SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 13

Der Fall Enron

Die Normalität eines Global Player

Die Bilanzaffäre um den US-Telefonkonzern Worldcom Ende Juni erinnert nicht zufällig an den Skandal um den zusammengebrochenen US-Energieriesen Enron. In der jüngsten Ausgabe (Nr.42) der Schweizer Halbjahresschrift Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik (www.widerspruch.ch) erschien ein Rückblick auf den "vielleicht größte[n] Wirtschaftsskandal in der amerikanischen Geschichte" (New York Times), den wir hier, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Zeitschrift gekürzt nachdrucken.

Am 4.Dezember 2001 war Schluss: Enron, Wall Streets Liebling und Star aus Präsident Bushs Heimatstaat Texas, meldete den Konkurs an. In wenigen Monaten war der Aktienkurs von einst 90 Dollar pro Aktie auf unter 5 Dollar gefallen. Die Schweizer UBS übernahm das Energiehandelsgeschäft von Enron gratis und franko aus der Konkursmasse. Enron implodierte wie ein Internet- oder Softwareunternehmen mit wenig Substanz, dabei galt Enron als die siebtgrößte US-Firma. Das Wirtschaftsmagazin Fortune wählte Enron fünf Jahre nacheinander zum "innovativsten Unternehmen Amerikas". Enron-Manager waren gefeierte Teilnehmer des World Economic Forum. Das weltweite Imperium der 1985 gegründeten Firma bestand aus über 1000 Unternehmen.
Enron baute und betrieb Erdgaspipelines und Gaskraftwerke in Ländern wie Argentinien, Bolivien, Brasilien, Indien, Mosambik und den Philippinen. Enron war der größte Stromhändler in den USA; daneben handelte Enron auch mit Datenübertragungskapazität und einer ganzen Reihe von Rohstoffen. Enron bastelte immer neue Derivate und Termingeschäfte, die die Risiken von Preisschwankungen im Energiemarkt abfedern sollten. Zu den Enron-Kreationen gehörten auch Wetterderivate, oder prosaischer ausgedrückt, Wetten darauf, wie das Wetter wird.
Das Unternehmen Enron zahlte keine Steuern, es finanzierte Politiker direkt. Unter den 1000 Firmen und Beteiligungen des Enron-Imperiums waren 881 Briefkastenfirmen. Dies ermöglichte dem Unternehmen auch in den Jahren, als es Rekordgewinne auswies, Steuern zu umgehen. Mit Ausnahme eines bescheidenen Betrags im Jahr 1997 bezahlte Enron in den fünf Jahren vor dem Kollaps in den USA keine Bundessteuern.
Enron und sein Top-Management waren großzügige Spender. Ingesamt 6 Millionen Dollar investierte die Firma in den letzten zehn Jahren direkt in Wahlkampfspenden. Der größte Teil ging jeweils an die Republikaner, aber auch Demokraten erhielten Enron-Spenden. Die Enron- Spendenempfänger bilden im Senat und Repräsentantenhaus eine Mehrheit. Präsident George W. Bush erhielt mehr als 10% der gesamten Enron-Spenden für seinen Gouverneurs- und Präsidentschaftswahlkampf.
Enron widerlegt die These vom Bedeutungsverlust der Politik in der globalen Wirtschaft. Enrons wichtigster "Rohstoff" war politischer Einfluss. Die global tätigen Unternehmen brauchen nicht "weniger Staat", sondern sie brauchen einen Wettbewerbsstaat, der sich für ihre Anliegen einsetzt. In den USA selbst schaffte die Liberalisierung des Strommarkts die Voraussetzung für Enrons Geschäfte, im Ausland setzte sich die US- Diplomatie für Enron ein.
Thelma Awori, die ehemalige Direktorin des UN-Umweltprogramms für Afrika, erzählte an der Public-Eye- Konferenz in New York, wie der US-Botschafter in Mosambik drohte, die USA könnten die Entwicklungshilfegelder nicht mehr verantworten, falls die Regierung der Firma Enron nicht erlaube, die reichen Öl- und Gasfelder vor der Küste auszubeuten. Druck seitens der US-Regierung half Enron auch in Argentinien, auf den Philippinen und in Indien. Noch im Sommer 2001 bearbeitete Vizepräsident Dick Cheney indische Regierungsstellen, um die Fertigstellung des Enron-Kraftwerkprojekts Dabhol zu sichern.

