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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 4

Sozialer Kahlschlag

Soziale Grundrechte erstreiten

von CHRISTA SONNEFELD

In der BRD ist die inhaltliche Füllung des Bürgerstatus relativ schwach, aber das hat gleichwohl Gründe. Die Begründer des Grundgesetzes hatten eine politische Teilhabe bewusst nicht intendiert, um der Bevölkerung nicht zu viel Macht zu kommen zu lassen. Dies führte u.a. auch dazu, dass sogar die durchscheinende Demokratieverachtung der politischen Eliten mehr oder weniger als alternativloses Geschick — allenfalls leise murrend — bis heute hingenommen wird. Um so mehr muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sich das Wesen einer freien Gesellschaft mit forcierter Armut und repressiven Strategien nicht vereinbaren lässt. Im kapitalistischen (Welt-)System ist zwar das sozialstaatliche Modell mit seinen Versprechen von Freiheitsrechten und Absicherungen von Lebensrisiken ohnehin bloß fiktiv. Dennoch kann eine Diskussion über den Anspruch an soziale und politische Grundrechte die wachsende Ungleichheit zum öffentlichen Gegenstand machen, den Zwang zu irgendeiner Arbeit, und sei sie noch so sinnlos und schlecht bezahlt, ins öffentliche Bewusstsein rücken und die Einhaltung von Freiheitsrechten reklamieren. In einer solchen Debatte müsste es auch um die zunehmend autoritäre Politik gehen, die sich auf diesen Ebenen intensiviert. Hier ist nichts von einem Rückzug des Nationalstaats zu verspüren. Der repressive Staat wird gebraucht, um den sozialen Frieden zu sichern und um Ansprüche der Bedürftigen abzuweisen.
Blickt man in die Erklärung der Menschenrechte von 1948, dann mutet diese wie ein revolutionäres Manifest an. Dort sind soziale Grundrechte, wie z.B. das Recht auf freie Berufswahl, auf soziale Sicherheit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit u.a. verankert. Davon sind wir weit entfernt. Besonders in der Medienöffentlichkeit würde eine derartige Proklamierung eher als Naivität diffamiert werden, die die modernen Anforderungen ignoriere.
Dabei trägt bei uns das Sozialgesetzbuch I dem Sozialstaatsgebot Rechnung, indem es die Verpflichtung formuliert, "ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen … den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen". Der Einsatz für soziale Grundrechte ist vor diesem Hintergrund sowohl über die Erklärung der Menschenrechte als auch über die spezifisch deutsche Fassung argumentativ zu begründen, auch wenn ökonomische Verwertungsinteressen machtvoll dagegen agieren und staatliche Repräsentanten uns weismachen wollen, dass der Bezug sozialer Leistungen immer auch zwingend mit der Verletzung von Grund- und Freiheitsrechten einhergehen müsse.
Die Frage bleibt, wie ein kritisches, produktives Verhältnis zu diesen Entwicklungen hergestellt werden kann. Eine Idealisierung des Sozialstaats der 70er und 80er Jahre ist eine Verkennung der Realität. Reanimierungsversuche vernachlässigen nämlich, dass weder soziale Rechte in Gestalt einer aktiven politischen Teilhabe noch eine menschenwürdige Existenzsicherung gegeben waren, da die Vergabe von Sozialleistungen immer mit Zwang und Disziplinierung verknüpft war.
Zum zweiten war das System der sozialen Sicherung Bismarck‘scher Prägung immer erwerbszentriert. Die Weigerung, eine Stelle anzutreten, war deshalb immer auch mit der Androhung und Durchsetzung des Leistungsentzugs gekoppelt, wenn auch im alten Arbeitsförderungsgesetz die Interessen der Erwerbslosen und ihr Schutz vor "unterwertiger" Beschäftigung zumindest Bestandteil der Gesetze waren.
Weder die Rückkehr zum Sozialstaat der 70er und 80er Jahre noch die Forderung nach dem Erhalt der sozialen Sicherung wird uns angesichts des Umstands, dass es immer weniger existenzsichernde Arbeitsplätze gibt, einem menschenwürdigen Dasein näher bringen, das eine Sicherung auch ohne Lohnarbeit ermöglicht. Gleichzeitig muss aber bedacht werden, dass die Abkehr von der klassischen sozialen Sicherung bedeuten würde, dass wir soziale Rechte dann weder reklamieren noch einklagen können und mehr oder weniger auf die Mildtätigkeit von Wohlfahrtsorganisationen und Unternehmensstiftungen zurückgeworfen sein würden.
Ein bedingungsloses, ausreichendes Grundeinkommen würde nicht auf dem Beitragsmodell fußen können, das der jetzigen sozialen Sicherung wesentlich zugrunde liegt. Und es muss begleitet sein von sozialen Grundrechten. Dieser Weg wird uns sicherlich nicht geebnet werden, wir müssen ihn uns erstreiten.

Christa Sonnenfeld, Sozialwissenschaftlerin, ist Mitglied im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Redakteurin der Internetzeitschrift links-netz .

Siehe auch ihren anderen Artikel.





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