SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 14

Parlamentswahl in Frankreich

Die blaue Welle

Die "blaue Welle" ist vorübergeschwappt, aber die Wogen sind eher niedrig ausgefallen. La vague bleue nennt man in Frankreich einen deutlichen Wahlsieg der bürgerlich-konservativen Parteien. Tatsächlich hat der Bürgerblock am 16.Juni dieses Jahres 399 der insgesamt 577 Sitze in der französischen Nationalversammlung erhalten.
Den größten Teil davon (369 Abgeordnete) errang die neue Präsidentenpartei, die sich zur Unterstützung Jacques Chiracs formierte: die UMP (Union für die Mehrheit des Präsidenten). In ihr gingen die bisherigen Rechtsparteien RPR (Neogaullisten), Démocratie Libérale (Wirtschaftsliberale) und etwa die Hälfte der UDF (Christdemokraten und Liberale) auf. Neben der neuen Einheitspartei der Rechten gehören auch die Rest-UDF — die 22 eigene Mandate errang, aber dank einiger auf den UMP-Listen gewählter Abgeordneten eine 31-köpfige Parlamentsfraktion bilden kann — und kleinere (rechts)konservative Gruppierungen zur neuen Parlamentsmehrheit.
Trotz ihres Jubels hat diese jedoch keinen Erdrutschsieg erhalten. Gerade einmal 30,5% der auf die Wählerlisten eingeschriebenen Franzosen und Französinnen (das entspricht 52% der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang) stimmten für die neue Regierung unter Chirac und seinem Premierminister, Jean-Pierre Raffarin. Berücksichtigt man ferner, dass 2 Millionen volljährige Franzosen — vor allem unter den jüngeren Generationen und den sozial deklassierten Schichten — sich gar nicht erst auf die Wählerlisten eingeschrieben haben, dann entspricht dies weniger als 30% der erwachsenen Bevölkerung. Eine Wahlenthaltung von fast 40% (im zweiten Wahlgang waren es 39,8%) und das Mehrheitswahlrecht machten es möglich, dass daraus eine so deutliche Parlamentsmehrheit wurde.
"Das Frankreich von unten", das er repräsentieren wolle — so lautet einer der Schlüsselbegriffe von Regierungschef Raffarin. Er bezeichnet allerdings keine soziale Kategorie. Gemeint ist vielmehr jenes Frankreich, das in kleineren und mittleren Städten, fernab von Pariser Debatten, von lästiger Politisierung und "überflüssiger" Staatsbürokratie, fleißig arbeitet und keine kollektiven Ansprüche stellt. So sieht die Welt des Herrn Raffarin aus, der von 1995 bis 1997 für die mittelständischen Betriebe war und seither als Regionalpolitiker im westfranzösischen Poitiers amtierte.
Es gibt allerdings noch ein anderes "Frankreich von unten", das sich ihm in absehbarer Zeit in Erinnerung rufen könnte. Zwischen 1993 und 1997 hatte die neokonservative Rechte sogar über 84% der Parlamentssitze verfügt — doch die soziale Gegenmacht der Straße hatte die Regierung blockiert. Dennoch ist nicht garantiert, dass es schnell zur sozialen Explosion kommen wird.
Zunächst kann die Rechtsregierung darauf setzen, verschiedene soziale Kategorien gegeneinander auszuspielen. Und namentlich die Lohnabhängigen im privaten Sektor, in dem sehr prekäre Bedingungen herrschen und die Gewerkschaften (durch Repression und den Druck der Massenarbeitslosigkeit) erheblich geschwächt sind, gegen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Denn letztere konnten, durch kollektive Gegenwehr, noch etwas mehr an sozialen Errungenschaft bis hierher retten. 1995/96 wurde der damaligen konservativen Regierung von Alain Juppé zum Verhängnis, dass sich die sozialen Widerstände in einer Reihe von Sektoren gegen sie bündelten und eine Mehrheit der Gesellschaft hinter den streikenden öffentlich Bediensteten stand. Daraus erwuchs eine gemeinsame Dynamik. Ob bzw. wann dieser Fall wieder eintritt, das ist eine bisher noch offene Frage.
Glaubt man einer Umfrage der Boulevardzeitung Le Parisien, dann stimmen 86% der bereits angekündigten Einschränkung des Streikrechts im öffentlichen Dienst (durch Einführung eines service minimum, eines obligatorischen Minimaldienstes) zu. Das ist vor dem Hintergrund der Frustration der Nutzer öffentlicher Transportmittel — unter ihnen viele Ausgebeutete im Privatsektor, die sich aus Angst vor Jobverlust oder Lohnabzug nicht trauen, zu spät zur Arbeit zu kommen — über die Streikfolgen in diesem Sektor zu sehen.
Die Führung des sozialliberalen Gewerkschaftsbunds CFDT hatte bereits im November 1995, mitten im damaligen Streikherbst, ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über die Einführung eines solchen service minimum angekündigt. Die Regierung wird sich daher auf diesen Gesprächspartner zu stützen versuchen, um nicht als Urheber einer einseitigen Brachialoffensive gegen die Beschäftigten zu erscheinen. Die CFDT-Spitze hatte in den letzten Jahren in Rechtsopposition zur Jospin-Regierung gestanden, und gegen "zu viel staatliche Regulierung" gewettert, an deren Stelle eine sozialpartnerschaftliche Regelung unter "verantwortungsvollen Partnern" treten solle.