Mit Tricks und Kniffen

Enron war das Musterunternehmen der 90er Jahre, denn es setzte alles daran, den Börsenwert (Shareholder Value) zu maximieren. 1998 nahm Enrons Aktienwert um 40% zu, 1999 um 58% und im Jahr 2000 um 89%. Das Unternehmen war bei der Wahl seiner Mittel nicht wählerisch. Das begann bspw. schon damit, wie Enron seinen Umsatz aufblähte. Bei einer korrekten Rechnung landet Enron für das Jahr 2000 nicht mehr auf Rang 7 der umsatzstärksten Unternehmen, sondern auf Rang 287. Aber nicht nur beim Umsatz wurde geschummelt, sondern auch beim Gewinn.
Enron nutzte alle Tricks und Kniffe, um sich gegenüber den Aktienmärkten ins beste Licht zu rücken. So wurde nach Abschluss eines Vertrags, der über Jahre gewisse Einnahmen garantierte, die ganze Summe auf einmal als Einnahme verbucht. Von einer Pipeline in Brasilien wurden bereits Gewinne verbucht, bevor die Röhren fertig verlegt waren. Enron tarnte Kreditaufnahmen als Handelsgeschäfte und bezahlte Gläubiger mit Aktien. Beides diente dazu, dass die reale Verschuldung des Unternehmens in der Bilanz nicht zu erkennen war.
Enron-Manager gründeten Briefkastenfirmen unter aktiver Mithilfe von Credit Suisse First Boston (CSFB), der Investmentbankabteilung der Credit Suisse, und der Vermögensverwaltungsfirma Donaldson, Lufkin and Jenrette (DLJ), die im Jahr 2000 der CSFB einverleibt wurde. Enron hatte insgesamt 3500 solche Briefkastenfirmen — "Partnerschaften" genannt, einige trugen Namen aus dem Film Star Wars (Jedi, Chewco etc.).
Verluste, die Enron bei Investitionen und Finanzdeals machte, wurden auf diese Firmen übertragen. Das Vermögen der Briefkastenfirmen bestand aus Enron-Aktien. Deshalb konnten die Verluste nur solange versteckt werden, wie der Aktienkurs stieg oder nicht zu tief fiel. Und der Aktienkurs blieb nur oben, solange die geschönte Bilanz nicht aufflog. Deshalb unter anderem klappte Enron so schnell zusammen.
Enron hat vermutlich die "kreative Bilanzierung" weitergetrieben als andere Firmen und dabei vielleicht auch Recht gebrochen. Möglicherweise haben sich bei den Transaktionen einzelne Manager illegal bereichert. Die Praktiken an sich sind aber nicht ungewöhnlich und sie sind auch nicht einem kriminellen Geist entsprungen, sondern in diesem Fall die logische Konsequenz, wenn der Aktienwert zum alleinigen Kriterium für den Unternehmenserfolg wird.
Der Enron-Kollaps zeigt die Irrationalität des Shareholder-Fetischismus, mal ganz abgesehen von den sozialen und ökologischen Kosten.

