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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 16

Der EU-Konvent und die Zukunft Europas

Eine Verfassung für Europa?

Der Ratsgipfel der EU in Laeken/Brüssel hat im vergangenen Dezember einen Konvent zur Neuordnung Europas gebildet, mit dem Titel "Die Zukunft Europas". Der Konvent ist die Zusammenkunft von 105 Vertretern der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der Regierungen der Mitgliedstaaten und Beitrittsländer sowie der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten und Beitrittsländer.

Der Rat hat den Konvent beauftragt, 50 Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und unmittelbar vor der Osterweiterung "eine Anpassung und Neugestaltung des institutionellen und politischen Rahmens Europas vorzuschlagen". Diese sehr weite Aufgabenstellung beinhaltet einige konkrete Fragen, z.B.:
Wie sollen die Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten aufgeteilt werden?
Wie können die jeweiligen Aufgaben der europäischen Institutionen besser festgelegt werden?
Wie können Kohärenz und Effizienz des außenpolitischen Handelns der Union sichergestellt werden?
Wie kann die Legitimität der Union gestärkt werden?

Der Konvent soll seine Aufgaben bis Juni nächsten Jahres erledigt haben. Ein Jahr später soll eine Regierungskonferenz darüber befinden. Werden wir etwas dabei mitzureden haben? Es ist das erste Mal, dass vor einer breiten Öffentlichkeit über den politischen Rahmen Europas gesprochen wird, wo es bisher immer hauptsächlich um wirtschaftspolitische Fragen ging. Aber die Debatte läuft an den Bevölkerungen vorbei. Warum das so ist, darüber sprach für die SoZ Angela Klein mit THOMAS FIEDLER.

Sitzt ihr im Konvent mit am Tisch?

Nein. Wir unterhalten enge Beziehungen zu Mitgliedern des Konvents. Aber wir unterscheiden uns von herkömmlichen NGOs, weil wir nicht so bürokratisiert sind, wir unterhalten auch kein Lobbybüro in Brüssel; wir agieren in den Mitgliedstaaten und über das Netzwerk europaweit. Wir tauchen aber zu einzelnen Veranstaltungen in Brüssel auf, um auch diese Ebene gezielt anzusprechen.

Es gibt aber auch eingetragene Lobbyorganisationen in Brüssel, welchen Status haben die?

Den im Konvent versammelten Parteien und Institutionen geht es um den Dialog mit dem, was sie die organisierte Zivilgesellschaft nennen. Gehört wird dort vor allem, wer bereits einen europäischen Organisationsgrad erreicht hat. Das heißt: Eine Organisation muss in fast allen Mitgliedstaaten Vertretungen haben, darüber hinaus ein Lobbybüro in Brüssel.
Das ist schon mal unser erster Kritikpunkt, weil die nationalen Netzwerk dadurch von vornherein im Nachteil sind. Das Ergebnis eines solchen Zusammenschlusses ist in der Regel eine Funktionärsposition in Brüssel und ein Verbindungsbüro. Das ermöglicht einen ganz anderen Zugang zur Europäischen Kommission, weil durch die tägliche Präsenz andere Kontakte entstehen können, als wenn man von einer Hauptstadt aus die Kommission anruft.
Das ist eine Anforderung an zivilgesellschaftliche Organisationen, die für diese nicht kennzeichnend ist, weil es ja häufig gerade zu ihrem Selbstverständnis gehört, sich eben nicht repräsentieren zu lassen, sondern basisorientiert zu arbeiten und keinen Wasserkopf zu entwickeln. Hier stellen die EU-Verantwortlichen Anforderungen an Bürgerinitiativen, Netzwerke u.a., die sich an der Wirtschaftslobby messen müssen und die von ihnen gar nicht angestrebt werden. Sie führen dazu, dass sich viele NGO- Funktionäre in Brüssel mittlerweile von Lobbyisten von Daimler-Chrysler nicht mehr unterscheiden.

