Existenz des Staates Israel nicht nur praktisch gegen denselben, sondern vor allem auch gegen dessen zionistische Grundlagen (Israel als Heimat aller Juden; die Juden als Gottes auserwähltes Volk; die Palästinenser als nicht gleichberechtigte Volksgruppe). Von Beginn an finden sich hier auch antijüdische Anklänge.
Im Westen, speziell in Westdeutschland, ist diese Ambivalenz über die internationalistische Solidaritätsarbeit der sozialistischen Linken eingesickert. Und schon früh kamen erste Vorwürfe gegen "die" deutsche Linke auf, vor allem von zionistischer Seite. Zuerst wurden vor allem nichtzionistische und explizit antizionistische Juden des Antisemitismus und "jüdischen Selbsthasses" bezichtigt. Dann auch immer mehr die nichtjüdische Linke als ganze. Antizionismus ist gleich Antisemitismus, diese herrschaftliche Gleichsetzung wurde zunehmend auch von Linken übernommen.
Parallel zum Zerfall der sozialistischen Linken in den 80er Jahren und der Aufarbeitung des faschistischen Erbes wurde der Antisemitismusbegriff postmodern "aufgebläht". So wie die unbewusste Benutzung rassistischer Klischees jemanden bereits zum originären Rassisten stempelte, wurde auch die Reproduktion antisemitischer Klischees oder die mangelnde Abwehr derselben zum Indikator für handfesten, "ewigen" Antisemitismus.
Betrachtet man die heutige Debatte, so kann man leicht feststellen, dass hier Antisemitismus im umfassenden, alles zu einem definitorischen Brei vermischenden Sinne gebraucht wird. Der religiöse Antisemitismus ist jedoch nicht dasselbe wie der rassistisch-faschistische. Nochmals anders steht es mit jenem gesellschaftlichen Antisemitismus, der als Pseudo-Protest innerhalb der Herr-Knecht-Dialektik im Kapitalismus weiterwirkt oder mit jenem sich an die Kritik der Politik Israels heftenden Antisemitismus. Die undifferenzierte Vermischung dieser diversen Antisemitismen behindert aber gerade eine gesellschaftliche Diskussion der aktuellen antisemitischen Gefahren, denn einen rassistisch-faschistischen Antisemitismus sollte man anders bekämpfen als die Benutzung allgemeiner antisemitischer Klischees. Die im ersten Falle berechtigte und notwendige diskursive und personelle Ausgrenzung fördert im zweiten Falle die Verhärtung, nicht die Auflösung solcher antisemitischen Klischees. Letzteres geht nur mit kommunikativer Vernunft, mit Argumentation. Wer behauptet, dieses sei nicht möglich, dem fehlen offensichtlich die dazu notwendigen Argumente.
Der Ex-Grüne und Möchtegern-FDP‘ler Jamal Karsli sprach von einer "zionistischen Lobby" und davon, dass die israelische Regierung "Nazi-Methoden" anwende. Stempelt ihn dies zum Antisemiten? Nicht automatisch: Es gibt eine zionistische Lobby, denn Lobbypolitik ist eine originär bürgerliche Form von Politik, der sich alle gesellschaftlichen Gruppen bedienen — auch die politisch-religiöse Bewegung des Zionismus. Falsch wird es erst, wenn Karsli von dieser zionistischen Lobby behauptet, sie habe "den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne". Das ist nicht nur dumm, sondern auch ein antisemitisches Klischee. Dass die meisten der Diskutanten nicht diese Äußerung Karslis benannt haben und statt dessen den Begriff der zionistischen Lobby als ausreichenden Beweis gegen Karsli ansehen, zeigt, dass hier die Rede von einer zionistischen Lobby als solche zum Antisemitismus gestempelt werden sollte.
Auch der Begriff der Nazi-Methoden ist nicht ganz so eindeutig wie zumeist behauptet. Natürlich, hinter dem Vergleich der israelischen Politik mit der nationalsozialistischen lauert die Entlastung der einzigartigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vergleiche jedoch sind ein unumgängliches Rüstzeug historischer Wissenschaft und politischer Argumentation. Ein solcher Vergleich heißt nicht automatisch, dass man mit ihm auch Unterschiede verwischt. Genau dies wird aber allzu oft behauptet. Zumal gerade von jenen, die in anderem Zusammenhang den Vergleich mit dem Hitlerfaschismus wieder salonfähig gemacht haben — gegen renitente Dritte Welt-Potentaten.
