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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 16

Brasilien vor den Wahlen

Nur eine linke Alternative kann Erfolg bringen

Nach einem Jahrzehnt neoliberaler Regierungen durchläuft Brasilien eine in seiner Geschichte nie dagewesene Krise. Unter dem derzeitigen Präsidenten Fernando Cardoso ist die Außenschuld des Landes auf 419 Milliarden Dollar gestiegen. Für den Ausgleich der diesjährigen Zahlungsbilanz müssten zwischen 47 und 50 Mrd. Dollar in Form von Investitionen und auswärtigen Zahlungen aufgebracht werden, oder, mit anderen Worten, etwa 1 Mrd. Dollar pro Woche.

Die Verschuldung des Bundes, der Bundesstaaten und der Kommunen entspricht 73% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Schuldverschreibungen des Bundes (mit Ausnahme der Zentralbankpapiere) stiegen von 62 Mrd. Reais (12% des BIP; 1 Real entspricht ca. 0,50 Euro) zu Beginn der ersten Wahlperiode von Cardoso 1994 auf über 635 Mrd. Reais (51,2% des BIP) im Januar 2002. 53% dieser Summe sind kurzfristig verzinst und 29% sind dollarisierte Schuldverschreibungen. Auf diese Weise nimmt die öffentliche Schuldenlast in dem Maße zu, wie die Zinsen steigen oder der Real an Wert verliert.
Die Durchsetzung des Neoliberalismus in Brasilien hat zu einer Verminderung des Wirtschaftswachstums und zu einer Ausweitung von Erwerbslosigkeit und Verelendung, zu einer erhöhten Abhängigkeit und Verwundbarkeit gegenüber dem Druck des spekulativen Kapitals sowie gegenüber der nordamerikanischen Herausforderung geführt, die auf die Durchsetzung der amerikanischen Freihandelszone ALCA abzielt.
Ein Schlüsselelement in den diesjährigen Wahlen ist, insbesondere im Kampf um das Präsidentenamt, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Die Bundesregierung hat auf der einen Seite versucht, die Nachfolgefrage mit einem politisch-ideologischen Belagerungsring zu umgeben, indem sie den imperialistischen Wirtschaftsterrorismus ausgenutzt hat, um ihren Kandidaten nach vorn zu bringen, und auf der anderen Seite besteht sie gegenüber der Volksopposition auf der Logik des Marktes und beschwört im Übrigen die Unregierbarkeit des Landes.
Die Konsequenzen und Sackgassen des Neoliberalismus haben indessen die Bedingungen für den Erhalt der bürgerlichen Macht verschlechtert, sie führten zu Spaltungen innerhalb der bürgerlichen Parteien sowie zu einem seit 1999 anhaltenden enormen Popularitätsverlust des Präsidenten. Mit den Kommunalwahlen des Jahres 2000 hat sich die Ablehnung der neoliberalen Konterreform in einem Stimmenzuwachs für die Linksparteien niedergeschlagen: Die Arbeiterpartei (PT) konnte ihre Oberbürgermeisterkandidaten in sechs Landeshauptstädten durchsetzen sowie in Dutzenden von Städten mit mehr als 100000 Einwohnern.
Die von staatlichen Polizeiorganen inszenierte und von den großen Medien unterstützte Kampagne gegen Führungsmitglieder und Mandatsträger der PT, die Erklärungen des Präsidenten der US- amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, des ehemaligen Vizedirektors des IWF, Stanley Fisher, oder des Megaspekulanten Jorge Soros hinsichtlich der "negativen Auswirkungen auf die Märkte", die die Kandidatur des PT-Präsidentschaftskandidaten Lula hervorrufe, zeigen indessen, dass die Gegner unseres Projekts nicht zögern, uns zu erpressen oder Desinformation und Terror anzuwenden.
Das Szenarium der Präsidentschaftswahl hat sich mittlerweile geklärt. Nachdem der neoliberale Regierungsblock das gesamte erste Halbjahr darauf verwandt hat, seine Liste zusammen zu stellen, schickt er nun José Serra und Rita Camata ins Rennen, hat das formale Bündnis zwischen der sozialdemokratischen PSDB und der bürgerlichen Sammlungspartei PMDB gefestigt und kann auf die informelle Unterstützung der rechtsliberalen PFL zählen.
Die PPS [die ehemalige Pro-Moskau-KP], die rechtspopulistische PTB und die linkspopulistische PDT haben sich verbündet, um die Kandidatur von Ciro Gomes zu unterstützen. Die linkssozialdemokratische PSB hält die Kandidatur ihres Kandidaten Anthony Garotinho aufrecht. Die PT und die [früher proalbanische] PCdoB stehen hinter der Kandidatur von Lula.
