SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 3

Es bleibt alles anders

Rück- und Ausblicke auf die Bundestagswahl 2002

Die Wahlentscheidung war denkbar knapp und der Wahlabend ausgesprochen spannend. Unwillkürlich konnte man sich an den letzten Wahlausgang in den USA erinnert fühlen: Entsprechend den Größen- und Bedeutungsunterschieden zwischen den USA und der Bundesrepublik dauerte es bei uns zwar nicht Tage und Wochen, bis der Wahlsieger feststand. Der Großteil der Bundesbürger erfuhr jedoch, anders als in den Jahrzehnten zuvor, erst am Morgen nach der Wahl, wer ihr neuer Kanzler ist — der alte.

Wer darin ein Zeichen zunehmender Amerikanisierung der deutschen Politik sehen möchte, der kann auch auf den vorhergegangenen Wahlkampf verweisen. Niemals zuvor hatten wir es mit einem solch personalisierten Wahlkampf zu tun, in dem politische Programmatik lange Zeit eine zu vernachlässigende Rolle spielte. Die sozialdemokratische Partei war nicht nur faktisch abwesend, sie wurde sogar als explizites Hindernis eines vollkommen auf den rot-grünen Kanzler und SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder ausgerichteten Wahlkampfs angesehen. Was bei der SPD Schröder und seine Kanzlergattin waren, war auf der Seite der CDU/CSU ihr Kandidat Stoiber und dessen Frau. Auch Stoiber und seinem Wahlkampfteam gelang es dabei, die programmatischen Richtungskämpfe, die die CDU seit dem Abgang von Helmut Kohl prägen, zu deckeln.
Die kleinen, als Mehrheitsbeschaffer der großen dienenden Parteien haben diesen Trend der entpolitisierenden Personalisierung aktiv mitgetragen. Das Ausmaß, in dem die Bündnisgrünen ihren Wahlkampf erfolgreich auf jenen Joschka Fischer zentrierten (www.joschka.de & "Zweitstimme ist Joschka-Stimme"), der sein politisches Amt erklärtermaßen nicht als Politiker der Grünen, sondern als Minister der Deutschen ausübt, ist ein Phänomen. Auch die Partei des neoliberalen Kapitals, die FDP, hat mit ihrer Personalisierung auf den selbst erklärten Kanzlerkandidaten Westerwelle ("Guidomobil") und einer weitestgehend Politik als Spaß definierenden Wahlkampfstrategie ("Projekt 18") diesen Trend mehr als nur bedient. Keine Ausnahme bildet schließlich auch die PDS, die neben der personalisierenden Allzweckwaffe Gysi ein blasses Führungsquartett als politisches Programm zu verkaufen suchte und ansonsten jede kantig-oppositionelle Programmatik vermissen ließ.

