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Nutzanwender blieben nach der Lektüre von Immanuel Wallersteins Buch Der historische Kapitalismus (englisch 1983,
deutsch 1984) oft ratlos zurück. Bietet das globalisierte System überhaupt noch Chancen zum subjektiven Eingreifen und wenn ja, welche?
Genau in dieses Vakuum stößt Wallerstein mit seiner Utopistik vor: Nur in Phasen
eines historischen Überganges sind die Möglichkeiten einer systemischen Weichenstellung real, lautet seine Hypothese. Und der moderne
Kapitalismus befindet sich für ihn in einem solchen "Verwandlungs-ZeitRaum":
Durch eine Delegitimierung der mit der unendlichen Kapitalakkumulation verbundenen
Ideologie des Fortschritts, die weit über die marxistische Ablehnung des Kapitalismus hinausgeht und jegliche Fortschrittlichkeit des existierenden
Systems vehement bestreitet.
Durch die weltweite Rüstung, insbesondere mit atomaren, chemischen und
bakteriologischen Waffen, die es auch schwachen "Schurkenstaaten" oder nichtstaatlichen Gruppen ermöglicht, beträchtliche
Schäden in den Metropolen anzurichten.
Durch die unaufhaltsame, massive Einwanderung von den armen in die reichen
Länder, wodurch Zündstoff für ethnische Spannungen entsteht, die sich jederzeit in chaotischen oder bürgerkriegsähnlichen
Zustände entladen können.
Diese drei Faktoren sind für Wallerstein Auslöser einer tiefen Krise des Systems,
die sich in der zunehmenden Unfähigkeit manifestiert, selbstregulierend sein Gleichgewicht wieder zu finden. Die Zukunft ist aber in keiner Weise rosig,
alles befindet sich in Erosion, Unsicherheiten und Gefährdungen nehmen zu, und wie bei manchen Gärungsprozessen ist unklar, ob Wein oder Essig
entstehen wird.
Will sagen: Wallerstein verwirft entschieden jedes Denken, dass aus dieser "Hölle
auf Erden" der nächsten 40 oder 50 Jahre zwangsläufig ein Paradies auftauchen sieht; solche Illusionen fördern für ihn nur
Desillusionierung. Eine noch zu bildende Regenbogenkoalition müsste den Kampf einfach aufnehmen, ohne Gewissheit, dass sie ihn jemals gewinnen
wird.
Den Rezensenten erinnert Wallersteins in Jahren berechenbarer "Verwandlungs-
ZeitRaum" in Kombination mit der apodiktischen Behauptung, "dass das ganze gegenwärtige System als solches nicht überleben
kann", allzu sehr an die Theorien vom großen Kladderadatsch, denen Marx und insbesondere der alte Engels mehrmals zum Opfer fielen (zum
Beispiel: "Es geht überall lustig voran und das fin de siècle präsentiert sich immer schöner" Engels an Sorge im
Februar 1894).
Ökonomische Ursachen der Krise, vor allem das Gesetz des tendenziellen Falls der
Profitrate, spielen in den Argumentationsketten des Professors für Soziologie eine völlig untergeordnete Rolle. Manche seiner Thesen scheinen
zumindest kühn: Etwa die Annahme, "die Französische Revolution wäre keine bürgerliche und die Russische Revolution keine
proletarische gewesen", ja es hätte "in den Staaten, die das moderne Weltsystem ausmachen, überhaupt keine Revolutionen gegeben und
es hätte auch keine geben können". Oder die These, die Bolschewiki hätten die "Popularität der Russischen Revolution in
der außereuropäischen Welt … ohne Erfolg für sich nutzbar zu machen versucht".
Aber Wallerstein zu lesen ist selbst dort produktiv, wo er wahrscheinlich irrt, weshalb sich eine
intensivere Auseinandersetzung mit seinen Theorien sicher lohnen würde. Zum Abschluss deshalb noch ein ausführliches Zitat, das
revolutionäre Marxisten eigentlich zur Lektüre anstacheln müsste: "Die Weltrevolution von 1968 stellt gleichermaßen eine
Apotheose und eine Veränderung des Geistes der Russischen Revolution dar, so wie diejenige von 1848 eine Verherrlichung wie eine Veränderung
des Geistes der Französischen Revolution bedeutet hatte. Aber es war eine Wandlung in der entgegengesetzten Richtung. Denn während die
Weltrevolution von 1848 den Liberalismus als Grundlage der Geokultur des Weltsystems installiert hatte, so führte die Weltrevolution von 1968 zur
Verabschiedung des Liberalismus gerade von dieser Rolle."
Fritz Keller