Nehmen wir als Beispiel mal den Europäischen Gewerkschaftsbund, der ein Lobbybüro in Brüssel unterhält. Welchen Zugang zum Konvent und welche Einflussmöglichkeiten hat er denn?
Es gibt für diese Organisationen einen formalisierten Zugang. Der EGB, der als NGO in Brüssel offiziell anerkannt ist, hat die Möglichkeit, schriftliche Stellungnahmen abzugeben, die vom Konvent auf seiner Homepage veröffentlicht werden. Dafür muss man aber den Nachweis liefern, dass man eine anerkannte NGO ist.
Der EGB sitzt aber auch — neben den Arbeitgebern und den Verbraucherverbänden — im Wirtschafts- und Sozialausschuss der Kommission. Aus der Gremienzusammenarbeit resultieren zahlreiche informelle Netzwerke. Auf diese Weise kommt der EGB sehr viel schneller an Informationen ran, als sie im Internet veröffentlicht werden, oder als die Vorschläge überhaupt beschlossen werden, weil er die Leute kennt, die diese Vorschläge geschrieben haben.

Wie arbeitet der Konvent? Tagt er öffentlich im Beisein der NGOs, tagt er hinter verschlossenen Türen, sind die NGOs nur zu bestimmten Beratungen zugelassen?

Er tagt öffentlich, das lässt sich sehr gut verkaufen, das haben die Erfahrungen mit der Grundrechtecharta gezeigt. Da wird eine Transparenz und Offenheit vorgeführt, die sich von den Sitzungen des Europäischen Rats grundlegend unterscheidet. Der Konvent hat ja bewusst eine andere Arbeitsmethode gewählt, weil die des Rats als gescheitert betrachtet wurde.
Prinzipiell ist dies ein Fortschritt. Man muss nur sehr aufpassen, dass man nicht eine Realität herbeiredet, die so nicht gegeben ist.
Öffentlich tagen hieß beim ersten Konvent, der die Grundrechtecharta erarbeitet hat: Jeder und jede konnte in Brüssel im Gebäude des Europaparlaments an der Rezeption den Pass abgeben und sagen, er oder sie möchte an der Sitzung des Konvents teilnehmen. Dazu muss man wissen, wann die Sitzungen stattfinden — die Termine werden im Internet veröffentlicht oder man kann sie über die Parteien erfahren. Man durfte sich dann in die hinteren Reihen des Saales drängen, den Kopfhörer nehmen und die Sitzungen verfolgen. Die Lobbyorganisationen saßen zahlreich auf den Hinterbänken, die Kapazität des Raums reichte aus.
Beim zweiten Konvent um die Zukunft Europas tragen sich viel mehr Organisationen und BürgerInnen als BesucherInnen ein. Und die Zahl der Konventsmitglieder hat sich verdoppelt. Jetzt reichen die Räume nicht mehr aus; die Konventsdebatte wird per Video in andere Räume übertragen.
Es gibt einen weiteren Qualitätssprung: Der Konvent tagt nicht nur öffentlich, er überträgt seine Sitzungen auch über das Internet. Weltweit hat man jetzt Zugang zu den Sitzungen. Sie verfolgen zu können, setzt natürlich eine entsprechende technische Ausstattung voraus. Die Medien hingegen nehmen den Konvent kaum wahr, weder die öffentlich- rechtlichen noch die privaten.

Liegt das an den Medien oder am Konvent?

Wahrscheinlich an beiden. Ich weiß nicht, ob sich der Konvent mit den einschlägigen Fernsehanstalten ins Benehmen gesetzt hat. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass das Konventspräsidium eine entsprechende Anfrage abgelehnt hätte. Bisher gibt es allerdings noch wenig zu berichten. In der ersten Arbeitsphase ging es vor allem darum, Stellungnahmen zu sammeln.
Die Offenheit des Konvents ist trotzdem immer noch begrenzt. Wenn er dazu einlädt, mal "in Brüssel vorbeizukommen", heißt das ja nicht, dass er damit die Öffentlichkeit erreicht. Öffentlichkeit ist erst dann hergestellt, wenn ein wahrnehmbarer Teil der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten die Diskussionen des Konvents mit Interesse verfolgt. Dem ist nicht so. Da hilft auch das Prinzip der offenen Türen nichts. Die Arbeit des Konvents wird nur von der Lobby wahrgenommen. Der Kreis derer, die sich mit Europathemen beschäftigen, hat in den letzten Jahren zwar zugenommen; aber es bleibt ein vertrauter Kreis.
Hinzu kommt: In seiner ersten Arbeitsphase hat der Konvent Vorschläge gesammelt werden, es geht noch nicht um die konkrete Formulierung von Texten. Das hat er aber in Arbeitsgruppen getan. Das haben wir sehr kritisiert, denn mit der Einrichtung von Arbeitsgruppen ist das Prinzip von Öffentlichkeit durchbrochen. Die Palette der Themen, die der Konvent zu behandeln hat, ist natürlich sehr breit und kann nicht in einem Plenum mit 105 Personen behandelt werden. Deshalb wurden Arbeitsgruppen eingerichtet. Diese tagten aber unter Ausschuss der Öffentlichkeit.

