SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 19

Zu Peter Weiss‘ 20.Todestag

Wir haben die Gestalt des Hölderlin so angelegt
dass er sich drin befindet und bewegt
als spiegle er nicht nur vergangne Tage
sondern als ob die gleichen Aufgaben er vor sich habe
denen auch manche von den Heutgen gegenüber stehn
- nicht trennen will er aus dem Wirklichen den Thraum
es müssen Fantaisie und Handlung seyn im gleichen Raum
nur so wird das Poetische universal
bekämpfend alles was verbraucht und schaal
erloschen und versteinert uns bedrängt
und was mit Zwang und Drohung unsern Athemzug beengt.

Peter Weiss, Hölderlin, 1971

Keine Frage, Peter Weiss‘ fast tausendseitiges Opus magnum Die Ästhetik des Widerstands ist neben Uwe Johnsons Jahrestage das vielleicht bedeutendste, wenn auch sperrigste Prosawerk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Doch im Gegensatz zu Johnsons personalisierter Chronik der späten 60er Jahre, taugt Weiss‘ diskursives "Monument" der Arbeiterbewegung, der politischen und ästhetischen Klassenkämpfe in Zeiten von Faschismus und Krieg nicht für eine lukrative TV-Verfilmung. Lange ist es her, dass eine ganze Generation von Studierenden und linken Wissenschaftlern in Seminaren und Lesezirkeln zur Ästhetik des Widerstands hitzige Debatten über die Zusammenhänge von Kunst und Politik führten.
Mit der Wende vieler Linker zur "Postmoderne" Mitte der 80er Jahre, nahm allmählich auch das Interesse an Peter Weiss ab. Die leidenschaftlichen Diskussionen um die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung, die Peter Weiss in seinem gigantischen "Gegenarchiv" aufgeschrieben hatte, sowie deren Verarbeitung in Bezug auf die politische Praxis der Gegenwart, machten zunehmend poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Lektüren der Ästhetik Platz. Immerhin begann man sich für die ästhetische Radikalität und Subversivität, besonders des Frühwerks, zu interessieren — ein Aspekt, der in Hoch-Zeiten von politischen Bewegungen gern vernachlässigt wird.
Heute scheint der marxistische Schriftsteller Peter Weiss völlig vergessen, außerhalb des akademischen Feldes wird sein Œuvre kaum wahrgenommen. Trotz seines durch unzählige wissenschaftliche Publikationen gesicherten Platzes im germanistischen Kanon, sucht man in den Feuilletons, einschließlich der linken Presse, vergeblich nach einem Beitrag zum Todestag dieses großen deutsch-schwedischen Autors, der sich am 10.Mai zum zwanzigsten Male jährte. Erwähnung fand lediglich ein kleines Berliner Symposion der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft und der Akademie der Künste (Süddeutsche Zeitung, 15.5.), wo unter anderem auch über die Aktualität dieses Autors gesprochen wurde. Die einleitende Bemerkung Jürgen Schuttes, dass Peter Weiss wieder im Kommen sei, ist sicherlich mehr Wunschdenken als Wirklichkeit. Die Frage, die einst die Berliner Mauer zierte, scheint diese — quasi als Fantomschmerz — überlebt zu haben: ‘Who the fuck is Peter Weiss?‘
Als Sohn eines jüdischen Textilhändlers wuchs Peter Weiss zwischen den Weltkriegen in Bremen und dann in Berlin auf. Das großbürgerliche Kaufmannsmilieu empfand er bereits als Jugendlicher einengend und die Arbeitsvorstellungen der Eltern standen seinen frühen künstlerischen Selbstverwirklichungsversuchen und seinen pubertären Bohème- Stimmungen diametral entgegen. 1934 emigrierte die Familie nach London, nachdem kurz vor der Abreise Weiss‘ jüngste Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Diese traumatische Erfahrung, die Gefühle von Diskontinuität und Entwurzelung, von Einsamkeit und Fremderfahrung, versuchte Peter Weiss künstlerisch zu verarbeiten, indem er Aquarelle und Öl-Tableaus im Stil eines recht eklektizistischen magischen Realismus malte.

