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Auf einige Beiträge in den letzten beiden Ausgaben der SoZ zum Thema Möllemann und Antisemitismus hat es heftige
Reaktionen von Leserinnen und Lesern gegeben, die dem Autor, teilweise aber auch der Redaktion als Ganzer, vorwerfen, den Antisemitismus in Deutschland zu
verharmlosen. Diesen Vorwurf möchte die Redaktion natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
Sie möchte deshalb klarstellen, dass Kommentar und Artikel von Christoph Jünke nicht die
Mehrheitsmeinung der Redaktion spiegeln. Zugleich ist es das Recht eines Redakteurs, in einem Kommentar oder namentlich gezeichneten Artikel seine Meinung zu
schreiben. Wenn dies, wie im vorliegenden Fall, eine kontroverse Debatte auslöst, muss sie geführt werden darum bemüht sich die Redaktion.
Soweit wir es überblicken, dreht sich die Auseinandersetzung auch über die genannten Beiträge hinaus im Wesentlichen um folgende
Punkte:
Dessen Äusserungen zum Nahostkon?ikt bieten keine Grundlage für eine Solidarisierung mit dem palästinensischen Volk; sie zielen vielmehr
auf eine innenpolitische Mobilisierung gegen eine "zionistische Lobby", die angeblich "den größten Teil der Medienmacht in der Welt"
(Karsli) innehabe und damit geeignet ist, antisemitische Klischees zu bedienen und zu fördern.
Diese Mobilisierung steht im Zusammenhang mit dem vom Führungsduo
Möllemann/Westerwelle betriebenen Parteiprojekt "18 plus". Das kann man nicht ignorieren, unabhängig davon, ob man es für ausgewiesen
hält, dass die FDP auf dem Marsch in eine rechtspopulistische Partei ist, oder ob Möllemann mit seinen Äußerungen "nur" auf
Stimmenfang im rechten Sumpf gehen wollte (dazu gibt es in der Redaktion unterschiedliche Meinungen).
Ob das gelingt, ist für das politische Kräfteverhältnis in der BRD von Bedeutung und
muss für Linke Gegenstand gesellschaftspolitischer Sensibilisierung und Mobilisierung sein. Möllemann als Opfer einer "Pogromstimmung" zu
sehen, ist deshalb falsch und die Wortwahl völlig unangemessen.
In Teilen der innenpolitischen Debatte um die zerstörerische Politik der israelischen Regierung gegen die Palästinenser wurde und wird Kritik an
Israel gleichgesetzt mit Antisemitismus, um jegliche Kritik an der israelischen Politik im Keim zu ersticken. Die Tatsache, dass die jüdische Bevölkerung in
Europa Opfer des Naziterrors geworden ist und die Einzigartigkeit des Holocaust werden zum Argument dafür genommen, dass die Politik des Staates Israel nicht
grundsätzlich kritisiert werden dürfe, denn jede grundsätzliche Kritik mithin eine, die die kolonialistischen und teils ethnisch-religiösen
Grundlagen der Staatsverfassung Israels angreift relativiere die Vernichtungspolitik der Nazis.
Wir halten eine solche Position für falsch, weil sie dafür eingesetzt wird, dass die aktuellen
Verbrechen in wessen Namen sie auch immer durchgeführt werden hingenommen werden. Die Ernsthaftigkeit einer jeden Aufarbeitung der
Naziverbrechen misst sich immer noch am eindeutigsten daran, wie stark und nachhaltig das Engagement gegen heutiges Unrecht ist. Die deutsche Linke hat einen nicht
unerheblichen Teil ihrer Auseinandersetzungen im Nachkriegsdeutschland darum geführt, dass die Verantwortung und die Verstrickung der herrschenden Eliten
für und in die nationalsozialistischen Verbrechen aufgedeckt, benannt und akzeptiert werden. Heute gehört Antifaschismus ein Stückweit zum
gesellschaftlichen Konsens, das ist positiv, obwohl dieser Konsens brüchig ist.
In einem Teil der Öffentlichkeit, und dazu gehören leider auch Linke, besteht andersherum die
oft schwer erträgliche Tendenz, jede Form der gewalttätigen, auch kriegerischen Unterdrückung und Verfolgung anderer Völker mit Faschismus
gleichzusetzen. Man meint, je gröber der sprachliche Keil, desto radikaler und wirkungsvoller der Protest. Das Gegenteil ist der Fall. Auch in der kollektiven
Gewaltanwendung gibt es Unterschiede, und es macht einen Unterschied, ob ganze Bevölkerungsgruppen das Recht auf einen Staat, das Recht auf die Besiedlung
ihres Landes oder das Recht auf ihr Leben genommen wird. Diese Unterschiede festzustellen bedeutet in keiner Weise eine Relativierung oder Verharmlosung des
begangenen Unrechts; Gewalt und Krieg darf niemals erst dann zum entschiedenen Protest herausfordern, wenn Völkermord im Gang ist.
