SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 2

Zu Möllemann und Antisemitismus

Redaktionserklärung

Auf einige Beiträge in den letzten beiden Ausgaben der SoZ zum Thema Möllemann und Antisemitismus hat es heftige Reaktionen von Leserinnen und Lesern gegeben, die dem Autor, teilweise aber auch der Redaktion als Ganzer, vorwerfen, den Antisemitismus in Deutschland zu verharmlosen. Diesen Vorwurf möchte die Redaktion natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
Sie möchte deshalb klarstellen, dass Kommentar und Artikel von Christoph Jünke nicht die Mehrheitsmeinung der Redaktion spiegeln. Zugleich ist es das Recht eines Redakteurs, in einem Kommentar oder namentlich gezeichneten Artikel seine Meinung zu schreiben. Wenn dies, wie im vorliegenden Fall, eine kontroverse Debatte auslöst, muss sie geführt werden — darum bemüht sich die Redaktion. Soweit wir es überblicken, dreht sich die Auseinandersetzung — auch über die genannten Beiträge hinaus — im Wesentlichen um folgende Punkte:

1. Die Haltung zu Möllemann

Dessen Äusserungen zum Nahostkon?ikt bieten keine Grundlage für eine Solidarisierung mit dem palästinensischen Volk; sie zielen vielmehr auf eine innenpolitische Mobilisierung gegen eine "zionistische Lobby", die angeblich "den größten Teil der Medienmacht in der Welt" (Karsli) innehabe und damit geeignet ist, antisemitische Klischees zu bedienen und zu fördern.
Diese Mobilisierung steht im Zusammenhang mit dem vom Führungsduo Möllemann/Westerwelle betriebenen Parteiprojekt "18 plus". Das kann man nicht ignorieren, unabhängig davon, ob man es für ausgewiesen hält, dass die FDP auf dem Marsch in eine rechtspopulistische Partei ist, oder ob Möllemann mit seinen Äußerungen "nur" auf Stimmenfang im rechten Sumpf gehen wollte (dazu gibt es in der Redaktion unterschiedliche Meinungen).
Ob das gelingt, ist für das politische Kräfteverhältnis in der BRD von Bedeutung und muss für Linke Gegenstand gesellschaftspolitischer Sensibilisierung und Mobilisierung sein. Möllemann als Opfer einer "Pogromstimmung" zu sehen, ist deshalb falsch und die Wortwahl völlig unangemessen.

2. Der Antisemitismus und die Politik Israels

In Teilen der innenpolitischen Debatte um die zerstörerische Politik der israelischen Regierung gegen die Palästinenser wurde und wird Kritik an Israel gleichgesetzt mit Antisemitismus, um jegliche Kritik an der israelischen Politik im Keim zu ersticken. Die Tatsache, dass die jüdische Bevölkerung in Europa Opfer des Naziterrors geworden ist und die Einzigartigkeit des Holocaust werden zum Argument dafür genommen, dass die Politik des Staates Israel nicht grundsätzlich kritisiert werden dürfe, denn jede grundsätzliche Kritik — mithin eine, die die kolonialistischen und teils ethnisch-religiösen Grundlagen der Staatsverfassung Israels angreift — relativiere die Vernichtungspolitik der Nazis.
Wir halten eine solche Position für falsch, weil sie dafür eingesetzt wird, dass die aktuellen Verbrechen — in wessen Namen sie auch immer durchgeführt werden — hingenommen werden. Die Ernsthaftigkeit einer jeden Aufarbeitung der Naziverbrechen misst sich immer noch am eindeutigsten daran, wie stark und nachhaltig das Engagement gegen heutiges Unrecht ist. Die deutsche Linke hat einen nicht unerheblichen Teil ihrer Auseinandersetzungen im Nachkriegsdeutschland darum geführt, dass die Verantwortung und die Verstrickung der herrschenden Eliten für und in die nationalsozialistischen Verbrechen aufgedeckt, benannt und akzeptiert werden. Heute gehört Antifaschismus ein Stückweit zum gesellschaftlichen Konsens, das ist positiv, obwohl dieser Konsens brüchig ist.
In einem Teil der Öffentlichkeit, und dazu gehören leider auch Linke, besteht andersherum die oft schwer erträgliche Tendenz, jede Form der gewalttätigen, auch kriegerischen Unterdrückung und Verfolgung anderer Völker mit Faschismus gleichzusetzen. Man meint, je gröber der sprachliche Keil, desto radikaler und wirkungsvoller der Protest. Das Gegenteil ist der Fall. Auch in der kollektiven Gewaltanwendung gibt es Unterschiede, und es macht einen Unterschied, ob ganze Bevölkerungsgruppen das Recht auf einen Staat, das Recht auf die Besiedlung ihres Landes oder das Recht auf ihr Leben genommen wird. Diese Unterschiede festzustellen bedeutet in keiner Weise eine Relativierung oder Verharmlosung des begangenen Unrechts; Gewalt und Krieg darf niemals erst dann zum entschiedenen Protest herausfordern, wenn Völkermord im Gang ist.

