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Seit Putin Präsident in Russland ist, hat sich die wirtschaftliche Lage stabilisiert. Stimmst du dieser Einschätzung zu?
Boris Kagarlitzki: Nein, die russische Ökonomie ist zwar stabiler und wächst. Aber es handelt sich weder um eine ernsthafte,
langfristige Erholung noch hat Putin etwas damit zu tun. Warum? 1998 stürzte der Rubel ins Bodenlose, und das verteuerte die Importe enorm, was zum
Stillstand der Importe führte. Daraufhin konnte sich der Binnenmarkt erholen, und die russische Ökonomie wurde aufgrund des billigen Rubels auf
dem Weltmarkt konkurrenzfähiger.
Eine Umstrukturierung der Wirtschaft fand jedoch nicht statt, im Gegenteil. Beispielsweise
wollte die Regierung die Verluste machenden Bergwerke schließen, weil der IWF und die Regierung der Meinung waren, dies sei zu teuer für die
russische Ökonomie.
Ein Weltbankkredit in Höhe von 500 Millionen US-Dollar, der Russland
ursprünglich gewährt wurde, um die Bergwerke zu schließen, floss in dunkle Kanäle. Nach dem Sturz des Rubels stellte die Regierung
jedoch plötzlich fest, dass die Bergwerke großen Profit machen. Die Nichtbefolgung der Anweisungen des IWF bescherte der Wirtschaft also neue
Einnahmen.
Der zweite Grund für die wirtschaftliche Erholung war die Industriepolitik der
achtmonatigen Primakow-Regierung, die Übernahmen unter den Bedingungen des Rubelcrashs erleichterte. Drittens profitierte Russland in erster Linie von
dem hohen Ölpreis auf dem Weltmarkt. Ein Fall des Ölpreises würde also erneut eine Rezession für Russland bedeuten.
Doch selbst bei einem stabilen Ölpreis wird Russland in eine Rezession schlittern, denn
es gibt wenige längerfristige Stützen innerhalb der Ökonomie. Die wirklichen Probleme der russischen Gesellschaft werden angehäuft
und nicht gelöst, daher würde ich die Stabilität unter Putin eher mit der unter Breshnew vergleichen. Es brodelt es unter der Oberfläche.
Eine neue Krise wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Was könnten Folgen dieser Krise sein?
Boris Kagarlitzki: Ich bin zwar kein Hellseher, aber es gibt mehrere Szenarien. Die Möglichkeit des sozialen Protests besteht zwar, aber
keine politische Opposition wird daraus Kapital schlagen können, da es in Russland derzeit keine Opposition gibt. Alle politische Parteien,
einschließlich der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), sind in das System kooptiert. Und die, die nicht kooptiert sind, sind
zu unbedeutend.
Die Opposition ist wahrscheinlich noch korrupter als die Regierung. Es gibt massive
Wahlfälschung, worüber die russische Presse offen berichtet, nur die westliche Presse will nichts davon wissen. Die Stimmen der Abgeordneten
werden gekauft, damit sie für oder gegen bestimmte Vorhaben im Parlament stimmen. Alle Parteien verkaufen einen Teil der Parlamentssitze. Der
Nationalist Shirinowski verkauft gleich alle.
Das ist in Russland allgemein bekannt, und niemand schämt sich dafür. Spontane
oder halbspontane Proteste werden erst mal keine Chance haben. Die Regierung wird wahrscheinlich autoritärer und korrupter in der vor uns liegenden
Periode.
Welche Chancen siehst du für die Linke in Russland?
Boris Kagarlitzki: Erst mal muss ich feststellen, dass die KPRF keine linke Partei ist. Der Vorsitzende Sjuganow steht in Wirklichkeit den Ideen
von Le Pen sehr nahe. So ist er bspw. gegen den säkularen Staat und für eine orthodox-christliche russische Gesellschaft. Er ist gegen Rechte
für ethnische Minderheiten, gegen Muslime. Sjuganow ist antiliberal, aber von rechts.
Innerhalb der KPRF gibt es einige kleine Gruppen, die halb klandestin arbeiten. So gibt es die
gemäßigt rechtssozialdemokratische Gruppe von Slukow, die so etwas wie den linken Flügel in der KPRF bildet. Die KPRF in Moskau ist
eher traditionell-stalinistisch, was im Kontext der Partei insgesamt eine gewisse Verbesserung bedeutet, denn sie sind zumindest keine Faschisten.
Links von der KPRF existieren unter der Jugend einige jüngere linke Gruppen. So gibt es
trotzkistische Gruppen, und in mehreren Städten Russlands haben sich Attac-Gruppen gebildet.
Wie steht es um die "Partei der Arbeit" von Oleg Schein?
Boris Kagarlitzki: Die "Partei der Arbeit" existiert nicht wirklich, es gibt gerade mal 400 Mitglieder, jedoch keinerlei internes
Parteileben. In erster Linie benützen Gewerkschaftsbürokraten die Partei für eine Art Lobbyarbeit. Gleichzeitig ist es ein Bündnis
zwischen sehr linken und rechten Gewerkschaftern, die sich jedoch nicht auf eine gemeinsame politische Grundlage einigen konnten.
Die gemeinsam gefundene Grundlage sagt nichts über Politik, sondern spricht sich
lediglich für höhere Löhne und für eine Reform des Arbeitsgesetzes aus. Das ist nicht mehr als ein minimales gewerkschaftliches
Programm. Das Profil der Partei frustriert Interessierte und Aktive. Das ganze ist eine traurige Geschichte.