Die internationale "Allianz gegen den Terror", der sich auch die deutsche Regierung angeschlossen hat, wirft die Frage nach der Orientierung der
deutschen Außenpolitik auf. Deren Konturen sind durchaus unscharf und auch widersprüchlich. In der linken Debatte dazu finden sich Positionen, die das
Bündnis Deutschlands mit den USA zur strategischen Achse einer freiheits- und friedliebenden Politik machen; am entgegengesetzten Ende finden sich Positionen, die
den US-Imperialismus zum Hauptfeind erklären und blind sind für die Ambitionen des deutschen und europäischen Imperialismus; wieder andere lehnen
es rundheraus ab, den Ungleichgewichten zwischen den imperialistischen Mächten irgendeine Bedeutung zuzumessen.
Wir glauben nicht, dass eine antikapitalistische Linke, die sich als integraler Bestandteil der Bewegung
gegen die kapitalistische Globalisierung sieht, darauf verzichten kann, das konkrete politisch-strategische Gefüge des Imperialismus in der "neuen
Weltordnung" zu analysieren. Wir meinen, dass eine Sichtweise, die ein "Vasallen"verhältnis der deutschen Regierungen zu den USA unterstellt, an
der Realität weit vorbeigeht. Deutsche Politik setzt auf Weltgeltung und auf eine Großmachtrolle. Sie ist weit davon entfernt, sich als unkritischer
Steigbügelhalter der US-Regierung zu gebärden, wenngleich sie aus eigenem Interesse weiterhin auf das strategische Bündnis mit den USA orientiert. Die
bürgerliche Politik in Deutschland diskutiert aber auch Alternativen (die EU ist eine darunter), die für eine internationalistische und sozialistische Perspektive
nicht weniger unakzeptabel sind. Auf der Linken findet sich dann häu?g die Neigung, sich im Kampf gegen eine Variante auf die Seite einer anderen zu schlagen. Wir
halten das für eine der zentralen Schwächen auf der deutschen Linken und meinen, dass man ihr mit einem konsequenten Internationalismus begegnen muss.
Eine sozialistische Zeitung muss deshalb auch differenzieren zwischen der Politik der Regierungen und den
Anliegen und Tendenzen in den jeweiligen Gesellschaften. Unsere Kritik am US-Imperialismus wird deshalb niemals antiamerikanisch, unsere Kritik an der israelischen
Regierung niemals antiisraelisch oder gar antijüdisch sein.
Der Antisemitismus in Deutschland hat seine Ursachen in den hiesigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch wie aktuell. Mit berechtigter
Kritik an der israelischen Politik hat er nichts zu tun. Antisemitismus erschöpft sich nicht im Judenhass; ihn kennzeichnet wesentlich die Funktion, aufgestautes
Unbehagen über die zunehmende Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Verhältnisse auf einen Ersatzgegner zu leiten; "der (reiche) Jude" als
Strippenzieher im Hintergrund ist ein rassistisches Konstrukt, das als Projektionsfläche dient. Aus diesem Grund ist auch jedes Erstarken rechtsextremistischer
Bewegungen immer von Antisemitismus begleitet, und dieser selbst ein guter Gradmesser für das Anwachsen chauvinistischer und nationalistischer Antworten auf die
Gesellschaftskrise. Wenn man bedenkt, dass der gesellschaftliche Zerfall sich fortsetzt und wir von einer glaubwürdigen Antwort auf der Linken weiter entfernt sind
denn je, kann man die Gefahr des Anwachsens von Antisemitismus und seine Rolle als Nährboden rechtsextremer Positionen gar nicht überschätzen.
Die Kritik an den Beiträgen von Christoph Jünke wirft in den Augen der Redaktion auch ein Schlaglicht auf inhaltliche Mängel in der SoZ und auf
Themen, über die es Diskussionsbedarf gibt.
Der Fortbestand und die eigenständigen Wurzeln des Antisemitismus nach der Shoa sind bei uns seit
geraumer Zeit unterbelichtet. Eine kritische und selbstkritische Diskussion über Mängel in der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit innerhalb der Linken ist
überfällig. Und diskussionswürdig scheint uns der Zusammenhang bestimmter Muster der "Aufarbeitung deutscher Vergangenheit" mit den
aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus.
Eine solche Debatte kann die SoZ weiterbringen, unbeschadet dessen, dass sie einen verunglückten
Ausgangspunkt genommen hat. Das setzt aber voraus, dass tatsächlich um Positionen gerungen wird und Unterstellungen der Art, eine diskutable Ansicht und
fragwürdige Formulierungen würden den Autor oder gar die Redaktion und gleich die ganze SoZ im rechten Lager verorten, unterbleiben. Wir gehen davon aus,
dass alle, die sich in dieser Debatte zu Wort melden, das gleiche Grundanliegen teilen, wie es im Redaktionsstatut festgehalten ist. Wo dies in Frage gestellt wird, ist eine
solidarische Debatte nicht mehr möglich.
Wir dokumentieren in dieser Ausgabe auf Seite 22 weitere Leserbriefe und Beiträge, die bis zum
heutigen Tag bei der Redaktion eingegangen sind. Eine Reihe von Leserinnen und Lesern hat darüber hinaus ihr Interesse bekundet, sich ausführlicher zu
bestimmten Aspekten der Debatte zu Wort zu melden. Die Redaktion plant deshalb für die Septemberausgabe eine Sonderbeilage zur SoZ, wo solche Beiträge
veröffentlicht werden sollen. Die Einreichungsfrist für Beiträge ist der 12.August.
die Redaktion (17.7.2002)