3. Der "Krieg gegen den Terror"

Die internationale "Allianz gegen den Terror", der sich auch die deutsche Regierung angeschlossen hat, wirft die Frage nach der Orientierung der deutschen Außenpolitik auf. Deren Konturen sind durchaus unscharf und auch widersprüchlich. In der linken Debatte dazu finden sich Positionen, die das Bündnis Deutschlands mit den USA zur strategischen Achse einer freiheits- und friedliebenden Politik machen; am entgegengesetzten Ende finden sich Positionen, die den US-Imperialismus zum Hauptfeind erklären und blind sind für die Ambitionen des deutschen und europäischen Imperialismus; wieder andere lehnen es rundheraus ab, den Ungleichgewichten zwischen den imperialistischen Mächten irgendeine Bedeutung zuzumessen.
Wir glauben nicht, dass eine antikapitalistische Linke, die sich als integraler Bestandteil der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung sieht, darauf verzichten kann, das konkrete politisch-strategische Gefüge des Imperialismus in der "neuen Weltordnung" zu analysieren. Wir meinen, dass eine Sichtweise, die ein "Vasallen"verhältnis der deutschen Regierungen zu den USA unterstellt, an der Realität weit vorbeigeht. Deutsche Politik setzt auf Weltgeltung und auf eine Großmachtrolle. Sie ist weit davon entfernt, sich als unkritischer Steigbügelhalter der US-Regierung zu gebärden, wenngleich sie aus eigenem Interesse weiterhin auf das strategische Bündnis mit den USA orientiert. Die bürgerliche Politik in Deutschland diskutiert aber auch Alternativen (die EU ist eine darunter), die für eine internationalistische und sozialistische Perspektive nicht weniger unakzeptabel sind. Auf der Linken findet sich dann häu?g die Neigung, sich im Kampf gegen eine Variante auf die Seite einer anderen zu schlagen. Wir halten das für eine der zentralen Schwächen auf der deutschen Linken und meinen, dass man ihr mit einem konsequenten Internationalismus begegnen muss.
Eine sozialistische Zeitung muss deshalb auch differenzieren zwischen der Politik der Regierungen und den Anliegen und Tendenzen in den jeweiligen Gesellschaften. Unsere Kritik am US-Imperialismus wird deshalb niemals antiamerikanisch, unsere Kritik an der israelischen Regierung niemals antiisraelisch oder gar antijüdisch sein.

4. Antisemitismus in Deutschland

Der Antisemitismus in Deutschland hat seine Ursachen in den hiesigen gesellschaftlichen Verhältnissen — historisch wie aktuell. Mit berechtigter Kritik an der israelischen Politik hat er nichts zu tun. Antisemitismus erschöpft sich nicht im Judenhass; ihn kennzeichnet wesentlich die Funktion, aufgestautes Unbehagen über die zunehmende Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Verhältnisse auf einen Ersatzgegner zu leiten; "der (reiche) Jude" als Strippenzieher im Hintergrund ist ein rassistisches Konstrukt, das als Projektionsfläche dient. Aus diesem Grund ist auch jedes Erstarken rechtsextremistischer Bewegungen immer von Antisemitismus begleitet, und dieser selbst ein guter Gradmesser für das Anwachsen chauvinistischer und nationalistischer Antworten auf die Gesellschaftskrise. Wenn man bedenkt, dass der gesellschaftliche Zerfall sich fortsetzt und wir von einer glaubwürdigen Antwort auf der Linken weiter entfernt sind denn je, kann man die Gefahr des Anwachsens von Antisemitismus und seine Rolle als Nährboden rechtsextremer Positionen gar nicht überschätzen.

5. Diskussionsbedarf

Die Kritik an den Beiträgen von Christoph Jünke wirft in den Augen der Redaktion auch ein Schlaglicht auf inhaltliche Mängel in der SoZ und auf Themen, über die es Diskussionsbedarf gibt.
Der Fortbestand und die eigenständigen Wurzeln des Antisemitismus nach der Shoa sind bei uns seit geraumer Zeit unterbelichtet. Eine kritische und selbstkritische Diskussion über Mängel in der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit innerhalb der Linken ist überfällig. Und diskussionswürdig scheint uns der Zusammenhang bestimmter Muster der "Aufarbeitung deutscher Vergangenheit" mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus.
Eine solche Debatte kann die SoZ weiterbringen, unbeschadet dessen, dass sie einen verunglückten Ausgangspunkt genommen hat. Das setzt aber voraus, dass tatsächlich um Positionen gerungen wird und Unterstellungen der Art, eine diskutable Ansicht und fragwürdige Formulierungen würden den Autor oder gar die Redaktion und gleich die ganze SoZ im rechten Lager verorten, unterbleiben. Wir gehen davon aus, dass alle, die sich in dieser Debatte zu Wort melden, das gleiche Grundanliegen teilen, wie es im Redaktionsstatut festgehalten ist. Wo dies in Frage gestellt wird, ist eine solidarische Debatte nicht mehr möglich.
Wir dokumentieren in dieser Ausgabe auf Seite 22 weitere Leserbriefe und Beiträge, die bis zum heutigen Tag bei der Redaktion eingegangen sind. Eine Reihe von Leserinnen und Lesern hat darüber hinaus ihr Interesse bekundet, sich ausführlicher zu bestimmten Aspekten der Debatte zu Wort zu melden. Die Redaktion plant deshalb für die Septemberausgabe eine Sonderbeilage zur SoZ, wo solche Beiträge veröffentlicht werden sollen. Die Einreichungsfrist für Beiträge ist der 12.August.
die Redaktion (17.7.2002)



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