SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 11

Generalstreik in Spanien

Bruch mit dem Verhandlungskurs

Vor zweieinhalb Jahren kam der französische Handelsminister nicht pünktlich zur WTO-Ministerrunde in Seattle: er war zu spät aufgestanden, die Demonstranten vor ihm da und blockierten ihm den Weg. Auf der Seite der Globalisierungskritiker war die Freude groß, war die Behinderung doch ein Symbol dafür, dass es möglich ist, Sand selbst ins mächtigste Getriebe zu werfen.
Die Symbolik beim EU-Gipfel in Sevilla lässt ermessen, welchen Weg die globalisierungskritische Bewegung mittlerweile durchschritten hat: Hier hat der Generalstreik der spanischen Gewerkschaft am 20.6. die Staats- und Regierungschefs dazu gezwungen, ihre gemeinsame Anreise nach Sevilla um einige Stunden zu verschieben; sie konnten erst am Morgen des 21.6. einfliegen, statt wie geplant bereits am Vorabend.
Denn der Verkehr des Landes war vollständig lahmgelegt. Wie zwei Monate zuvor in Italien maßen die Gewerkschaften den Streikerfolg am Stromverbauch — er war auf das Niveau von Feiertagen gesunken; dafür erfreute sich der Bäderbetrieb hohen Zulaufs.
Zehn Millionen Beschäftigte waren im Ausstand: fast die gesamte Industrie, die Bauwirtschaft, die Landwirtschaft, Universitäten und Schulen. Industrie- und Einkaufszentren waren verwaist, viele Einzelhandelsgeschäfte hatten geschlossen, die Strände waren dafür gefüllt. Zwei Millionen Menschen folgten den Demonstrationsaufrufen im ganzen Land; jeweils eine halbe Million allein in Madrid und in Barcelona.
Dabei hatte die Regierung versucht, den Streik massiv zu behindern, indem sie im Verkehrsbereich und in anderen strategisch wichtigen Bereichen Notdienste durchsetzte, manchmal gestützt auf Gerichtsbeschlüsse. Mit einem großen Aufgebot an Polizei und Guardia Civil versuchte sie, die Streikenden einzuschüchtern. Gleichzeitig spielte sie den Ausstand herunter und ließ über die rechte Presse verknden, nur eine Minderheit habe sich am Streik beteiligt; er sei "gescheitert". Soviel Lügenpropaganda wollte selbst die bürgerliche Tageszeitung El País nicht mitmachen.
Die Behinderungsversuche der Regierung waren jedoch nicht die einzigen Hürden, die es zu überwinden galt. Ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung ist prekär beschäftigt und somit viel stärker den Erpressungsversuchen der Unternehmer ausgesetzt. Zu überwinden war aber auch eine gestiegene Entfremdung der Beschäftigten von den beiden großen gewerkschaftlichen Dachverbänden, UGT und CCOO, die beide zum Streik aufgerufen hatten. Sie haben in den vergangenen acht Jahren ausschließlich auf Verhandlungen mit Regierung und Arbeitgeberverbänden gesetzt und dabei immer mehr gewerkschaftliche Positionen und Rechte aufgegeben und die gesellschaftliche Entsolidarisierung mit vorangetrieben.
Dass der Generalstreik dennoch ein voller Erfolg wurde, liegt daran, dass gesellschaftliche Massenkämpfe in letzter Zeit wieder zugenommen haben: An erster Stelle seien hier die massiven Proteste gegen den Plan Hidrológico Nacional genannt, ein Staudammprojekt, das die gesamte Bevölkerung in Aragón und im südlichen Katalonien gegen sich aufgebracht hat; die Gesetze zur Privatisierung der Hochschulen, die bei den Studierenden gewaltige Proteste auslösten; die fremdenfeindlichen Gesetze gegen Migrantinnen und Migranten, gegen die sich eine breite Koalition unter Einschluss fortschrittlicher Teile der Kirchen gebildet hat; der zunehmende Widerstand gegen die Versuche der Regierung in Madrid, den zentalistischen Zugriff auf das Baskenland wieder zu verstärken, was ihr in Euzkadi eine Wahlschlappe eingebracht und bei den anderen kleineren Nationalitäten im spanischen Staat große Besorgnis ausgelöst hat. Schließlich hat die globalisierungskritische Bewegung mit ihrem Mobilisierungserfolg der 300000 in Barcelona im März dieses Jahres eine einigende und katalysierende Rolle gespielt.
Diesem gesellschaftlichen Mobilisierungsdruck konnten sich die Gewerkschaften nicht entziehen. Mit der Entscheidung für den Generalstreik — und das noch an einem so "politischen" Punkt wie der Deform der Arbeitslosenversicherung — haben sie ihre bisherige Strategie, ausschließlich auf den Verhandlungsweg zu setzen, aufgegeben.
Dass er so massiv befolgt wurde, hat zugleich die Propaganda der Gewerkschaftsführungen Lügen gestraft, die immer wieder behauptet haben, direkte Aktionen seien nicht möglich, weil die Arbeiterklasse dafür zu schwach sei. Auch die Sozialistische Partei (PSOE) hat den Generalstreik unterstützt, obwohl sie mit der neoliberalen Politik der sozialdemokratischen Regierungsparteien in der EU nicht gebrochen hat.
Die UGT hat als erste die Wende zu einer konfrontativen Gewerkschaftspolitik eingeleitet; sie fühlte sich aber zu schwach und hatte wohl auch nicht das ausreichende Stehvermögen, den Generalstreik allein auszurufen. Erst der Ausbruch einer Führungskrise in den Comisiones Obreras, in denen es einen kämpferischen Flügel gibt, der sich auf ein Drittel der Mitgliedschaft stützt und sich gegen Generalsekretär Fidalgo, ein unbeirrter Verfechter des reinen Verhandlungskurses, in Stellung gebracht hat, hat den Weg für die Unterstützung des Generalstreiks in den CCOO freigemacht.
Gleichzeitig bot der Streik eine weitere und erweiterte Gelegenheit für die Konvergenz des "traditionellen" Klassenkampfs mit dem "neuen", vor allem mit der globalisierungskritischen Bewegung. Am Fuß der Rednertribüne in Sevilla geben sich CGIL-Chef Cofferati und der Sprecher der italienischen sozialen Zentren, Luca Casarini, die Hand und reden miteinander über die Notwendigkeit, den Streik europaweit zu verallgemeinern. Das war bis Barcelona noch nicht so.
Während die Gewerkschaften sich sukzessive für die neuen Fragen öffnen, erlangt die soziale Frage für die anderen Bewegungen wachsende Bedeutung. Am unmittelbarsten kommt diese Verbindung bei den zahllosen Jugendlichen zustande, die, abgeschreckt von den alten Gewerkschaftsführungen, aber interessiert an den globalen, politischen Fragen zugleich diejenigen sind, die am stärksten unter der Prekarisierung der Lebensverhältnisse und einer nur noch unsicheren Lebensplanung leiden. Sie waren es, die das Bild in Barcelona und auch jetzt wieder in Sevilla dominiert haben.
Wenn sie den Weg zur gewerkschaftlichen Organisierung finden, werden sie, mit ihren neuen Vorstellungen und Ansprüchen, die Gewerkschaftsbewegung von Grund auf umkrempeln.

Diosdado Toledano/d.Red.


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