SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 24

Fußballsport zwischen Arbeiterkultur, Kommerz & Nationalismus

Millionen Menschen, vor allem Männer, saßen in der letzten Wochen Tag für Tag vor dem Fernseher und verfolgten gespannt die Spiele der Fußballweltmeisterschaft. Das Fußballinteresse war und ist auch bei den männlichen Linken — wenn auch manchmal etwas verschämt — nur wenig geringer als in anderen Teilen der Bevölkerung. Grund genug sich diesen Fußball genauer anzuschauen.

Fußball war jahrhundertelang ein raues, weitgehend unreguliertes Volksspiel in England, das vor allem von "Bauernlümmeln" und Handwerksgesellen betrieben wurde. Das Spielfeld war oft das ganze Gelände zwischen zwei Dörfern, die Anzahl der Spieler kaum begrenzt, die Spieldauer oft nur durch den Einbruch der Dunkelheit. Die Betonung lag nicht auf Geschicklichkeit, sondern auf Kraft und Gewalt. Von der herrschenden Klasse wurde das wilde Treiben als eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen und unterdrückt.

Arbeiter und Bürger

Ende des 18.Jahrhunderts wurde der Fußball dann durch Schüler der englischen Public Schools aufgegriffen. Dort erhielt der Sport — einhergehend mit dem Aufstieg des Kapitalismus — erstmals ein schriftliches Regelwerk: Das Volksspiel wurde seiner allzu brutalen Züge entledigt. Anstelle eines realen Kampfes trat ein Scheinkampf auf höherem Zivilisationsniveau. Das war vor allem Ausdruck der (dem aufkommenden bürgerlichen Wertsystem entsprechenden) Unterscheidung zwischen illegitimer und legitimer Gewalt.
Festgelegt wurden nun auch die Anzahl der Spieler, die Maße des Spielfelds und die Länge der Spielzeit, was nicht zufällig historisch der Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten in der Wirtschaft folgte. Im Fußball kommt diese Gleichheit als Voraussetzung der Konkurrenz sinnbildlich in den Halbzeiten, im Wechsel der Seiten zum Ausdruck. Die Addition von Toren und Punkten und die Erstellung von Tabellen erinnert nicht zufällig an die Buchführung. Die Präzisierung der Spielzeit entspricht der Durchsetzung der zeitlich bemessenen Arbeit im industriellen Kapitalismus. Die Entwicklung des Fußballs vom Volkssport zum modernen Sportspiel war also Ausdruck und Mittel einer Verbürgerlichung.
Zum Massenphänomen wurde Fußball aber erst wieder in der dritten Periode seiner Entwicklung, mit der Eroberung durch die (männliche) industrielle Arbeiterschaft — nun freilich in seiner regulierten Form. Fußball wurde von der anwachsenden Industriearbeiterschaft derart enthusiastisch aufgenommen, dass er schon bald als ausgesprochener "Proletensport" galt. Im englischen Fußball begann die Dominanz der Arbeiterklasse mit der Einführung des freien Samstagnachmittags in den 1860er und 1870er Jahren.
Als 1883 mit Blackburn Olympic erstmals ein Arbeiterklub das Cup-Finale gewann, waren die bürgerlichen Sportler geschockt. Sie wandten sich nun Individualsportarten zu, deren Ausübung sozioökonomische Privilegien voraussetzte und die deshalb soziale Exklusivität sicherten.
Fußball spielte während der Industrialisierung, besonders in Großbritannien und Deutschland, eine wichtige Rolle beim sozialen Zusammenschluss der Arbeitenden in den entstehenden Industriestädten. Er gab den Arbeitern Zusammengehörigkeit und Selbstbewusstsein und war ein wesentlicher, vom Bürgertum oft misstrauisch beäugter Teil der Arbeiterkultur — einer Arbeiterkultur, die einerseits von der kapitalistischen Gesellschaft geprägt war, die aber andererseits auch Ausdruck der Selbsttätigkeit der unterdrückten Arbeiterklasse war und somit ein subversives Element beinhaltete.
Diese Widersprüchlichkeit zwischen kultureller Einbindung und Opposition charakterisierte auch den Fußball als Arbeitersport. Welche der beiden Seiten dabei in verschiedenen Phasen stärker in den Vordergrund trat, hing vor allem von der politischen Entwicklung ab, davon, wie sehr die Arbeiterklasse als eigenes politisches Subjekt in Erscheinung trat, bzw. wie weit es der Bourgeoisie gelang, die Arbeiterbewegung durch Zugeständnisse oder Repression in das System zu integrieren.
Was aber machte den Fußball für die Arbeiter so ungemein attraktiv? Ein wesentliche Erklärung liegt darin, dass die monotone, entfremdete und erschöpfende industrielle Arbeit zu einem wachsenden Bedürfnis nach selbstbestimmter physischer Verausgabung und psychischer Befriedigung außerhalb der Fabrikhallen führte. Fußball verlangte physischen Einsatz, der den proletarischen Spielern von ihrer Arbeit her bekannt war, war aber doch ein Spiel, das auch die Entfesselung der sonst vom ökonomischen und politischen System unterdrückten Kreativität und Intelligenz der proletarischen Spieler ermöglichte.
Dass sich die Arbeiter gerade dem Fußballsport zuwandten, lag auch daran, dass er die Möglichkeit gab, kollektiv dem Stumpfsinn der Industriearbeit zu entfliehen, dass er als Mannschaftssport Gemeinschaftsgefühl und Gruppensolidarität bot. Dementsprechend wurde die Entwicklung des Arbeiterfußballs von der herrschenden Klasse immer wieder behindert. In diesem Zusammenhang, um behördlichen Schikanen gegen einen Arbeiterverein auszuweichen, änderte bspw. der 1. Wiener Arbeiter Fußball-Klub 1899, ein Jahr nach seiner Gründung, seinen Namen: in SK Rapid Wien.