Man kann also gegen Karsli argumentieren, ohne ihn gleich zur persona non grata (mit Berufs- und Politikverbot) zu stempeln. Die Intention seiner Israelkritik scheint dagegen ehrlich gemeint. Er selbst scheint einer jener typischen (Halb-)Linken zu sein, die aus mangelnder Sensibilität für die einzigartigen Gräuel des deutschen Faschismus allzu schnell schiefe Vergleiche ziehen.
Anders dagegen Möllemann. Auch er will nicht einsehen, was sein Satz, er fürchte, "dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland leider gibt, mehr Zulauf verschafft, als Herr Sharon und in Deutschland Herr Friedman mit seiner intoleranten, gehässigen Art" an antisemitischen Klischees transportiert und hat sich für ihn nur formal, nicht inhaltlich entschuldigt. Dies bei einem Politiker seines Kalibers erhärtet in der Tat den Verdacht, dass er diese Klischees bewusst inszeniert. Doch muss daran erinnert werden, das er seinen entscheidenden Satz erst spät fallen ließ. Da war der Vorwurf des Antisemitismus schon in der Welt. Friedman und andere zielten offensichtlich auf Möllemanns Israelkritik ("Staatsterrorismus" & Selbstverteidigung im Lande des Aggressors). Diese Vermischung jedoch und der Versuch, mit Möllemann gleich auch Westerwelle und die gesamte FDP in Kollektivhaft zu nehmen, offenbaren, dass es eben um mehr als nur um Antisemitismus bei dieser Debatte ging und geht.

Gesellschaftspolitischer Kontext

Ob es bei Möllemanns Politik um eine rechtspopulistische Kampagne der FDP geht, ist zumindest diskussionswürdig. Der neoliberale Populismus der FDP-Führung speist sich wie der Neoliberalismus als solcher auch aus sozialdarwinistischen, neorassistischen Quellen. Das stempelt ihn jedoch nicht per se zum braunen Sumpf. Auch dieser Unterschied ist nicht unwesentlich bei der Frage, ob wir es mit einem wiederauferstandenen alten Gegner (dem deutschen Faschismus) zu tun haben oder mit dem Abfallprodukt eines ganz und gar zeitgenössischen politischen Programms (dem neorassistischen Neoliberalismus).
Mindestens ebenso ging und geht es bei der Debatte um einen versteckten Machtkampf innerhalb der FDP (die neuen Juppies gegen die alte Garde von links bis rechts, von Hamm-Brücher und Leutheuser-Schnarrenberger bis Gerhardt und Lambsdorff).
Es ging und geht aber auch um einen politisch-ideologischen Lagerkampf gegen die FDP. Vor einem Jahr noch umfassend für verrückt erklärt, haben sie es nun, dank des Versagens rot-grüner "Reform"-Politik und schwarzer Alternativlosigkeit, geschafft, ihr Projekt 18 als realistische Möglichkeit zu etablieren. Mit der Äquidistanz-Strategie haben sie es geschafft, eine oppositionelle Stimmung in der Bevölkerung aufzugreifen, um sie für ihre neoliberalen Zwecke auszunutzen. Da kam der Fall Karsli- Möllemann in der Tat gerade zur passenden Zeit. Und wenn ausgerechnet jene Politikerbande über Möllemanns Populismus herfällt, die sich gezielt und mit offensichtlicher Freude bei den WM-Spielen der deutschen Nationalelf filmen lässt (Schröder, Fischer, Stoiber, Rüttgers u.a.) und sogar die Arbeitgeber dazu aufruft, großzügig über das entsprechende Krankfeiern ihrer Angestellten hinweg zu sehen, dann ist doch etwas faul in diesem Lande.
Es ist richtig, antisemitische Klischees offen zu legen und anzugreifen und insofern muss man dem Zentralrat der Juden Recht geben, dass er frühzeitig entsprechendes bei Karsli und Möllemann vermutet hat. Das entledigt ihn und andere aber nicht, angemessen darauf zu reagieren. Mit der Verwischung von Antisemitismus und der Benutzung von antisemitischen Klischees (entweder unbewusst oder aus bewusster politischer Strategie) nimmt man sich aber alle Möglichkeiten aus der Hand, die verschiedenen Ebenen angemessen zu thematisieren. Mit der Vermischung der Grenzen von Antisemitismuskritik und Israelkritik schließlich macht man sich zu Komplizen kriegführender Regierungen.