Hängt die mangelnde Öffentlichkeit nicht vielleicht auch damit zusammen, dass die Leute den Eindruck haben: In Brüssel spielt sich etwas ab, was sie sowieso nicht beeinflussen können?

Das ist einer unserer zentralen Kritikpunkte. Aus der Perspektive von Leuten, die die Vorstellung haben, Menschen müssten über ihre Anliegen selbst befinden können, ist das ein völlig unbefriedigender Zustand. Da richtet sich die Kritik aber nicht nur an die etablierte Politik, weil sie es versäumt, politische Willensbildungsprozesse in Gang zu setzen. Diese in Gang zu setzen, ist ein schwieriges Unterfangen, zumal auf europäischer Ebene, weil schon auf der nationalen Ebene eine politische Beteiligungskultur fehlt. Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie Beteiligungsprozesse überhaupt funktionieren können.
Noch einmal konkret: Wenn ich z.B. als EGB einen konkreten Antrag habe, den ich in die Verfassung aufgenommen wissen möchte: Kann ich den vorlegen, wird der berücksichtigt, oder wird er freundlich gelesen und verschwindet in der Schublade, oder wird er gar nicht erst gelesen?
Das Verfahren für das Einbringen von Vorschlägen bestimmt das Präsidium. Das heißt nicht, dass sich der EGB einfach an das Präsidium wenden kann. Ein Vorschlag ist nur dann erfolgreich, wenn er im Konvent mehrheitsfähig ist. Der EGB muss also seine "Truppen" mobilisieren, die Konventsmitglieder ansprechen, die ihm gewogen sind, mit denen verhandeln, die gegen seinen Vorschlag sind, Kompromissformeln sondieren und anschließend das Präsidium informieren. Auf diesem Weg kann er als akkreditierte NGO eigene Vorschläge für den Text unterbreiten.
Es gibt aber noch ein anderes Problem. Beim ersten Konvent war klar, am Ende steht ein Entwurf für eine Grundrechtecharta. Die Struktur des Textes war irgendwann bekannt, und dann konnte man zu einzelnen Artikeln Änderungsvorschläge machen. Bei diesem Konvent ist das Ziel aber noch nicht klar. Viele Konventsmitglieder wollen am Ende einen Text haben. Sie hoffen, durch Geschlossenheit im Auftreten und in der Struktur des Textes zu verhindern, dass der Europäische Rat ihren Vorschlag wieder aufdröselt und in seine Einzelteile zerlegt. Vor drei Jahren hat der Konvent mit der Grundrechtecharta einen Vorschlag gemacht, den der Rat dann en bloc übernommen hat. Die "Konventsmethode" war sehr erfolgreich, der Rat konnte kaum dazwischenfunken.
Daraus haben die Regierungschefs aber natürlich gelernt. Sie haben dem jetzigen Konvent einen umfangreichen Aufgabenkatalog vorgegeben, an dem er sich abarbeiten muss, aber sie haben kein Ziel für ihn formuliert, schon gar nicht das Ziel, eine europäische Verfassung zu schreiben.

Was ist dann seine Aufgabe?

1. Die Vereinfachung der Verträge — aus der Vielzahl der Artikel in den europäischen Verträgen, aus dem bestehenden Regelwerk der Gemeinschaft (acquis communautaire) soll er einen lesbaren Text machen; 2. die Neuordnung der Institutionen — diese Diskussion hat öffentlich noch nicht begonnen — dazu bedarf es eines konkreten Modells, an dem man sich abarbeiten kann, das soll im Herbst vorgelegt werden; 3. die Einbeziehung nationaler Parlamente in das europäische Entscheidungsverfahren; 4. die Subsidiarität — das ist die Abwägung zwischen nationalen und europäischen Kompetenzen.
Das ist noch lange kein Auftrag, eine europäische Verfassung zu schreiben. Wenn diese Aufträge alle erfüllt werden, kann sich im Ergebnis daraus natürlich eine europäische Verfassung ergeben, weil eine Neuordnung des europäischen politischen Entscheidungsprozesses und der europäischen politischen Institutionen dabei herauskommt. Aber so ein Vorgehen operiert mit einem Trick. Diejenigen, die eine solche Verfassung befürworten, kommen denen, die sie auf gar keinen Fall haben wollen, aber vielleicht, wegen der notwendigen Reformen, bereit wären, einem kleinen Stück davon zuzustimmen, entgegen.