Integration, Kontrolle und Kommerzialisierung

Das bürgerliche Establishment lehnte den Fußball aber auch deshalb ab, weil sich die Spiele mehr und mehr zu proletarischen Massenspektakeln entwickelten. Während es das "bessere" Publikum, das sich in England zunehmend etwa den Cricket-Veranstaltungen zuwandte, vorzog, das Spiel mit gespanntem Experteneifer zu verfolgen, tobte rund um die Soccer-Spiele die ausgelassene, ordinär vergnügte Football-Crowd. Der wilde, urwüchsige Charakter des ehemaligen Volksspiels verlagerte sich jetzt in gewisser Weise auf die Zuschauerränge.
Der herrschenden Klasse und ihrem Staat wurde freilich immer mehr klar, dass der proletarische Massensport Fußball kaum mehr zu unterdrücken war. Man setzte deswegen, beginnend in der Zwischenkriegszeit und verstärkt nach 1945, nicht mehr auf Behinderung, sondern auf Integration, Kontrolle und Instrumentalisierung. Durch Kommerzialisierung und die wachsende Bedeutung von bezahlten Funktionären wurde der Einfluss von Vereinsmitgliedern, Spielern und Fans reduziert und gleichzeitig die bürgerliche Ideologie vorherrschend: die Identifikation der Zuschauer mit ihrer Klasse wurde zunehmend durch Lokalpatriotismus und Nationalismus ersetzt.
Aber auch wenn die medien- und sponsorengerechte Vermarktung den Fußball heute dominiert, ist Fußball noch immer auch ein Sport der Arbeiterklasse geblieben. Mehr als jede andere Sportart wird er von Arbeitern gespielt und von Arbeitern gesehen. Er fasziniert durch die Einfachheit und Klarheit seiner Regeln und kann kollektiv und ohne großen (finanziellen) Aufwand betrieben werden. Fußball unterscheidet sich dadurch fundamental vom Segeln, Reiten oder Golf der herrschenden Klasse.
Seit etwa zwei Jahrzehnten geht es der Bourgeosie und ihren Fußballmanagern europaweit um die beschleunigte Zerstörung des (ohnehin schon im Auflösungsprozess befindlichen) proletarischen Milieus in den Stadien bzw. um die Enteignung seiner kulturellen Institution Fußball — und zwar zugunsten einer konsequent konsumorientierten Fußballindustrie. Die Stadien sollen zu Freizeitarealen mit Boutiquen, Restaurants und Gesellschaftsräumen umgestaltet werden. Immer mehr Einnahmen werden durch Fernsehrechte und Werbung erzielt, immer weniger durch den Kartenverkauf, womit die einfachen Fans zunehmend auch die letzten Einflussmöglichkeiten verlieren.
Ein wesentlicher Teil der Entwicklung, die von den UEFA-Funktionären vorangetrieben und von Nobelvereinen wie PSV Eindhoven oder Bayern München vorexerziert wurde, war die Schaffung von reinen Sitzplatzstadien. Das bedeutet weniger Eintrittskarten bei höheren Eintrittspreisen. In der Folge bleibt ein Teil des Publikums weg, weil es sich das Fußballerlebnis live nicht mehr leisten kann. Dazu kommt ein Verlust an Atmosphäre, die selbst Teil der proletarischen Fußballkultur war, denn Stehplatzterrassen sind nicht nur billiger, sondern erlauben auch ein viel größeres Ausmaß an Kommunikation. Die Entscheidung für Sitzplatzstadien ist letztlich eine Entscheidung für ein sozial anders strukturiertes Publikum, nämlich für die Leute, die bisher nicht in die Stadien gingen, weil ihnen dort einerseits zuwenig Komfort geboten wurde und andererseits zuviele "Proleten" anwesend waren.