Wer durch den faschistischen Antisemitismus sensibilisiert ist, dem verbieten sich nicht nur schiefe Vergleiche zwischen damals und heute, dem verbietet sich auch jene Schuldzuweisung an "die" Juden für das, was eine konkrete Regierung, ein konkreter Staat — sprich: Israel — tut. Doch was theoretisch so einfach scheint, ist in der Praxis komplizierter, wie bspw. Moshe Zimmermann in der SZ geschrieben hat: "Für die israelische Politik der letzten 25 Jahre gilt jeder Hinweis auf Antisemitismus, ob in Nahost oder Europa, als Bestätigung der im Zionismus verbreiteten Vermutung, dass der Antisemitismus allgegenwärtig und ewig ist und Israel deshalb vom Nachdenken über seine Ideologie und Politik — gegenüber Palästinensern, israelischen Arabern, linken ‚Verrätern‘ etc. — freigestellt sei."
Erschwerend hinzu kommt, dass diese im Zionismus wurzelnde Gleichsetzung von Israelkritik mit ewigem Antisemitismus mindestens von vielen jüdischen Gemeinden außerhalb Israels sowie von Teilen der dortigen Linken übernommen wurde. Für führende Vertreter des deutschen Zentralrats (Spiegel & Knobloch, Friedman hat sich hier eher zurückgehalten) ist Israel die Heimstätte aller Juden und die Politik Sharons eine "angemessene und legitime" Reaktion (Paul Spiegel). Wenn also einer der Scharfmacher in der Debatte, Heribert Prantl in der SZ, den Israelkritikern vorwirft, sie betrachteten die deutschen Juden, "als handele es sich nicht um die Vertretung einer Religionsgemeinschaft, sondern um die diplomatische Vertretung Israels", so muss man antworten, dass gerade der Zentralrat sich genau so verhalten und geäußert hat. Religionspolitik und Identitätspolitik vermischen sich hier. Wie gerade dieses Problem behandelt werden kann/ soll, das ist die entscheidende und noch unklare Frage.
Es sei ja gar kein Tabu, Israel zu kritisieren, erklären viele. Das ist so wahr wie falsch. Man darf bekanntlich alles kritisieren im System repressiver Toleranz, wenn man bereit ist, sich mit Marginalität abzufinden. Aber wie man Israel "richtig" kritisieren darf, das sagen die vielen zumeist nicht. Die einen sehen Israel in seiner Existenz gefährdet (kritisch dazu meinen Beitrag in SoZ 5/02). Die anderen ziehen sich auf die Argumentation zurück, dass irgendwie beide Konfliktseiten im Nahen Osten schuld seien. Das ist ebenfalls so richtig wie falsch. Richtig, weil auch die palästinensische Seite ihre Verantwortung tragen muss. Falsch, denn es gibt in diesem Krieg einen Aggressor und einen Ohnmächtigen — Herr und Knecht, wie der israelische Historiker Moshe Zuckermann jüngst betonte. Die politisch-menschliche Barbarei der Selbstmordattentate kann nicht über diesen eine strukturelle Machtasymmetrie ausdrückenden Tatbestand hinweg täuschen. Das nicht zu benennen, verurteilt einen zu politischer Hilflosigkeit.
Wie weit mittlerweile ein jüdischer oder linker Antizionismus als Antisemitismus denunziert wird, musste bspw. der israelische Friedensaktivist und "Nestbeschmutzer" Uri Avnery erfahren. Von Konkret interviewt — und zugleich als "Kronzeuge der deutschen Feinde Israels", "der die Lynchmorde palästinensischer Terroristen gutheißt" verleumdet — antwortete er auf die Frage, ob er mit seiner scharfen Israel-Kritik den Antisemiten nicht Munition liefert: "Ich würde diese Unterstellung als ekelhafte Gräuelpropaganda bezeichnen, die nicht weit von der Mentalität der Antisemiten selbst entfernt ist."
Nun, weder Karsli noch Möllemann sind Avnery. Die argumentativen Kurzschlüsse gegen jene und die in ihnen sich äußernde Vermengung von Antisemitismuskritik und Israelkritik treffen aber auch dessen Position und das ist eine Gefahr, die gerade Linke sehr ernst nehmen sollten.

Christoph Jünke


LeserInnenbrief@soz-plus.de
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