Personalisierung durch Medienpolitik

Ihren sinnfälligen Ausdruck fand diese Personalisierung in den beiden großen Fernsehduellen der beiden Spitzenpolitiker — einem Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, das von großen Teilen der Bevölkerung auch mit nachhaltigem Interesse und intensiven Diskussionen wahrgenommen wurde.
Gerade diese Fernsehduelle können jedoch als politische Lehrstücke nicht nur für die um sich greifende "Amerikanisierung der Politik" gelten, sondern ebenfalls für deren Grenzen. Sie dienten nicht dazu, den beiden Kandidaten und ihren Parteien neue Wähler zuzuführen, sondern dazu, ihre teils mehr, teils weniger in Passivität verharrende Klientel zu mobilisieren. Und sie offenbarten, dass die Personalisierung vor allem ein medienpolitisches Phänomen ist, ein Mittel der Medien, die vielfältigen Produkte ihrer eigenen Industrie zu verkaufen. Da gab es Features und Sondersendungen vor den großen Duellen und in ihrem unmittelbaren Anschluss. Und es gab tagelang auch die Features, Sondersendungen und Talk-Shows nach den Duellen. Mit seriösem politischen Journalismus hatte das wenig zu tun. Je nach Sender oder Printmedium und je nachdem, wie viele Stunden oder Tage nach dem entsprechenden Duell — wer denn nun der Publikumssieger der Duelle war, hing offensichtlich davon ab, welche politische Strömung dieser Sender oder jene Zeitung bevorzugte.
In manchen dieser umfangreichen TV-Sondersendungen konnte man auch daran erinnert werden, in welch starkem Ausmaße bereits die Wahlkämpfe der letzten fünfzig Jahre durch Entpolitisierung und Personalisierung geprägt waren Nicht die Personalisierung war also das Novum, sondern ihre mediale Aufbereitung, Verstärkung und Instrumentalisierung.
Die Grenzen der Personalisierung wurden auch dadurch deutlich, dass gerade die Fernsehduelle gezeigt haben, dass es trotz aller Personalisierung auch bei dieser Wahl durchaus um etwas ging.
Die Vehemenz, mit der Schröder sowohl seine Irakpolitik, als auch die Frage der sozialen Sicherheit bei den bevorstehenden "Reform"maßnahmen gegen Stoiber ausspielte, offenbarte die realen Unterschiede. Und in der Tat: Sozialdemokratie und Bündnisgrüne, Kanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer, können ihre Mitte-Links-Regierung bestätigt sehen. Nach 1998 ist dies das zweite Wählermandat für eine sozialpolitische Wende vom Liberalkonservatismus zum linken Sozialliberalismus. Aktuell noch wichtiger: Es ist ein deutliches Mehrheitsvotum gegen eine deutsche Beteiligung am bevorstehenden Irak-Krieg. Wählerwille und reale Politik gehen aber auch in Deutschland zumeist getrennte Wege.

