SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite 1

Blinder Fleck?

Manche deutsche Linken vermögen auch dann den Wald nicht zu erkennen, wenn sie inmitten von Tannen und Eichen stehen (nanu, wo kommen denn plötzlich die vielen Bäume her?). Zu ihnen gehört offenkundig Anton Holberg aus Bonn. "Beweise" möchte er dafür erbracht haben, dass der rechtsbürgerliche Politiker Jürgen Möllemann "ein sich nicht auf den Wortlaut seines Satzes stützendes rassistisches Verständnis" befördert habe, und fügt gleich noch hinzu: "Ich habe bisher noch keine gesehen."
Nun, man kann sich auch bewusst dumm stellen, wenn man nicht sehen will, was offensichtlich ist. Möllemann hatte in seinem letzten Beitrag im Neuen Deutschland, bevor das ND ihm seine Kolumne strich (warum durfte er dort überhaupt schreiben?), die Wahlerfolge rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien in Europa — von Jean-Marie Le Pen über Pim Fortuyn bis Jörg Haider — als vorgebliche Emanzipation des Volkes gegen die Eliten begrüsst. Damit hat er sich selbst in einen unzweideutigen Kontext gestellt. Dass solche Parteien aber zu wesentlichen Teilen mit Subtext und chiffrierten Redeweisen arbeiten — mit Argumentationen, die zwar nicht schwarz auf weiss im Redemanuskript stehen, aber vom Publikum auch so verstanden werden — ist ja nicht neu. "Beweisen Sie, dass Jean-Marie Le Pen ein Rassist ist", hatte die Nummer Zwei seiner rechtsextremen Partei, der "Generalbeauftragte" des Front National, Bruno Gollnisch, in den Wahlkämpfen dieses Frühjahrs in Frankreich getönt. Beweise, bitte! Natürlich gibt Le Pen nicht selbst an, Rassist zu sein. Selbstverständlich wird Jörg Haider bestreiten, dass er sein Publikum gegen die Juden und eine angebliche fremde Besatzung ausrichten wollte, als er in den frühen Neunzigern sagte, seine Partei — die FPÖ — sei "die PLO Österreichs". Nein, würde man ihn danach fragen, dann hat er sicherlich nur einen flapsigen Spruch machen wollen. Verstanden hat ihn sein Publikum aber dennoch, oder zumindest der ideologisch gefestigte Teil von ihm. Anton Holberg dürfte das nicht genügen. Wenn Linke dümmer sind als Rechte, dann ist das ein Problem — für die politische Linke.
Die Debatte um die Gefährlichkeit antisemitischer Chiffren tut daher Not. Es ist der SoZ-Redaktion positiv anzurechnen, dass sie in der letzten Ausgabe erklärte, die Analyse dieser Problematik sei "seit geraumer Zeit unterbelichtet" gewesen (auch wenn die Erkenntnis leider ziemlich spät eintritt — aber spät ist dennoch besser als nicht). Es ist unbedingt darin zuzustimmen, dass es darum gehen muss, um inhaltliche Klärung zu ringen — und nicht, Abrechnungen und Miniprozesse innerhalb der Linken zu führen. Die inhaltliche Klärung allerdings erscheint mir dringend.
Sie müsste damit beginnen, dass man aufhört, Antisemitismus einfach als "rassistisches Verständnis" zu bezeichnen, wie Anton Holberg dies tut. Damit wird die Besonderheit des Antisemitismus vollkommen geleugnet. Dieser weist zwar einen gemeinsamen Sockel mit dem Rassismus auf — nämlich die Vorgehensweise, Menschen nach angeborenen und vermeintlich biologischen Eigenschaften einzuordnen —, aber daneben auch eine völlig eigene Dynamik. Der spezifische Charakter des Antisemitismus ist, dass er (bei den Leuten, die ihn konsequent zu Ende denken) zu einer vermeintlichen Generalerklärung der gesellschaftlichen Probleme führt, nämlich der "verborgenen Macht der Juden". Während der Jahrhunderte des Mittelalters waren die Juden in der damals entstehenden Handels- und Zirkulationssphäre eingeschlossen, da ihnen die meisten Berufe der bäuerlichen Gesellschaft verboten waren. Die religiöse Anklage, einem "falschen" Glauben anzuhängen oder "Gottesmörder" zu sein, verfiel zwar allmählich mit der Säkularisierung der Gesellschaft. Aber die aus der Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft übernommene Anklage, über die Finanzen eine geheime Macht auszuüben, wurde vom modernen (nicht religiösen) Antisemitismus übernommen. Dieser klagt die Juden an, an der Einteilung der Gesellschaft in Klassen schuldig zu sein, sowohl den Kapitalismus (und seine Krisen) als auch den Kommunismus und die "revolutionäre Subversion" hervorzubringen.