Die vom Institut Vox Populi für die Präsidentschaftswahl durchgeführte und am 26.Juni veröffentlichte Umfrage registriert einen leichten Rückgang für Luiz Inácio Lula da Silva, der allerdings mit 38% immer noch an der Spitze liegt. Bei der letzten, von dem Institut durchgeführten Erhebung am 30.Mai lag der PT-Kandidat sogar bei 40%.
José Serra (PSDB) hält mit 21% den zweiten Platz und hat sich damit gegenüber dem Monat Mai um 1 Prozentpunkt verbessern können. Der Ex-Gouverneur des Bundeslands Ceara, Ciro Gomes (PPS), liegt bei 16% und damit deutlich höher als mit den 9% vom vergangenen Monat. Anthony Garotinho (PSB) liegt mit 11% auf dem vierten Platz. In der letzten Umfrage wurde er noch mit 13% als Dritter gehandelt.
Der Verlust der politischen Hegemonie des neoliberalen Projekts in Brasilien hat zu Veränderungen bei der Selbstdarstellung der bürgerlichen Parteien und ihrer Kandidaten geführt. Serra, der Kandidat des Regierungslagers, verteidigt in seinen Reden sowohl die "wirtschaftliche Stabilität" wie auch die Ideen der "Politik des wirtschaftlichen Wachstums" und der "Einkommensumverteilung". Ciro Gomes bewegt sich in die linke Mitte und versucht sich als Kritiker des neoliberalen Projekts darzustellen.
Diese Politik entspricht sowohl dem Bestreben mehrheitlicher Teile der bürgerlichen Eliten in Brasilien, Alternativen gegenüber den neoliberalen Sackgassen herauszuarbeiten, als auch ihrem Versuch, den Dialog mit dem wachsenden Lager der Kritiker des Neoliberalismus zu suchen. Darüber hinaus versuchen sie mit diesem veränderten ordnungspolitischen Diskurs auf positive — und opportunistische — Weise an die Stimmung anzuknüpfen, die in der Bevölkerung und den Volksorganisationen, insbesondere der PT und in den von ihr geführten Bundesländern und Städten vorherrscht.
Der Widerstand gegen das neoliberale Projekt hat nicht mehr aufgehört: Während der gesamten Regierungszeit von Cardoso hat die arbeitende Bevölkerung nach Wegen und Möglichkeiten gesucht, die bürgerliche Offensive zu stoppen. Indem wir politische Spaltungen überwinden konnten, haben wir, insbesondere ab 1999, bedeutende Widerstandsaktivitäten entwickeln können, u.a. den Marsch der 100000 nach Brasília, die Unterschriftensammlung gegen die Auslandsverschuldung, die Kampftage der Landlosenbewegung MST für die Landreform. Hinzu kommt die Politik unserer Landesregierungen und Stadtverwaltungen, insbesondere in Rio Grande do Sul.
Unsere Partei konzentrierte die Debatten und Entschließungen ihres letzten Bundestreffens vor allem auf die Aufgabe, die Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus über die Präsidentschaftswahl zu suchen.
Im Hinblick auf den Verlauf des politischen Kampfes, währenddessen der Widerstand gegen das neoliberale Projekt bedeutend gewachsen war, verabschiedete das 12.Bundestreffen der PT die Entschließung "Konzeption und Leitlinien der PT-Regierung für Brasilien". Auch wenn diese nicht vollständig an den Grad programmatischer Klarheit der vom 5.Bundestreffen im Jahr 1987 angenommenen Thesen anknüpfte und in der ausgearbeiteten Parteistrategie die Rolle des Beteiligungshaushalts für den Aufbau der Volksmacht keinen Stellenwert hat, so überwinden die verabschiedeten "Leitlinien" dennoch einige bedeutsame programmatische Zweideutigkeiten, wie sie sich in den Wahlen von 1994 und 1998 gezeigt hatten.
Die mit einigen wichtigen Änderungsanträgen angenommene Entschließung unterstreicht den "demokratischen und popularen Charakter" unseres Regierungsprogramms und besteht darauf, "dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass eine demokratische Volksregierung einen klaren und umfassenden Bruch mit dem bestehenden Modell herbeiführen muss, um die Grundlagen für die Verwirklichung eines alternativen Entwicklungsmodells zu schaffen", das die demokratischen, sozialen und nationalen Fragen zum Ausdruck bringt.
Indem die vergangenen Illusionen hinsichtlich des progressiven Charakters der herrschenden Klassen Brasiliens fallengelassen wurden, hat unsere Partei mit der angenommenen Entschließung bekräftigt, dass die Umsetzung unseres Regierungsprogramms "nur dadurch möglich wird, dass ein neues Kräfteverhältnis geschaffen wird, durch das mit den aufeinanderfolgenden konservativen Bündnissen gebrochen werden kann, die das Land über Jahrzehnte beherrscht haben".