Irakkrieg und soziale Frage

Was den deutschen Sonderweg in der Haltung zum Irakkrieg angeht, so ist er zwar ein spektakulärer Bruch mit der Tradition bedingungsloser deutsch-amerikanischer Freundschaft. Wie lange dieser Bruch allerdings anhält, darüber zweifeln nicht nur Linke.
Kanzler Schröder und die rot-grüne Regierung haben im Wahlkampf jede Beteiligung an einem solchen Krieg auch im Falle eines UNO-Mandats kategorisch abgelehnt. Damit ist es ihnen gelungen, den bis dahin schleppend verlaufenen Wahlkampf zu polarisieren und ihre eigene, bis dahin passive Klientel zwar nicht vollständig, aber letztlich ausreichend zu mobilisieren. Eine große Mehrheit der Deutschen lehnt einen Irak-Krieg ab. Da jedoch die Skepsis, ob Schröder und die SPD eine konsequente Antikriegsposition wirklich durchhalten wollen und bündnispolitisch können, ebenso berechtigt wie weit verbreitet ist, schlug sich diese Mobilisierung vor allem zugunsten der Bündnisgrünen nieder, denen man im allgemeinen edlere Motive in der Kriegsfrage einräumt.
Die alte und neue Regierung hat auch nach den Wahlen ihre grundsätzliche Position zum Irak-Krieg bekräftigt. Eine gute Ausgangslage, an der eine deutsche Antikriegsbewegung anknüpfen könnte und müsste. Der politische Druck auf Rot-Grün, Zeichen einer Umkehr zu setzen, ist nach den Wahlen allerdings deutlich gestiegen — und erneut spielen hier die großen Medien eine zentrale Rolle.
Mehr noch als in der Kriegsfrage, sind in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, dem zweiten großen Wahlkampfthema, falsche Hoffnungen unangebracht. Sozialdemokratie und Bündnisgrüne stehen seit der Entmachtung Oskar Lafontaines im Frühjahr 1999 für einen zwar der Form nach sanften, aber in der Sache noch forcierten Neoliberalismus, der auf Haushaltskonsolidierung, Sparzwang und strikter Zurückweisung jeglicher Form keynesianistischer Nachfragepolitik beruht. Das einzig linke an dieser Politik ist die Einbindung der Gewerkschaftsbewegung zum Zwecke der konsensorientierten sozialen Abfederung einer im Kern knallhart neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Die tiefe Enttäuschung und Ernüchterung über diese seit 1999 konsequent verfolgte Politik hat vor allem die proletarischen Hochburgen der SPD zu Apathie und Wahlabstinenz geführt. Überdurchschnittliche Verluste hat die SPD bei Arbeitern, Arbeitslosen und einfachen Angestellten, vor allem jedoch im gewerkschaftlich organisierten Milieu zu verzeichnen. Mit einer sozialpolitisch deutlich "linkeren" Propaganda haben Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und die CDU/CSU die Themen der ökonomischen Krise und der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit erfolgreich thematisiert und vor allem bei der SPD gewonnen. Es ist die soziale Frage, die die Mehrheit der Menschen bis in ihren tiefsten Alltag hinein bewegt. Dass es jedoch für einen Regierungswechsel nicht reichte, hat nicht nur etwas mit der Konjunktur der Kriegsfrage zu tun, sondern auch mit der durchaus vorhandenen Skepsis, ob denn die Rezepte der Konservativen eine wirkliche Alternative sind. Und damit, dass breite Bevölkerungsteile wissen, dass die makroökonomische Entwicklung nur sehr bedingt politisch zu gestalten ist.
Lange Zeit erfolgreich nutzte die FDP die Tatsache aus, dass sich die beiden "Volksparteien" in den letzten Jahren immer ähnlicher wurden. Sie überspielte ihre beschränkte und unpopuläre politische Programmatik (weitere, radikale Steuersenkungen und nachhaltiges Aufbrechen der korporatistischen und sozialstaatlichen Strukturen in der Bildungspolitik) mit einem vollkommen entpolitisierten liberalen "Spaß"-Wahlkampf, der auf deutliche und selbstbewusste Weise die Äquidistanz zu den beiden großen, vermeintlich in korporatistischer Starre verharrenden Volksparteien, suchte. Und sie hatte damit großen Erfolg — im Sommer lag sie bei immerhin 13%. Dies ging jedoch nur so lange gut, so lange keine tiefgreifenden Unterschiede zwischen Schröder und Stoiber, zwischen SPD/Grüne und CDU/CSU sichtbar wurden. Und solange man den Eindruck haben konnte, dass hinter solcher Strategie nicht das alte Schreckgespenst des Rechtspopulismus lauerte.
Die Politisierung der Schlussphase des Wahlkampfs und die latent antisemitischen Eskapaden des (eigentlich für eine Koalition mit der SPD wirkenden) Jürgen Möllemann besiegelten deswegen das Schicksal der FDP und trieben die Hälfte ihrer potenziellen Wähler zurück in die Arme entweder der SPD oder der CDU. Der, gemessen an ihren eigenen Erwartungen und den Umfrageergebnissen des Sommers tiefe Fall der FDP offenbart ebenso wie die zu Tage getretene Anti-Stoiber-Stimmung und das ausgesprochen schwache Ergebnis rechtsextremer Parteien, dass Rechtspopulismus in Deutschland gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung steht. Ernster ist die durch die FDP-Hausse des Sommers zu Tage getretene Bereitschaft, neoliberalen Hardcore zu wählen, wenn er nur ordentlich spaßig verpackt wird.
So sehr auch das Wahlergebnis als Plädoyer für Mitte-Links angesehen werden kann, dieses Mandat ist vergleichsweise schwach und ausgesprochen diffus, da die neoliberale Hegemonie im öffentlich-politischen Denken gefestigter ist als 1998/99. Mit ihrem im Wahlkampf lautstark lancierten Konzept einer Reform des Arbeitsmarkts bewegt sich Rot-Grün vollkommen auf neoliberalem Boden. Nicht die kapitalistische Ökonomie und ihre Täter werden für die Krise verantwortlich gemacht, sondern die Opfer, die "faulen Arbeitslosen" und "Sozialschmarotzer", die durch Zwangsmittel zur umfassenden Mobilität und Bedürfnislosigkeit erzogen werden sollen! Und anders als in Österreich oder Tschechien waren Diskussionen, ob man die ostdeutsche Flutkatastrophe mittels Kreditaufnahme und Sondersteuern (oder gar Kürzungen im Kriegsetat) bekämpfen sollte, ein weithin akzeptiertes Tabu.

Niederlage der Linken

Wie weit hier die unmittelbar nach der Wahl und im Angesicht der durch die sich verstärkende ökonomische Krise zu erwartenden neuen Steuerhaushaltslöcher aufgekommenen Forderungen nach Steuererhöhungen eine Wende markieren können, ist ungewiss und eher zweifelhaft. Die nächsten Vorhaben der neuen Regierung sprechen eine deutliche Sprache: Der Arbeitsmarkt soll grundlegend dereguliert, die Gesundheitspolitik weitgehend privatisiert und die Bildungspolitik zentralisiert und ökonomischen Imperativen unterworfen werden. Generell ist mit einem stärkeren Druck zur Entstaatlichung des öffentlichen Sektors zu rechnen. Eine nennenswerte Opposition, die diese neoliberale Logik grundsätzlich in Frage stellt, existiert nicht. Die deutsche Linke links von Rot-Grün ist mehrfach gespalten und programmatisch ideenlos.
Das weithin sichtbare Zeichen dieser politischen Niederlage ist das in dieser Form viele überraschende Scheitern der PDS, die im Westen stagnierte und im Osten Deutschlands so dramatisch eingebrochen ist, dass sie — außer mit zwei Direktmandaten — nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die Hälfte ihrer Stimmenverluste landete bei der SPD, die andere bei den Nichtwählern. (Speziell zum PDS-Wahlergebniss siehe auch die Analyse von Manfred Behrend, das Gespräch mit Winfried Wolf und den Kommentar von Angela Klein in dieser Ausgabe.)
So zeitigt die Bundestagswahl 2002 einen durchaus widersprüchlichen Befund. Obwohl die Mehrheit für Rot-Grün das nach 1998 zweite Wahlmandat für eine sozialpolitische Wende nach links ist, ist die politische und diskursive Macht neoliberaler Krisenlösungsstrategien ohne grundsätzliche Herausforderung geblieben.
Mitte Links und die Konservativen sind gestärkt worden, aber jeweils in ihrer rechtesten Variante. Gerhard Schröder und seine Hintermänner können die SPD weitere vier Jahre zu einem der US-amerikanischen Demokratischen Partei nachempfundenen Parteitypus umgestalten. Mit Andrea Nahles und Detlev von Larcher sind nun auch die allerletzten "linken" Sozialdemokraten aus dem Parlament geflogen. Und in der nun wieder nachhaltig stabilisierten CDU/CSU ist der reaktionäre CSU-Flügel gestärkt worden.
Auch die Grünen haben ihre linken Relikte endgültig und nachhaltig verdrängt. Der "linke" Grüne Christian Ströbele ist da nur die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die von ihrem Image als linksliberale Lifestylegeneration profitierenden Grünen werden auf den Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik stärker noch als bisher als neoliberale Avantgarde vor allem gegen den mit der SPD verbundenen Gewerkschaftsflügel fungieren. Eine parlamentarische Linke ist damit fortan faktisch inexistent.
Ob vor diesem Hintergrund die Gewerkschaften stärker als bisher zum Kristallisationskern linker Opposition werden können, bleibt wegen ihrer weitgehenden Einbindung in den sozialdemokratischen Korporatismus fraglich. Auf der anderen Seite bietet gerade eine Situation, in der linke Ventile innerhalb des parlamentarischen Systems geschlossen werden, Möglichkeiten einer erneuerten außerparlamentarischen Linksopposition.

Christoph Jünke



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