Die Tatsache, dass ihm Verschwörungsfantasien über die geheime Macht einer qua Geburt definierten Gruppe von Menschen eingeschrieben sind, macht die besondere Natur des Antisemitismus aus. Das unterscheidet ihn vom sonstigen Rassismus, der zwar als ideologische Rechtfertigung einer sozialen Ungleich- (d.h. Schlechter-)Behandlung dient, aber nicht diese scheinbare Welterklärung enthält. Türkische oder afrikanische Immigranten in Deutschland sind zweifellos diskriminiert, aber man käme wohl nicht auf die Ideen, ihnen eine geheime Herrschaft (mittels Finanzen und Medien) nachzusagen. Aus dieser Anklage, geheime Machtpositionen innezuhaben, rührt aber auch eine gewisse Anfälligkeit von Teilen der Linken dafür, antisemitischen Positionen nachzugeben oder ihnen blind gegenüberzustehen. Denn mit Leuten, die solche Macht ausüben, will man nichts zu tun haben. Historisch waren etwa die französischen (vormarxistischen) Frühsozialisten Proudhon und Blanqui eindeutige Antisemiten. Dass solche Positionen affirmiert werden, ist heutzutage — nach dem NS-Völkermord — innerhalb der Linken höchst selten. Aber so etwas wie ein blinder Fleck ist in Teilen der Linken geblieben.
Die geschichtliche Tatsache des Holocaust führt dazu, dass antisemitische und Weltverschwörungs- Positionen heute auch im herrschenden Diskurs in Deutschland in der Regel nicht so offen vertreten werden können, wie dies vor 1933/45 möglich war. (Und wie dies Le Pen oder Haider heute noch, in nur leicht verhüllter Form, praktizieren. Le Pen etwa bezeichnete selbst die moderne Kunst im Jahr 1993 als eine "Verschwörung, die darauf abzielt, das Individuum vom Wahren, Guten und Schönen abzuschneiden und so einen manipulierbaren Roboter aus ihm zu machen". Wenn er dann noch hinzufügt, dass er Marc Chagall nicht schätzt, hat sein Publikum die Botschaft schon richtig verstanden.) Aber man darf nicht unterschätzen, wie der sog. sekundäre Antisemitismus in vielen Positionen mitschwingt, die dem Bedürfnis nach "nationaler Normalisierung" das Wort reden. Dieser sekundäre Antisemitismus resultiert daraus, dass man den (nach 1945 überlebenden) Juden vorwirft, die Erinnerung an die NS-Verbrechen wach- und damit die eigene Nation davon abzuhalten, alle ihr zustehenden Machtpositionen in der Welt einzunehmen. Die Botschaften, die Martin Walser oder Jürgen Möllemann aussenden, rühren an diesen gesellschaftlichen Resonanzboden. Der alte antisemitische Antrieb wird auf diesem Wege wachgehalten, auch ohne dass man seine klassischen Themen (Finanzmacht, geheime Lobby-Positionen...) anzusprechen braucht.
Das ist der Hintergrund, vor dem sich in Deutschland oder Österreich zwangsläufig die Debatte über die Situation im Nahen und Mittleren Osten abspielt. Das ist nicht den Akteuren in Israel oder Palästina anzulasten, sondern ein spezifisches Problem der deutschsprachigen Gesellschaften, dem die Linke in der BRD, Österreich oder auch der Schweiz (wo z.B. der Bankenskandal einen ähnlichen sekundären Antisemitismus auslöste) nicht ausweichen kann. Das darf nicht bedeuten, den israelisch-arabischen Konflikt nur noch durch diese Brille zu betrachten, wie manche "antideutschen" (Ex-)Linken dies tun, die dann postwendend Palästinensern Antisemitismus vorwerfen, wenn diese sich gegen eine objektive, materielle Unterdrückungssituation wehren. Vielmehr müssen beide Ebenen — die materielle Realität im Nahen Osten, und ihre ideologische Rezeption in Europa mit der entsprechenden "deutschen" Projektionsfläche — zunächst auseinander gehalten werden.
Dennoch sind beide miteinander verknüpft, denn eine wesentliche Ursache dafür, dass Israel in seiner heutigen staatlichen Form existiert, liegt in der Tatsache des NS-Völkermords begründet. Auch die "Wagenburg"-Mentalität, die ein Teil der israelischen Öffentlichkeit gegenüber arabischen Menschen einnimmt, erklärt sich aus dem historischen Trauma jahrhundertelanger, spezifischer Verfolgung. Die Linke in Deutschland muss darum sehr genau analysieren, wo die historischen Ursachen der heutigen Probleme im eigenen Land liegt, bevor sie zum Geschehen im Nahen Osten Stellung bezieht. Das darf natürlich nicht ausschliessen, dennoch Partei für objektiv unterdrückte Menschen zu beziehen, und eine konkrete Politik des israelischen Staats- und Militärapparats als solche präzise zu kritisieren. Wobei natürlich nicht das Recht der israelischen Gesellschaft auf Existenz überhaupt abgesprochen werden darf, wie das in der Vergangenheit bei manchen Antiimp-Positionen (Stichwort "zionistisches Gebilde") der Fall gewesen ist. Und auch die Politik reaktionärer arabischer Regime — die oftmals die Palästinenser für ihre Staatsinteressen zu instrumentalisieren suchten — darf nicht unkritisiert bleiben, wenn man Kritik am israelischen Vorgehen übt. Andernfalls droht man sich tatsächlich im objektiven Bündnis mit Möllemann wiederzufinden, der ja nicht nur Populist, sondern daneben auch ein wichtiger Lobbyist der deutschen Rüstungsindustrie ist.
Bernhard Schmid (Paris)


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