Von der Neoromantik…

In dieser Zeit schrieb er auch seine ersten Erzählungen, stark autobiografisch gefärbte Texte im für die 30er Jahre typischen träumerischen, neoromantischen Kunststil über das Leiden des Dichters/Outsiders an der Welt, an sozialer Isolation und Vereinsamung. Inspiration fand er bei dem viel bewunderten Hermann Hesse, dem Autor des Steppenwolf, jenem aufrührerischen "Krisenbuch" par excellence.
Prag, die Stadt Kafkas — eine weitere Durchgangsstation in Peter Weiss‘ Exil, das ihm zum aufgezwungenen Lebensinhalt wurde als ein "Gebrechen, das unheilbar ist". Er sollte nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, siedelte die Familie 1939 nach Schweden über. Die ersten Jahre in Schweden waren für Peter Weiss eine Zeit des Experimentierens. Als Künstler versuchte er in einem geradezu obsessiven Gestaltungswillen sich in den verschiedensten Kunstformen, wie Malerei, Film und Literatur, ständig bemüht, Grenzen zu überschreiten, um Möglichkeiten der Darstellung ringend. In seiner subversiven linguistischen Radikalität, den Dingen der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, jenseits von Normen und Konventionen, mit Sprache zu experimentieren, wird in gewisser Weise eine "Politik im Ästhetischen" erkennbar.
In den Nachkriegsjahren bemühte sich der junge Peter Weiss ständig um die Erweiterung der Ausdrucksmittel. In einer Stockholmer Künstlergemeinschaft werden die europäischen Vorkriegsavantgarden rezipiert, vor allem der Surrealismus und die Psychoanalyse. Neben an Buñuel, Dalí, Cocteau und den deutschen Stummfilmklassikern orientierten Experimentalfilmen, drehte er halbdokumentarische, stark existenzialistisch gefärbte Filme, die zwar noch teilweise romantische Außenseiterfiguren verklären, aber bereits sozialkritische Themen aufwerfen, wie Armut, Obdachlosigkeit, Alkoholismus, Kriminalität. Hier finden die eigenen bedürftigen Lebensbedingungen ihren Ausdruck: die ersten Kontakte eines Sprösslings der Großbourgeoisie mit der Arbeitswelt, etwa die Arbeit in der väterlichen Fabrik in Stockholm, sowie die Erfahrungen als Holzarbeiter in der schwedischen Wäldern.
1961 vermochte Peter Weiss diese eher selbstanalytische Phase seiner künstlerischen Tätigkeiten abzuschließen mit den neoavantgardistischen Mikroromanen Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt, die ihm außerdem den literarischen Durchbruch verschafften und in Deutschland hauptsächlich in Verbindung mit dem französischen Nouveau Roman rezipiert wurden. Hiermit hatte Peter Weiss sich definitiv für das Medium der Schrift entschieden.

