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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 17

Demonstration in Rom

Freiheit und Rechte

Niemand hatte mit ihnen gerechnet: 100000 lauteten die Schätzungen, später 200000. Wer hatte denn schon aufgerufen? Ein organisatorischer Niemand, keine Partei, keine Gewerkschaft, sondern eine neu gegründete Bürgerbewegung mit dem kindlichen Namen "Girotondi", Ringelreihen. Die Stars dieser neuen Bewegung sind Filmemacher (Nanni Moretti), Theaterleute (Dario Fo und Franca Rame), Exponenten des Ehrenamts (Gino Strada, Arzt und Vorsitzender der Hilfsorganisation Emergency), der Pfarrer Don Ciotti. Der größte Teil der Mobilisierung lief selbstorganisiert und über das Internet; am Ende zählte die Presse eine halbe Million Menschen; solche, die dabei waren, auf der Piazza San Giovanni in Laterano, wo üblicherweise die 1.Mai-Kundgebungen stattfinden, sprechen von 700000 bis 800000. Der Platz wurde umgetauft in "Platz der Freiheit".
Unmittelbare Anlässe für diese Demonstration — eine der zahlreichen, die in diesem Jahr in Rom stattgefunden haben — hat die Regierung Berlusconi viele geliefert: der Missbrauch seiner abnormen Quasialleinherrschaft über die Medien, vor allem das Fernsehen — ein Fernsehmoderator wurde geschasst, weil er es gewagt hatte, die tendenziöse Berichterstattung zu durchbrechen — er war einer der Redner auf der Kundgebung; die Beugung der Strafprozessordnung — Berlusconi hat im Parlament ein Gesetz durchgepaukt, wonach ein Prozess an einen anderen Ort verlegt werden kann, wenn ein Angeklagter wie er auf "Befangenheit" plädiert; u.v.a.m.
Sie betreffen allesamt die Aushebelung der demokratischen Rechte und den Protest gegen die schleichende Durchsetzung eines Machtoligopols, das den Staat unmittelbar den privaten Interessen einzelner Politiker und Unternehmer ausliefert. Italiens Öffentlichkeit treibt die Angst um, Berlusconi nutze seine Machtstellung, um ein neues "Regime" aufzubauen, eine absolutistische Machtstellung, die nur notdürftig mit dem formalen Mäntelchen parlamentarischer Wahlen verhüllt ist. "Die Rechtsstaatlichkeit ist die Macht derer, die keine Macht haben", hieß es auf einem Transparent. Um die hundert Mailänder Richter, die im Kreuzfeuer von Berlusconis Angriffen stehen, hatten sich "als Privatpersonen" unter die Demonstrierenden gemischt; aber auch der Starankläger von "Tangentopoli", Antonio Di Pietro; Nando Dalla Chiesa, der Sohn des ermordeten Mafiajägers und andere.
Die Kundgebungsteilnehmer griffen nicht nur den Marsch in den Absolutismus an, sie forderten auch gleiches Recht für alle, einschließlich der Migranten. Nicht nur gleiche formale Rechte, auch soziale Rechte; Aufenthaltsrecht für Migranten und Flüchtlinge, gewerkschaftliche und soziale Rechte für Arbeitende wie Arbeitslose, das Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf eine gute und unentgeltliche Schulausbildung, auf gleichen Gesundheitsschutz, die Beendigung der unwürdigen Zustände in den Gefängnissen und das Ende einer Politik, die wie in Amerika die Folgen sozialer Ausgrenzung mit den Mitteln der Repression bekämpft, die Einrichtung einer wirklich unabhängigen parlamentarischen Untersuchungskommission über den Mord an Carlo Giuliani…
Es wurden Unterschriften gegen die Aushöhlung des Kündigungsschutzes gesammelt; unter der Rednertribüne erhielten die Arbeiter von Fiat-Mirofiori, die am Tag zuvor einen erfolgreichen Streik organisiert hatten, einen Ehrenplatz. Den größten Applaus aber bekam Gino Strada, als er über den Krieg und das Leben der Zivilbevölkerung unter den Bomben sprach: "Es gibt ganze Völker, für die ist das ganze Jahr über der 11.September."
Die zweite Besonderheit dieser Demonstration betraf die Behandlung der Oppositionsparteien — vorneweg die Linksdemokraten (DS). Die Parteien, aber auch die Gewerkschaften, hatten auf dieser Kundgebung kein Rederecht; ihre führenden Vertreter reihten sich ins Fußvolk ein, auf gleicher Ebene wie alle anderen Demonstrierenden. (Weil Massimo D‘Alema, Vorsitzender der DS, dies für unangemessen hielt, blieb er der Demonstration fern.)
Man glaubt der parlamentarischen Opposition nicht, dass sie in der Lage wäre, eine Alternative zur Rechtsregierung zu bilden, dazu hat man in den 90er Jahren zu schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht. Sie wird als Teil des etablierten Systems betrachtet, das Machtpositionen für private oder Verbandsinteressen ausnutzt. Hinter diesen Karren will man sich nicht mehr spannen lassen. Die Menge fordert eine andere, eine partizipative Demokratie, die den Einzelnen unmittelbare Beteiligungsmöglichkeiten einräumt.
Darin liegt vielleicht das für Europa Neue an dieser Demonstration: dass eine so große Menschenmenge spontan ein anderes politisches System fordert, eine andere als die herrschende repräsentative Demokratie, von der sie sich nicht mehr vertreten fühlt, eine andere Struktur der Öffentlichkeit, in der sich alle Gehör verschaffen können, eine andere Art der Kommunikation, die keine Einbahnstraße mehr ist.

Angela Klein


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