Worin bestünde denn der Unterschied, ob man das Ergebnis Verfassung nennt oder nicht?

Unter einer Verfassung verstehen wir in unserer Tradition eine in Schriftform geronnene Ordnung von Mächten und Kompetenzen im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Eine so verstandene europäische Verfassung wäre ein neugefasster, vereinfachter Unionsvertrag mitnichten. Da müsste hinzukommen: ein gemeinsamer Ordnungsrahmen für die Institutionen in einer verschrifteten Form und integriert in den Vertrag; die Übernahme der Grundrechtecharta (die ja einen Wertekanon darstellt) in den Vertrag, um sie rechtswirksam werden zu lassen; und ein Anhang von gemeinsamen Regeln für das tägliche Geschäft.
Das ist bekanntlich so kontrovers, dass es schon Ideen gibt, wie man vermeiden kann, beides, den Wertekanon und das neugeordnete Regelwerk, in einen gemeinsamen Rahmen — in ein Buch — zu bringen, nämlich den Vorschlag, zwei Bücher zu machen. Der Wertekanon, der sog. "weiche Teil", soll in ein Buch gepackt werden, die "harten Regelungen" mit dem Rattenschwanz des acquis communautaire in ein anderes. Das ist aber noch umstritten.
In der öffentlichen Debatte stelle ich immer wieder fest: Den meisten fehlt die Vorstellungskraft, wie eine europäische Verfassung denn aussehen könnte. Es ist schon schwer genug, Politik auf nationaler Ebene verständlich zu machen.

Gesetzt, wir hätten ein Buch, mit der Grundrechtecharta als Präambel für das neugeordnete Vertragswerk. Dann hätten wir immer noch das Problem, dass dieses Buch im Gegensatz zu einer nationalen Verfassung nicht die Möglichkeiten und Wege beschreiben würde, wie Bürger in Europa die europäischen Institutionen beeinflussen können. Da ist doch eine Diskrepanz: Die Mehrheit der Entscheidungen unserer Parlamente wird in Brüssel vorbereitet, diese Entscheidungsebene kann von den Bürgern aber nicht beeinflusst werden, höchstens über den Umweg über das nationale Parlament und ein Europäisches Parlament, das aber mit den klassischen Befugnissen eines Parlaments gar nicht ausgestattet ist. Das erinnert doch sehr an eine Art konstitutionelle Monarchie, besser: Oligarchie. Ist da nicht grundsätzliche Kritik an dem Vertragswerk angebracht? Müssen sich soziale Bewegungen da nicht ein gänzlich anderes Modell der europäischen Integration überlegen?

Die Institutionen haben durchaus begriffen, dass der gegenwärtige Zustand große Defizite aufweist. Nicht umsonst haben wir kritisiert, dass in Europa immer nur die wirtschaftlichen Fragen geregelt wurden und es keine politischen Reformen gab. Die Institutionen haben auch Vorstellungen, wie sie dem begegnen können. Einer ihrer zentralen Hebel dabei ist die Entwicklung europäischer Parteien.
Das große Problem der Parteien ist, dass sie nicht europäisch organisiert sind. Sie sind da sogar gegenüber sozialen Bewegungen und NGOs im Rückstand. In der Logik des repräsentativen Systems beschränken die Institutionen die Unionsbürgerschaft damit aber wieder auf den Stimmbürger — also auf die aktive und passive Teilnahme an Wahlen. Damit ist aber das Problem, dass repräsentative Politik nicht mehr zufriedenstellend funktioniert, natürlich nicht gelöst. Bürgerbewegungen fordern heute ein anderes Politikverständnis ein, das viel stärker auf den direkten Zugriff und die direkte Mitgestaltung setzt; aber das hat sich ja noch nicht einmal auf der lokalen und nationalen Ebene durchgesetzt. Erst in diesem Sommer hat sich der Bundestag wieder gegen den Volksentscheid entschieden.
Wie eine andere Demokratie auf europäischer Ebene aussehen kann, das müssen wir noch entwickeln. Die Anpassungsleistung, die viele NGOs an das bestehende System erbracht haben, hat ihren Reformeifer in dieser Richtung geschwächt — das liegt an ihrem Erfolg. Sie haben erfahren, dass sie mit Lobbyarbeit viel erreichen können, auf der fernen europäischen Ebene manchmal mehr als auf der nationalen Ebene. Dafür zahlen sie den Preis, dass sie sich korrumpieren lassen.

