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Wie schafft der Mann das? Frank Bsirske, der unverbrauchte Ver.di-Vorsitzende mit grünem Parteibuch, entwirft Mitte
Juni in einem umfangreichen Dossier "Eine Strukturreform des solidarischen Gesundheitssystems in Deutschland". Keine leichte Kost, und der
Gewerkschaftsvorsitzende ist nicht vom Fach. Doch Bsirskes politischer Stab hat ihm gleich vier Professoren als Co-Autoren zur Seite gestellt
Bäcker, Glaeske, Lauterbach und Pfaff. Hätte Bsirske nur misstrauischer nachgefragt. Dann hätte er erfahren: Alle vier hatten zwei Monate
zuvor einen weitgehend deckungsgleichen Text mit vorgestellt: "Reform für die Zukunft: Eckpunkte einer neuen Gesundheitspolitik"
jedoch als Auftragsarbeit für die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung.
Schon beim Startschuss für den Ver.di-Kampagnenbeitrag gegen die drohenden
Gesundheitseinschnitte hatte sich Bsirske Argwohn zugezogen. Denn er kündigte den Besuch ostdeutscher Gesundheitszentren an, ausgerechnet
gemeinsam mit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). "Kuschelkurs würde ich das nicht nennen", verteidigte Bsirske damals die
überraschende Bündnispolitik zu Beginn des Wahljahres.
Auch nach den ersten Monaten unserer Gesundheitskampagne hat sich Ver.di noch nicht klar
aufgestellt. So lässt ihr Motto "Mehr bewegen für eine gesunde Reform" viel Spielraum für späteres Nachjustieren.
Und schon jetzt im Juni bewegen sich die strategischen Vorschläge unversehens bis hinein in die neoliberalen Planspiele für die Entfesselung des
Gesundheitsmarkts.
Ungeprüft übernimmt die Autorengruppe die paradoxe Behauptung, steigende
Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt bei einer überalternden Bevölkerung mit Erkrankungshäufungen würde eine
"echte" Strukturreform erzwingen. Trotz 15 Millionen Privatversicherten mit Wahlleistungen und Chefarztbehandlung stehe eine Zwei-Klassen-
Medizin erst noch bevor. Die Drohungen einer Demontage der solidarischen Grundlagen unserer Krankenversorgung werden einzig bei CDU/CSU, FDP und den
ärztlichen Standesorganisationen wahrgenommen.
"Wir brauchen wirkliche Reformen, bei denen es auch Verlierer auf der Seite der Leistungsanbieter geben wird, die sich der notwendigen
Qualitätsoffensive verweigern: Qualität soll honoriert, Defizite in der Qualität aber auch sanktioniert werden." Das auf die
niedergelassenen Ärzte verengte Feindbild und der Ruf nach einem Qualitätswettbewerb ziehen sich als Leitmotive von vorne bis hinten durch. Ohne
Scheu wird da Qualität mal gepaart mit Effizienz, mal mit zur Zeit erwiesener Wirksamkeit, mal mit Transparenz.
Bereits im März hatte Bsirske der Presse mitgegeben, der Wettbewerb zwischen den
Krankenkassen müsse sich künftig stärker an der Qualität orientieren. Jetzt sollen diese Krankenkassen ungeachtet ihrer Konkurrenz
zukünftig zugleich als Schiedsrichter, Einkäufer und Sparkommissare auf den Gesundheitsmarkt losgelassen werden im Dienste der
Qualitätssicherung.
Dabei hat noch vor grad zwei Jahren die Vorläufergewerkschaft ÖTV sehr viel
hellsichtiger in einer Broschüre gewarnt: "Inwieweit der fachliche Erkenntnisstand tatsächlich genutzt wird, um die Güte einer
erbrachten Leistung zu beurteilen und weiter zu entwickeln, muss bezweifelt werden. Solange wirtschaftliche Einzelinteressen und ökonomische Effizienz
im Gesundheitswesen vorherrschen, werden diese auch immer die Güte gesundheitlicher Dienstleistungen bestimmen."
Versuchen wir ein kurzes Gedankenexperiment, führen wir die öffentlichen
Bedürfnisanstalten in unserer Stadt in einen solchen Wettbewerb um Qualität. An jeder Toilettenanlage wird offen an die Außentüren
notiert, wie oft geputzt wird, Testergebnisse, der bauliche Zustand, die Zufriedenheit der Benutzer, das Preis-Leistungs-Verhältnis. Könnten wir
dank dieses Wettbewerbs, wenn uns nun ein Bedürfnis zur Toilette drängt, unsere Entscheidung anders treffen?
Und vor allem: Was wird aus den unterdurchschnittlichen Toiletten? Drohen ihnen
"Sanktionen", werden sie gar "vom Markt genommen", ersatzlos und durchaus kostensparend? Offenbar muss die öffentliche
Daseinsfürsorge gerade dort fordernd und fördernd eingreifen, wo wir sonst schlechter versorgt wären.
"Markt und Wettbewerb sind völlig ungeeignet, die Strukturprobleme im Gesundheitswesen zu beseitigen." Zu diesem Schluss kommt die
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die genau einen Tag später als die Autorengruppe um Bsirske einen ganz anders ausgerichteten Beitrag
vorlegte. Ihr Sondermemorandum "Gesundheitspolitik: Solidarität statt Privatisierung und Marktorientierung" ist dabei mindestens ebenso
gewerkschaftlich orientiert an den Interessen der Kranken, der Versicherten und der Beschäftigten.
Tobias Michel