Das Potenzial für eine neue Arbeiterpartei in Russland existiert durchaus, doch der Weg
dorthin muss ein anderer sein. Solch eine Partei müsste die ganze Breite der realen Arbeiterklasse umfassen, und nicht nur Gewerkschaftsaktiven und
Bürokraten. Die Differenzen und die Konkurrenz unter den Gewerkschaften würde solch ein Projekt von Anfang an belasten.
Bereits die Bewegung gegen die Arbeitsgesetze hat auch deshalb keinen Erfolg gehabt, weil
sich die Gewerkschaftsführungen nicht auf einen gemeinsamen Gegenvorschlag einigen konnten. Die Gewerkschaft von Oleg Schein, Sozprof, spielte
hierbei eine sehr negative Rolle, da er die Position der anderen Gewerkschaften nicht berücksichtigen wollte.
Ein Widerstand von Gewerkschaftern und nichtorganisierten Arbeitern wäre notwendig,
um die Umsetzung des Arbeitsgesetzes zu verhindern. In den Betrieben unternimmt seine Gewerkschaft jedoch nichts, sondern setzt auf Lobbyarbeit mit der
Regierung.
Die Linke in Russland muss mit den neuen sozialen Bewegungen zusammenarbeiten, wir
müssen unsere Strukturen über diese Bewegung aufbauen. Dadurch könnte es langfristig gelingen, die Linke neue aufzubauen.
Was waren die Folgen des 11.September für Russland?
Boris Kagarlitzki: Die emotionalen Reaktionen der russischen Bevölkerung waren mit denen der europäischen Bevölkerung
vergleichbar: Trauer, Angst und Kritik. Die Kritik richtete sich insbesondere gegen den Ausbau der militärischen Stützpunkte der USA in
Zentralasien und Georgien. Hinsichtlich der regierungsoffiziellen Versionen über den 11. September gibt es in der Öffentlichkeit mehr Skepsis und
eine offene Debatte. Auch ich habe da viele Fragen. Ich glaube, die wirkliche Geschichte des 11. September kennen wir alle noch nicht.
Putin und die russische Regierung reagierten auf den 11. September sofort mit dem Argument,
das man ja in Tschetschenien bereits seit Jahren den ersten "Krieg gegen den Terror" führe. Tschetschenien sei somit gemeinsam mit
Palästina und Afghanistan die dritte Front gegen den Terror. Putin ging sogar soweit, den Westen in Brüssel für seine zu
"humane" Kriegsführung in Afghanistan zu kritisieren. Wenn man Terroristen bekämpfe, sei es unvermeidbar, dass auch Zivilisten
umkommen. Für den Tod von Zivilisten müsse man eben die Terroristen verantwortlich machen. Dieses Argument sollte natürlich die eigene
Kriegsführung in Tschetschenien gegen jegliche westliche Kritik immunisieren.
Was sagt die öffentliche Meinung zum Krieg in Tschetschenien?
Boris Kagarlitzki: Der Krieg in Tschetschenien wird immer unpopulärer, da die Ziele des Krieges nicht erreicht werden und immer mehr
russische Soldaten getötet werden. Gleichzeitig wird die proamerikanische Politik Putins in der russischen Elite, insbesondere vom Militär, kritisiert.
Das Militär will keine amerikanische Truppen in Zentralasien. Sie kritisieren, dass Putin für all seine Konzessionen an die US-Regierung keine
Gegenleistungen ausgehandelt hat.
Insbesondere die nationalistischen Teile des Militärs kritisieren Putin offen, so dass
Putins Machtbasis schmaler wird. Doch solange es keine größeren Vorfälle gibt, bspw. russische Truppen aus einer tschetschenischen Stadt
abziehen müssen, wird es zu keiner politischen Krise kommen. Eine Krise schwillt jedoch an: Neben der schwindenden Machtbasis Putins ist es
insbesondere die soziale Polarisierung, die vereinzelt schon zu gewaltsamen Ausschreitungen führte. Die relative Stärke Putins ergibt sich eher aus
der absoluten Schwäche einer nicht vorhandenen Opposition.
Was könnte Russland dazu veranlassen, die Unterstützung für den "Krieg gegen den Terror" einzustellen?
Boris Kagarlitzki: Wenn Russland sich aus Tschetschenien zurückziehen müsste, dann würde das den Beweis erbringen, dass
der "Krieg gegen den Terror" nicht gewinnbar ist. Dann würden russische Politiker auch offener die amerikanische Präsenz in
Zentralasien kritisieren. Da die russische Regierung jedoch aus Prinzip proamerikanisch ist, könnte nur eine neue Regierung und ein neuer Präsident
kritischer gegenüber den USA sein. Eine Niederlage in Tschetschenien könnte dies befördern.
Was sind die Gründe dafür, dass Putin mit Bush das Abrüstungsabkommen Ende Mai abschloss?
Boris Kagarlitzki: Die russische Eilte will vom Westen als Partner anerkannt werden. Es gibt nur diese eine Strategie. Sie bestehen nicht einmal
darauf, als gleichwertig anerkannt zu werden. Diese Partnerschaft soll institutionalisiert sein. In Wirklichkeit gibt es jedoch einen Widerspruch zwischen den
Interessen des industriellen und militärisch-industriellen Sektors einerseits, die China-orientiert sind, und den proamerikanischen Positionen des
neoliberalen Energiesektors andererseits. Der Energiesektor kann sich jedoch durchsetzen, da er einflussreicher ist und über viel Geld verfügt. Die
vom Energiesektor unterstützte Politik schwächt die industrielle Basis in Russland und stärkt somit weiter den eigenen Einfluss.