Massenkultur im Kapitalismus

Die Kommerzialisierung und nationalistische Instrumentalisierung des Fußballs durch die herrschende Klasse führte bei Teilen der Linken dazu, dem proletarischen Massensport mit Enthaltung und Skepsis bis hin zu offener Ablehnung zu begegnen. Diese Abstinenz und Abneigung ist in der österreichischen und deutschen Linken verbreiteter als in anderen Ländern, was auch Ausdruck der hier stärker verhandenen sozialen und kulturellen Distanz zwischen der Linken und der Arbeiterklasse ist (die wiederum darauf zurückzuführen ist, dass der Faschismus die revolutionären Traditionen in der deutschen und österreichischen Arbeiterklasse nachhaltig zerschlagen hat).
Die ganze Frage steht freilich im Zusammenhang mit der Frage von Massenkultur im Kapitalismus im Allgemeinen, mit der (heute in gewissem Ausmaß unvermeidlichen) Teilnahme an Film, Musik und Sport, an einer Massenkultur also, die von der kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht oder zumindest geprägt wurde und die notwendigerweise ihre Widersprüche beinhaltet. Klarerweise würden wir uns eine von der Kommerzialisierung der kapitalistischen Freizeitindustrie unabhängige Massenkultur wünschen — vorzugsweise in Verbindung mit einer revolutionären Arbeiterbewegung. Angesichts der aktuellen Schwäche einer solchen Bewegung ist heute eine partielle Beteiligung an verschiedenen Formen der kapitalistischen Massenkultur tendenziell notwendig, um sich in dieser Gesellschaft nicht sozial zu isolieren und psychisch zugrunde zu gehen.
Fußball und andere Formen der Massenkultur sind in ihrer entfremdeten, kapitalistischen Ausprägung stark von Nationalismus und Männertümelei durchsetzt. Aber: Einfach nur die rechtsextreme Unterwanderung von einigen Fangruppen oder die sinnlose machistische Gewalttätigkeit von manchen Fans anzuprangern (was durchaus auch zu tun ist) wird der widersprüchlichen Problematik der Massenkultur im Kapitalismus nicht gerecht. Fußball reproduziert eben nicht nur Leistungsnormen des Kapitalismus, er bietet auch die Möglichkeit, sich von der Arbeit aktiv oder passiv zu erholen.
Gerade die Arten der Massenkultur, die eine breite aktive Teilnahme und Kollektivität ermöglichen, haben mehr als andere ein progressives Potenzial. Fußball bspw. taugte in seiner Geschichte nicht nur zur Ablenkung von politischen und sozialen Problemen, sondern auch zur Entwicklung von kollektivem Stolz und Klassenbewusstsein.
Wie stark in bestimmten Phasen die reaktionären und die progressiven Elemente in der Massenkultur (z.B. beim Fußball) sind, hängt letztlich eben vom gesellschaftlichen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ab. Aufschwünge der Arbeiterbewegung waren nicht nur immer von umfassender selbstständiger kultureller Tätigkeit des Proletariats in Arbeitersportvereinen und Arbeiterbildungsvereinen begleitet, sondern wirkten sich auch auf die aktuelle konkrete Ausformung der Massenkultur und des Massensports unter bürgerlicher Ägide in eine progressive, solidarische Richtung und gegen nationalistische und reaktionäre Tendenzen aus.
In England, Schottland oder Italien, wo die Linke der Arbeiterklasse sozial und kulturell näher steht und in einem größeren Ausmaß selbst Teil von ihr ist, und selbst in Deutschland gestalten sich die Beziehungen zwischen der dortigen Linken, dem Fußball und dessen Publikum entsprechend enger und positiver als in Deutschland und Österreich. Besonders bei vielen englischen Klubs gibt es linke Fanzines, von Fans gemachte, billige Zeitungen mit einer Mischung aus Fußball und Politik. Die entsprechenden Faninitiativen richten sich in der Regel gegen Rassismus und nationalistische Ausschreitungen und sie haben oft freundschaftliche Verbindungen zwischen Fans von verschiedenen Vereinen aufgebaut. Ähnliche progressive Tendenzen gab und gibt es bei Schalke 04, beim FC St.Pauli und in Dortmund, genauso wie bei Derry City, Celtic Glasgow und Real Sociedad San Sebastián.
Nationalismus