In der nunmehrigen parlamentarischen Opposition stellt die französische Sozialdemokratie die absolut dominierede Kraft dar. Ihre Stellung ist noch hegemonialer als in der Koalition der "pluralen Linken" unter Lionel Jospin. Der Hauptgrund dafür ist das "Trauma" der Präsidentschaftswahl, bei der nur noch die konservative und die neofaschistische Rechte in der Stichwahl vertreten waren. Die Logik des vote utile, des vermeintlichen "Nützlich-Stimmens" — um wenigstens einen Vertreter der Linken im weiteren Sinne in die Stichwahl schicken zu können —, hat daher bei der Parlamentswahl voll gegriffen.
Die KP erhielt 4,8% der Stimmen (gegenüber 9,9% bei der Parlamentswahl 1997) und kassierte damit, nach der Präsidentenwahl, einen erneuten schweren Schlag. Absprachen mit den Sozialisten über einige Wahlkreise, die der KP (ohne Konkurrenz durch andere Linksparteien) reserviert blieben, haben es der Partei jedoch erlaubt, knapp ihre Parlamentsfraktion — dafür sind 20 Abgeordnete erforderlich — zu retten. Die Grünen mit 4,4% und nur noch drei Abgeordneten mussten ebenfalls Federn lassen.
Die radikale Linke mit 2,8% (gegenüber 2,2% bei der Parlamentswahl 1997) fällt hinter ihre Wahlerfolge bei vorangegangenen Wahlen (Regionalwahlen 1998, Europaparlamentswahl 1999, Präsidentschaftswahl 2002) zurück. Die Aussichtslosigkeit, unter dem Mehrheitswahlrecht einen Sitz zu erhalten, und die sehr massive Kampagne für das "kleinere Übel" gegenüber einer "rechten Republik" hatten ihr große Steine in den Weg gelegt.
Die LCR (Mitglied der IV.Internationale) überholt zum ersten Mal bei einer landesweiten Wahl knapp die Wahlergebnisse von Lutte Ouvrière (1,3% gegenüber 1,2%). Das dürfte eine Quittung für die sektierische Ablehnung jedes Wahlbündnisses durch LO bilden. Aber auch für das Auftreten von LO nach der Präsidentschaftswahl, als die Organisation von Arlette Laguiller den Eindruck erweckte, das Erschrecken über den Erfolg von Jean-Marie Le Pen gehe sie nicht viel an.
Eine Schlüsselfrage für die nähere Zukunft dürfte sein, wie sich die nunmehr größte parlamentarische Opositionspartei profilieren wird. Ein Teil der PS-Funktionäre hatte zwischen der Präsidentschafts- und der Parlamentswahl das Wahlprogramm zunächst ein wenig nach links verschoben, um sich den verlorenen Wählern auf der Linken und in den sozial schlechter gestellten Klassen wieder anzunähern.
So forderte das PS-Programm nunmehr plötzlich, Unternehmen, die Subventionen zur Beschäftigungsförderung erhalten haben, sollten diese Gelder wieder zurückerstatten, wenn sie dennoch entlassen. Die KP hatte zwar schon vor zwei Jahren einen entsprechenden Gesetzestext eingebracht, der auch von der Koalition verabschiedet wurde. Die sozialistischen Ministerien hatten nur leider "vergessen", die notwendigen Ausführungsbestimmungen dafür zu erlassen.
Zudem sollten die Beschäftigten künftig besser "gegen ungerechtfertigte Entlassungen" geschützt werden. Zum Zeitpunkt der börsenbedingten Entlassungen beim Automobilhersteller Michelin verkündete Regierungschef Jospin 1999 noch, dass "der Staat nicht alles regeln" könne.
Doch manche hohen PS-Funktionäre hatten gegen diese wahlpolititisch motivierte Korrektur protestiert. So Laurent Fabius, bis vor kurzem Jospins neoliberaler Wirtschafts- und Finanzminister. Er tönte in der PS-Parteizentrale : "Das ist ein Scheißprogramm, das uns automatisch verlieren lassen wird." Er hat andere Visionen von einem Wiederaufbau der Sozialdemokratie: Erst als Tony Blair mit seiner modernisierten Variante des Thatcherismus angetreten sei, räsonniert er, habe die Partei nach 18 Jahren endlich die Opposition verlassen können. Und eine künftige, erneute Enttäuschung der sozialen Veränderungswünsche ihrer Wäherschaft sollen die Sozialisten — geht es nach seinerVorstellung — künftig anders verhindern. Nämlich, indem sie gar keine Hoffnungen auf soziale Veränderung mehr erwecken.
In der Woche nach der Parlamentswahl ist Laurent Fabius nunmehr zum Parteisprecher der Sozialisten ernannt worden, der bisherige Sprecher Vincent Peillon wurde "geopfert". Im März 2003 soll nunmehr ein PS-Kongress einen Richtungsentscheid treffen. Wahrscheinlich dürfte danach, neben der Sozialdemokratie, noch reichlich Platz auf der Linken sein — es gilt ihn zu nutzen.
Bernhard Schmid (Paris)


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