…zum Sozialismus

Es folgte die Zeit der Politisierung. Im April 1964 hatte im Berliner Schillertheater ein extravagantes Drama Uraufführung, das die Theatergeschichte revolutionieren sollte: M/S, Marat/Sade. In einem antithetisch konstruierten Disput zwischen dem hedonistischen und individualistischen Zyniker de Sade und dem auf Radikalisierung der revolutionären Prozesse drängenden Jakobiner Marat, verhandelt Peter Weiss vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und einer Irrenanstalt-Kulisse die Problematik von Gewalt, Körperlichkeit und Revolution. Die dialektische Struktur der Dialoge liefert keine eindeutigen Antworten. Letzten Endes ist — wie bei Brecht — der Leser/Zuschauer gefordert, sich ein Bild zu machen, wie Klassenkämpfe in einer "Welt von Leibern" funktionieren, wie Revolution und "Kopulation" zusammenhängen. Marat/Sade folgt dem Prinzip der "Widerspruchstoleranz", wie Wolfgang Fritz Haug es einmal formulierte.
Mit der Programmschrift Zehn Arbeitspunkte eines Autors in einer geteilten Welt liefert Peter Weiss 1965 sein Bekenntnis zum Sozialismus: "Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Öffentlichkeit übergebe, ist politisch, d.h. es zielt auf einen Kontakt mit größeren Bevölkerungsgruppen hin, um dort eine bestimmte Wirkung zu erlangen." Statt psychologischer Individualisierung geht es Peter Weiss nun immer mehr um das Aufzeigen von "Gruppen, Kraftfeldern, Tendenzen".
Überall in seinem Werk werden Kräfteverhältnisse und Positionen über Gegensätze gezeichnet und verhandelt. Vor allem auf der Bühne versucht Weiss diese instrumentelle Wirkungsästhetik umzusetzen, um politisch in die bundesrepublikanische Öffentlichkeit der späten 60er Jahre einzugreifen. 1965 wird das Dokumentarstück Die Ermittlung aufgeführt, eine Verarbeitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in der neben der Vernichtung der europäischen Juden, die politökonomischen Fundamente des deutschen Faschismus aufgezeigt werden, um auf diese Weise einen Beitrag zur bisher noch wenig erfolgten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit (und Kontinuität in der BRD) zu leisten.
Es folgen weitere dokumentarische Bühnenwerke wie der antiimperialistische Gesang vom lusitanischen Popanz, wo die kolonialen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse in Angola denunziert werden und der Viet Nam Diskurs (1968), der auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte den Befreiungskampf in der Dritten Welt thematisiert.
Im selben Jahr trat Peter Weiss der schwedischen "Linkspartei/Die Kommunisten" (VPK) bei, deren eurokommunistischen und internationalistischen Kurs seiner Suche nach einer Alternative zum Stalinismus entgegenkam. Seine schonungslos undogmatische Kapitalismuskritik, seine antisektiererische Diskussionsbemühungen mitten in den politischen Grabenkämpfen der Studentenbewegung und seine fast schon naiven Vorstellungen, kommunistische "Häretiker" im "real existierenden" Sozialismus zu rehabilitieren, gipfelten in seinem vielleicht provokativsten Werk: 1970 erschien als Beitrag zum Lenin-Jahr Trotzki im Exil. Das Stück enthält neben seiner strategiepolitischen Brisanz auch eine Reflexion über die Funktion der Kunst, jenseits von einer rein operativen und parteipolitischen Ästhetik, welche Kunst nur als Instrument, als Waffe im politischen Kampf begreift.

Proletarischer Bildungsroman

Die letzten zehn Jahre seines Lebens widmete Peter Weiss eben dieser Arbeit an einer kulturpolitischen Pädagogik, an einer emanzipatorischen Poetologie, die Kunst und Leben, Traum und Realität, Fantasie und Widerstand in ihren dialektischen und widersprüchlichen Beziehungen zusammenbringt. In den ersten beiden Bänden von Peter Weiss‘ Summa, seiner Ästhetik des Widerstands, steht die Frage nach der Aneignung bürgerlicher Kunst durch die proletarischen Figuren in ihren konkreten Klassenkämpfen gegen Faschismus und Stalinismus im Vordergrund. In Anlehnung an Walter Benjamins Neuformulierung des historischen Materialismus, handeln die Reflexionen der Protagonisten von der Notwendigkeit, die Versatzstücke vergangener Kunstwerke aus ihrem Zusammenhang zu reißen, sie mit "Jetztzeit" aufzuladen, für die konkreten Anforderungen des Widerstands nutzbar zu machen, indem die (Kultur-)Geschichte "gegen den Strich gebürstet" wird.
Marx‘ berühmtes Diktum variierend, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur die Tat der Arbeiter selbst sein könne, schließt die Ästhetik des Widerstands, dieser proletarische Bildungsroman, mit einer gewaltigen Geste des Wegfegens jenes verheerenden Wartens auf stellvertretende Erlöser- oder Führerfiguren: "...und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten."
Die Peter-Weiss-Lesezirkel sind offensichtlich den Empire-Lesegruppen gewichen. Das ändert nichts daran, dass das Verhältnis zwischen Kunst und Politik, zwischen ästhetischem und politischem Avantgardismus, und vor allem die Fragen von Utopie und Sozialismus, die Peter Weiss sein Leben lang beschäftigten, auch (und gerade) in Globalisierungsdiskursen und -bewegungen aktueller denn je sind.
Der amerikanische marxistische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson charakterisierte die Ästhetik des Widerstands einmal folgendermaßen: "Es ist erkennbar der Standpunkt von neuen oder oppositionellen Marxismen, die gegen einen Mainstream, der die Praxis auf das Ökonomische reduziert, auf der Unentbehrlichkeit von Bewusstsein und Kultur bestehen." Dies alles muss neu diskutiert werden, ohne auf tradierte Erfahrungen zu verzichten. Das Werk von Peter Weiss könnte ein wichtiger kulturpolitischer Steinbruch sein.
Patrick Ramponi


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