Generell ist beim Klubfußball die strukturelle Einflussnahme der Fans eher möglich als bei den Spielen der Nationalmannschaften. Bei ersteren kann aufgrund der Indentifikation mit ausländischen Spielern des eigenen Klubs und der solidarischen Haltung vieler Spieler auch eine völkerverbindende Komponente relativ stark sein. Bei internationalen Spielen, besonders bei Länderspielen, dominiert unumstritten — und logischerweise — der Nationalismus.
Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften haben dabei eine nicht zu unterschätzende ideologische Funktionen für die herrschenden Klassen der teilnehmenden Länder. Da wird der Bevölkerung nationale Begeisterung abgefordert. Da wird die nationale Einheit der — in Klassen mit gegensätzlichen Interessen gespaltenen — Nation beschworen. Da wird Fußball aufbereitet als Fortsetzung des Krieges mit 22 Spielern und einem Ball. Da werden Trainer als "Feldherren" tituliert und Fans als "Schlachten"bummler bezeichnet. Da werden auch bei Europacup-Spielen patriotische Bekenntnisse eingefordert, gehe es doch darum, dass "wir" (eine österreichische bzw. deutsche Mannschaft) weiterkommen.
Auch für die Zukunft kann nur davon abgeraten werden, sich an dem nationalistischen Taumel zu beteiligen und mit der Mannschaft, die vom heimischen Establishment zur höheren Ehre der Nation aufs Feld geschickt wird, mitzufiebern. Da jede WM als — durchaus politisch relevante — nationalistische Auseinandersetzung inszeniert wird, kann hier nur an Karl Marx verwiesen werden: "Die Arbeiter haben kein Vaterland!", oder auch an Karl Liebknecht: "Der Haupfeind steht im eigenen Land!"
Eric Wegner

Eine erste Fassung dieses Textes wurde vor vier Jahren (zur WM ‘98) von der Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) in Österreich als Flugschrift verteilt. Eine vollständige Fassung der hier gekürzt wiedergegebenen aktualisierten Version findet sich auf der Webseite der AGM: www.agmarxismus.net
.


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang