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Der russische Linksoppositionelle Boris Kagarlitzki veröffentlichte 1999 auf englisch einen so ehrgeizigen wie von der deutschen Linken
einmal mehr nicht wahrgenommenen Versuch der Erneuerung sozialistischer Theorie und Praxis in Zeiten der Globalisierung. Der erste seiner drei ausgesprochen erfrischenden
Bände trägt den Titel New Realism, New Barbarism und ist ein Wortspiel auf den damals noch medial gefeierten neuen Realismus des sozialdemokratischen
"Dritten Weges" und seinen Zusammenhang zur zunehmenden Verrohung des herrschenden Neoliberalismus.
Für Kagarlitzki waren der Völkermord in Rwanda, die Kriege in Ex-Jugoslawien und Tschetschenien
Zeichen einer neuen Barbarei, die auf Massenarmut, Wirtschafts- und Finanzkrisen, auf Mafia-Ökonomie, Rassismus und Neofaschismus, auf Katastrophen und
Enttäuschungen aufbaut. Die Zivilisation gebäre Barbaren, schreibt er, die wiederum die Zivilisation zerstören, weil die Linke aufgrund ihres Zustands nicht in
der Lage sei, Alternativen zu beiden anzubieten. "The dark ages begin" ("Die dunklen Jahre beginnen"), schrieb er voll pathetischem Schrecken, und mahnte
uns, dass solche Zeiten Radikalismus verlangen und nicht Mäßigung, dass erneut die Alternative stehe: Sozialismus oder Barbarei.
Der damals für uns Metropolenlinke vielleicht noch abstrakte Schrecken hat mit dem 11.September 2001
seine Abstraktheit und sein Pathos abgestreift. Und das neue Buch des Pariser Politikwissenschaftler Gilbert Achcar kann als gelungene Aktualisierung der Thesen Kagarlitzkis
gelesen werden. Für Achcar ist das, was sich in den einstürzenden Zwillingstürmen und dem anschließenden Krieg gegen den Terror symbolisiert, ein
Kampf nicht zwischen Kulturen, nicht zwischen Zivilisation und Barbarei, sondern ein Kampf zweier Barbareien, den zu überwinden er die internationale sozialistische Linke
aufruft.
Mit kühlem Kopf analysiert Achcar die geo- und machtpolitischen Neuordnungsstrategien des US-
Imperialismus der letzten Jahrzehnte und interpretiert die Anschläge als barbarische Reaktionsform einer spezifischen politischen Strömung, des islamistischen
Fundamentalismus, gegen den weltweiten Hegemon. Dass auch die US-amerikanische Neuordnungspolitik zutiefst barbarisch ist, macht er an zwei Aspekten deutlich, an der
Reaktion auf die Anschläge und an der Tatsache, dass der barbarische islamistische Fundamentalismus ein ureigenstes Produkt der "Herren der Welt" ist.
Zum ersten: Die Tatsache, dass und wie die Anschläge vom 11.9. dazu benutzt wurden, ein Klima geistiger
Einschüchterung zu erzeugen, sie zum Superverbrechen, zum Bösen schlechthin hoch zu stilisieren und jeden Versuch einer Erklärung oder Ursachenforschung
umgehend als vermeintliche Rechtfertigung zu präventiv kriminalisieren, ist für Achcar ein herrschaftliches Mittel der Verhinderung kritischer Reflexion und
demokratischer Diskussion. Die Rede vom Bösen schlechthin ist ihm selbst Teil eines christlichen Fundamentalismus, der mit zweierlei Maß misst und Elend und Terror
jenseits der industrialisierten Metropolen verdrängt.
Herausragend und singulär ist der Terrorakt vom 11.9. nicht in seinen quantitativen Dimensionen, sondern,
so Achcar, in der Wahl seiner Ziele. Dass mit dem World Trade Center das Symbol des globalisierten Lifestyle getroffen wurde, erkläre "die
außergewöhnliche Intensität der durch die Zerstörung der Zwillingstürme von Manhattan weltweit hervorgerufenen Emotionen". "Man
ist weit mehr über die Unglücksfälle bewegt, die Gleichartige treffen, als über jene von Menschen in anderen Lebensverhältnissen; es geht einem das
Los der New Yorker weit mehr nahe als das der Iraker, der Rwander oder der Afghanen", führt er aus und nennt dies eine "narzisstische Anteilnahme".
Dass die Bilder der Zerstörung immer und immer wieder medial verbreitet werden die zweite
wirkliche Singularität des Ereignisses , hat deswegen auch ein politisches Kalkül, eine Kriegslogik, die Achcar an einem Zitat des Kriegstreibers Tony Blair
verdeutlicht: "In jeder Beziehung sind die Gerechtigkeit und das Recht auf unserer Seite und wir haben eine Strategie umzusetzen. Es ist wichtig, dass wir nie vergessen,
warum wir dies tun. Es ist wichtig, dass wir nie vergessen, was wir gefühlt haben, als wir die Flugzeuge in die Zwillingstürme rasen sahen."
Zum zweiten: Kenntnis- und aufschlussreich zeigt Achcar, wie nicht nur Terror-Chef Bin Laden, sondern der
gesamte islamistische Fundamentalismus als zeitgenössische politische Bewegung ursächlich verwoben sind mit der US-Politik seit Mitte des 20.Jahrhunderts. Dass Bin
Laden der Zauberlehrling des CIA und ein Abfallprodukt des Kalten Krieges gegen die UdSSR in Afghanistan ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dass Saudi-Arabien als
historisches Gebilde, als spezifische Staatsform und Brutstätte des islamistischen Fundamentalismus ohne die direkte und jahrzehntelange Unterstützung der USA nicht
überleben hätte können, lässt sich bei Achcar detailliert nachlesen.
All die verschiedenen Fundamentalismen waren Mittel der USA im weltweiten Kampf gegen die nach dem zweiten
Weltkrieg mächtige Linke und den arabischen Nationalismus. Und nachdem diese Kampfaufgabe erfolgreich beendet war, füllte der politische Islam das politisch-
ideologische Vakuum der aufbegehrenden Massen.
Schlüssig zeigt Achcar auch auf, dass der islamistische Fundamentalismus, klassenanalytisch gesehen, eine
Bewegung des Kleinbürgertums, die reaktionäre Protesform radikalisierter Mittelklassen und pauperisierter Plebejer gegen die sozialen und politischen Folgen der
Globalisierung ist. Wir haben es deswegen durchaus nicht mit einem Aufstand der Armen zu tun. Trotzdem lässt sich der islamistische Fundamentalismus ohne die
ökonomische Krisensituation des Weltkapitalismus und die durch sie ausgelösten sozialen Anomien nicht verstehen.
Es ist dieser Hintergrund struktureller Weltwirtschaftskrise und geopolitischer Neuordnungspolitik, der die
schlummernde Barbarei auf beiden Seiten weckt. Auf der einen Seite der menschenverachtende und unpolitische Terror der "Heiligen Krieger", der mit
unversöhnlichem Hass den Welthegemon und seine lokalen Statthalter angreift.
Auf der anderen Seite jener Hegemon und seine Verbündeten, die die ungleiche, asymetrische Dominanz
ihrer Weltherrschaft mittels "Krieg gegen den Terror" zementieren und noch weiter ausbauen wollen. Auf der einen Seite der vermeintlich "Heilige Krieg"
und auf der anderen Seite jene, die den "gerechten Präventivkrieg" den Bruch mit dem bestehenden Völkerrecht propagieren und ihr
außenpolitisches Faustrecht nach innen mit Entdemokratisierung und Militarisierung fortsetzen. "Die Bewunderer der Kamikaze vom 11.September haben beim Anblick
der zusammenbrechenden Zwillingstürme gejubelt und forderten eine Zugabe. Die Bewunderer der amerikanischen Streitkräfte haben sich am Schauspiel der
Zerstörung Afghanistans ergötzt und fordern ebenfalls eine Zugabe."
Achcar konstatiert "eine unruhige Zukunft", ein "anomisches Abgleiten" in die Barbarei
und plädiert für "eine fortschrittliche und glaubwürdige Alternative zum neoliberalen Kapitalismus, die in der Lage ist, den reaktionären
Rückzügen den Boden zu entziehen und die gesellschaftliche Unzufriedenheit in die Richtung des Kampfes um Demokratie und Gerechtigkeit zu lenken". Damit
wären wir dann wieder bei Boris Kagarlitzki und enden mit einem genossenschaftlichen Gruß nach Moskau.
Christoph Jünke