Kann man denn das Repräsentativsystem überhaupt auf die europäische Ebene übertragen?

Man kann sich streiten, ab welchem zahlenmäßigen Verhältnis zwischen Stimmbürger und Volksvertreter eine Vertretung noch Sinn macht. Mit der Idee von Repräsentation sind ja auch bestimmte Kriterien verbunden: Zugang zum Volksvertreter, die Möglichkeit, auf ihn Einfluss zu nehmen, Kommunikationsmöglichkeiten. Das funktioniert schon auf der nationalen Ebene schlecht.
Nach dem Neuzuschnitt der Wahlkreise für die jetzige Bundestagswahl hat sich das Verhältnis verschlechtert — heute kommt ein Volksvertreter auf etwa 350000 bis 400000 Einwohner. Beim EP liegt das Verhältnis bei 1:500000. Mit der Osterweiterung werden wir ein Verhältnis von 1:850000 bekommen!
Damit stößt das Prinzip von Repräsentation — gemessen an den Kriterien — an seine Grenzen. Man muss die Frage stellen, welchen Sinn es noch macht, in so großen Wahlkreisen eine Person zum Vertreter zu wählen. Diese Aufgabe ist nicht zu bewältigen.
Das Internet ist dafür keine Ersatz. Und wenn wir dann sehen, wie unmöglich es ist, Lobby demokratisch zu kontrollieren, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass wir uns tatsächlich etwas Neues einfallen lassen müssen. Dazu gibt es Ansätze, aber ein geschlossenes Modell kenne ich noch nicht.
Eine unserer zentralen Ideen ist der Bürgerentscheid. Das ist ein anspruchsvolles Konzept, weil die politische Apathie so weit verbreitet ist. Soziale Bewegungen arbeiten dieser Apathie entgegen, deshalb sind sie so wertvoll. Sie stärken demokratische Ansprüche.
Das Konzept hat aber auch mit der Entwicklung des Staatsverständnisses zu tun. Wir befinden uns in einem Entwicklungsprozess mit weitreichenden Folgen — der Rückzug des Staates aus vielen seiner Funktionen ist da nur ein Aspekt. Nehmen wir das Beispiel Arbeitslosigkeit. Es herrscht die Vorstellung, ein großer Teil der Bevölkerung würde einfach durchgefüttert. Die neoliberale Ideologie verlangt, dass man von Alimentation weg zu Eigenverantwortung und Risikoübernahme kommt, weil die öffentlichen Mittel fehlen. Die Leute sollen aktive Bürger sein. Diese Anforderung findet aber keine Entsprechung in einer veränderten Machtausübung. Man setzt weiterhin auf Bevormundung durch die Politik, sagt aber gleichzeitig: Für deine Alltagssorgen bist du selber zuständig, politisch mitentscheiden darfst du nicht.
Da wird ein Reformansatz sichtbar. Konsequenterweise müsste man sagen: Wenn der Bürger schon mehr Pflichten übernehmen soll, muss er auch mehr Entscheidungsrechte bekommen. Da muss man die Institutionen in einem ganz anderen Ausmaß demokratisieren, als das bisher vorstellbar erscheint.

Könntest du dir ein Modell wie den brasilianischen Beteiligungshaushalt auf europäischer Ebene vorstellen?

Bei den gegebenen, sehr eingeschränkten Haushaltskompetenzen, die das EP derzeit hat, hätte ein solches Modell kaum Effekt. Aber eine Vision lässt sich daraus sehr wohl entwickeln. Europa ist machbar. Man muss nur die Methoden und Arbeitsweisen finden, wie es funktionieren kann.
Transnationales Arbeiten ist möglich und macht dazu noch großen Spaß — das zeigen auch die sozialen Bewegungen. Dass es so schwierig erscheint, hängt damit zusammen, dass viele von uns diese Erfahrung nicht haben und dass es so wenig Möglichkeiten dafür gibt. Meine Vision ist, dass möglichst viele Menschen diese Erfahrung machen können. Wir müssen neue Formen der Zusammenarbeit finden, auf allen Ebenen — viele kleine Porto Alegre. Das kann nicht alleine in Brüssel stattfinden.


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