Enron und die Entwicklungspolitik

Die 90er Jahre brachten einen neuen Konsens zwischen den Regierungen in Nord und Süd in der ansonsten unübersichtlichen Entwicklungsdebatte: Investitionen aus dem Ausland sollen es richten. Was dies für die Energieinfrastruktur bedeutet, lässt sich am Beispiel Enron bestens zeigen. Meistens werden die Vorteile von Auslandsinvestitionen mit einem Mythos begründet: sie "bringen knappes Kapital". Dieses Argument verkennt den Charakter jeder Investition, denn immer ist es das Ziel, Gewinn zu machen.
Jede (erfolgreiche) Investition aus dem Ausland führt also Kapital ab: Zuerst werden die Kosten der Investition wieder reingeholt und dann wird der Gewinn "repatriiert". Eine Auslandsinvestition kann dennoch sinnvoll sein, es kommt aber darauf an, wie viel sie das Land kostet und welchen Nutzen (Technologie, Wissen, neue Arbeitsplätze etc.) sie bringt.
In der Realität entscheiden aber nicht die Kosten-Nutzen-Rechnungen des Gastlands über eine Investition, sondern Interessen, wie das Beispiel des Enron-Gaskraftwerks Dabhol zeigt: Dabhol war das erste private Kraftwerkprojekt in Indien. Der erste Vertrag zwischen der Regierung des Bundesstaats Maharashtra und dem Konsortium unter der Führung von Enron wurde 1993 geschlossen, im selben Jahr betrachtete die Weltbank das Projekt als unwirtschaftlich. Die Opposition vermutete Bestechung und Enron machte kein Geheimnis daraus, dass das Unternehmen Millionen ausgegeben hatte, um Politiker und Bürokraten "über die Vorteile des Projektes aufzuklären".
Als 1995 die Opposition in Maharashtra an die Macht kam, machte sie zuerst ihr Wahlversprechen wahr und stieg aus dem Vertrag mit Enron aus. Die "Glaubwürdigkeit der indischen Liberalisierungspolitik" sei damit in Frage gestellt, beklagte sich der Tages-Anzeiger. Doch Frank Wisner, der US-Botschafter in Indien, legte sich für Enron ins Zeug; als er seinen Botschafterposten aufgab, erhielt auch er einen Job bei Enron.
1996 wurde ein neuer Dabhol-Vertrag mit Enron unterzeichnet, diesmal wurde das Kraftwerk sogar noch um eine doppelt so große zweite Etappe aufgestockt. Credit Suisse First Boston organisierte die Finanzierung. Mittels bindender Abnahmeverträge mit der staatlichen Energiegesellschaft, unabhängig davon ob der Strom gebraucht würde oder nicht, sicherte sich Enron vertragliche Einnahmen von insgesamt 30 Milliarden Dollar — eine Rendite von knapp 30%. Die Stromkosten von Dabhol lagen weit über dem indischen Durchschnitt.
Das Dabhol-Projekt geriet auch wegen Menschenrechtsverletzungen in die Schlagzeilen. Das Konsortium unterstützte lokale Polizeikräfte, die das Werksgelände gegen protestierende Anwohner schützten, finanziell und mit firmeneigenen Helikoptern. Anfang 2001 gab Maharashtra nach einem erneuten politischen Wechsel bekannt, es sei kein Geld da, um die Verträge mit Enron einzuhalten. Die Bauarbeiten wurden kurz vor Fertigstellung des Kraftwerks eingestellt. Nach dem Kollaps von Enron steht Dabhol zum Verkauf. Die finanziellen Konsequenzen für Indien werden vor Gericht ausgehandelt, teuer wird es in jedem Fall.
Die Firmenkultur von Enron glich jener einer Sekte. Enron war nicht nur eine gute Firma, sondern gut für die Welt. Wo die Enron-Manager hinkamen, predigten sie, dass Enron den Armen Reichtum, Frieden und Effizienz bringen werde. Enrons zehn Gebote waren nur fünf: Konkurrenz, freier Markt, Welthandel, Globalisierung und Deregulierung.