Der Erfolg im Aufbau einer massenhaften gesellschaftlichen Alternative, die in der Gesamtheit der Nation mehrheitsfähig ist, macht es erforderlich, dass die PT und Genosse Lula der Bevölkerung verständlich darlegen, nach welchen Maßstäben sie regieren werden, dass sie die Unfähigkeit der konservativen Parteien herausstellen und dass sie sich einem nationalen Projekt verpflichten und sich zu Sachwaltern der arbeitenden Bevölkerung sowie der kleinen und mittleren Produzenten in Stadt und Land machen.
Die in der PT laufende Debatte über die Ausweitung unserer Bündnispolitik unter Einschluss der Liberalen Partei (PL) und weiterer Parteien der Mitte und der rechten Mitte läuft diesem Erfordernis zuwider und steht nicht im Einklang mit den Entschließungen des 12.Bundestreffens der Partei. Sie berücksichtigt auch nicht die Erfahrungen unserer eigenen Geschichte.
Dabei hatten wir bereits einige ruinöse Erfahrungen mit derartigen Gelegenheitsbündnissen. Noch unlängst hatte sich die PT an der Regierung des Gouverneurs Itamar Franco (PMDB) beteiligt und musste diese schließlich unter erniedrigenden Umständen mit großem Schaden für die gesamte Partei im Bundesstaat Minas Gerais wieder verlassen — es reicht, sich diesbezüglich die letzten Wahlergebnisse für die PT in diesem Bundesstaat anzuschauen.
Diese unglückselige Erfahrung zeigt, dass dieser Typ von Gelegenheitsbündnissen der Partei schadet, sowohl vom programmatischen wie vom wahlpolitischen Standpunkt. Die gegensätzliche Entwicklung zu der Erfahrung von Minas Gerais konnten wir bei den Kommunalwahlen des Jahres 2000 etwa in Porto Alegre beobachten und beim Wahlsieg von Olívio Dutra, als dieser die Landesregierung von Rio Grande do Sul im Jahr 1998 gewann: Ausgehend von der Einheit des demokratischen und popularen Lagers ist es möglich, die Gesellschaft mitzureißen und eine gesellschaftliche Legitimität zu schaffen, um mit demokratischen Reformen in Staat und Gesellschaft zu beginnen.
Diese jüngsten Lehren bestärken die These, dass die Partei des demokratischen Sozialismus politische und Wahlerfolge erzielen kann, wenn sie sich von der Rechten und der Korruption politisch und ethisch klar abgrenzt und wenn die Veränderungen, für die wir kämpfen, die Mobilisierung eines politischen Willens zur Grundlage haben, der das demokratische und populare Lager zusammenschließt und wenn das Projekt die Hoffnungen und den Kampfeswillen der Mehrheit unseres Landes zum Ausdruck bringt.
Die Machbarkeit einer Regierung, die fähig ist, die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen einzuleiten, die das Land braucht, hängt vor allem von programmatischer Stimmigkeit ab und von einer hochentwickelten Fähigkeit zum Dialog mit den sozialen Bewegungen, die nicht den Bündnissen untergeordnet werden dürfen, weil dies die Regierung dabei lähmen und daran hindern wird, ihr Projekt nach vorn zu bringen.
Gelegenheitswahlbündnisse mit Parteien der Mitte und von Mitte-Rechts gewährleisten die erforderliche programmatische Kohärenz und diese Fähigkeit zum Dialog nicht nur nicht, sie verhindern sie geradezu.
Zu einer Zeit, in der der Kandidat des Regierungslagers für eine kontinuierliche Fortsetzung der Politik ohne Kontinuität eintritt und sich selbst zu legitimieren versucht, indem er uns als Alternative delegitimieren will, indem er Lula und die PT sowohl programmatisch und praktisch mit sich gleichsetzt, kommt es entscheidend darauf an, sich an Entschließungen des 12.Bundestreffens der Partei zu halten, die Klarheit unseres Projekts zu bewahren und davon ausgehend unsere Glaubwürdigkeit als verlässliche Vorkämpfer der Hoffnungen von Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern zu stärken.

Raúl Pont

Raúl Pont war von 1997 bis 2000 Oberbürgermeister von Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundesstaats Rio Grande do Sul. Als Vertreter der PT-internen Strömung Democracia Socialista war er im letzten Jahr einer der Kandidaten für den Parteivorsitz und erzielte nach José Dirceu die meisten Stimmen. Zu den Wahlen im Oktober dieses Jahres — bei denen der Staatspräsident, das Bundesparlament, ein Teil des Senats, die Gouverneure der Bundesstaaten und ihre Parlamente neu gewählt werden — kandidiert Raúl Pont für das Parlament von Rio Grande do Sul, der Hochburg der Parteilinken.




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