Die Firma als Sekte

Enron profilierte sich auch als Wohltäter. Das neue Football-Stadion in Houston hiess Enron Fields. Und Enron stiftete einen Preis, der wie ein schlechter Witz klingt: "The Enron Prize for Distinguished Public Service". Preisträger waren Nelson Mandela, Eduard Schevardnadse, Colin Powell und Alan Greenspan.
Und wie in einer Sekte wird unten geglaubt und oben abkassiert. Der größte Teil der Pensionskassenguthaben der Enron-Beschäftigten war in Enron-Aktien angelegt. Die Aktien waren aber dort gefangen. Als die Enron-Kurse fielen, durften die Beschäftigten ihre Enron-Aktien nicht verkaufen, viele Enron-Angestellte verloren ihre ganze Altersicherung.
Ganz anders die Bosse, sie brachten ihre Schafherden ins Trockene. Kenneth Lay, der Enron-Chef, kassierte für den Verkauf von Enron-Aktien vor dem Kollaps zwischen 70 und 100 Millionen Dollar. Insgesamt sollen 29 Topmanager 1,1 Milliarden abkassiert haben. Während er selbst die Aktien verkaufte (und damit die Kurse weiter nach unten drückte), teilte Lay seinen Mitarbeitern noch am 26.September, etwas mehr als zwei Monate vor dem Bankrott, mit, Enron-Aktien seien ein "hervorragendes Geschäft". >Wer kontrolliert wen?

In der Welt der Shareholder gibt es nur ein Modell der Kontrolle: Der Chef kontrolliert die Angestellten, die Verwaltungsräte den Chef und die Aktionäre die Verwaltungsräte, und sie verfügen über die Informationen von Rechnungsprüfungsfirmen.
Im Fall Enron versagte die Kontrolle auf allen Ebenen. Am peinlichsten aber ist die Verwicklung der Rechnungsprüfungsfirma Arthur Andersen mit dem Enron-Skandal. Die Andersen-Mitarbeiter bescheinigten Enron saubere Bilanzen — von verkappten Schulden und versteckten Verlusten kein Wort. Dafür gibt es zwei gleichermaßen unangenehme Erklärungen: Unfähigkeit oder Komplizenschaft.
Enron war der zweitwichtigste US-Kunde von Andersen. Die Firma verdiente als Rechnungsprüfer von Enron 25 Millionen Dollar, gleichzeitig hatte sie Beratungsaufträge von Enron, die 27 Millionen Dollar brachten. Seit Enron ins Trudeln geriet, wurden bei Andersen massenweise Enron- Akten geschreddert.
Andersen ist kein Einzelfall, die Probleme sind strukturell. Die Rechnungsprüfungsfirmen sollen einerseits den Aktionären die Kontrolle ermöglichen, andererseits sollen sie aber auch selbst Profite machen. Weltweit dominieren dieses Geschäft nur fünf Unternehmen (neben Arthur Andersen sind dies PricewaterhouseCoopers, KPMG, Ernst & Young und Deloitte & Touche).
Vieles am Enron-Skandal ist unter den Global Players Normalität: Steuerumgehung, Intransparenz, Bereicherung und Kontrollverlust kennt man auch aus den anderen Wirtschaftsskandalen, die seit dem Ende der goldenen 90er Jahre mit schöner Regelmäßigkeit aufbrechen.
Enron ist der Supergau der Globalisierer, doch ihr Abwehrdispositiv ist schon in Funktion. Derzeit laufen Dutzende von Untersuchungen, und es besteht die Gefahr, dass so viele Details zu Tage gefördert werden, dass daraus nie mehr ein klares Bild erstellt werden kann. Dabei wird auf persönliche Fehltritte und kriminelle Handlungen fokussiert werden, und eine Welle von Schadenersatzklagen wird losgehen.
Für die globalisierungskritische Bewegung ist der Fall Enron aber keine kriminelle Ausnahme, sondern die Regel. Mindestens folgende Erkenntnisse lassen sich aus dem Enron-Kollaps gewinnen:
Eine Firma nur auf die Maximierung des Aktienwerts zu trimmen, zerstört beides, die Firma und den Wert der Aktien.
Die Privatisierung von Energie- und Wasserversorgung kommt die Gesellschaft teuer zu stehen, der öffentliche Sektor muss verteidigt werden.
Die Altersversorgung wie in den USA primär an die Aktienmärkte zu delegieren, wie das in den USA praktiziert wird, ist russisches Roulette.
Die "Kontrolle" des Managements durch Rechnungsprüfungsfirmen und Aktionäre funktioniert nicht, staatliche Kontrolle hat nicht ausgedient.
Andreas Missbach



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