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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 18

Unberechenbarer Sprengsatz

Herbert Grönemeyer hat sich mit "Mensch" zurückgemeldet

Herbert Grönemeyer, Mensch, Grönland 2002

Es hatte etwas von der zeitgleich über die Deutschen gekommenen Flutkatastrophe. Unerwartet und furios meldete sich Herbert Grönemeyer nach langer Zeit musikalisch wieder zurück. Aus dem Stande stürmte er mit der Single "Mensch" die Hitparaden und beherrschte im Spätsommer mehrere Wochen unangefochten auf Platz 1 die Charts — ein Novum selbst für den erfolgsgewöhnten Grönemeyer. Dass auch seine gleichzeitig veröffentlichte gleichnamige CD aus dem Sprung gleich mehrfach Platin holte, macht deutlich, dass hier eine Nachfrage bedient wird, die, vergleichbar der großen Flut, auch ein politisches Bedürfnis befriedigt und Aufschluss gibt über den Zustand der Republik.
Allzeit auf dem linken Rand des massenmedial gerade noch zugelassenen Meinungsspektrums stehend hat Herbert Grönemeyer seit seinem Durchbruch Mitte der 80er Jahre gleichermaßen unbändigen Hass auf sich gezogen — von den ultrakonservativen Kulturkämpfern (die in ihm einen roten Zersetzer alter Werte sehen) ebenso wie von jener neuen zynischen Intelligenz, die sich im linksliberalen Feuilleton und im linksradikalen Zeitgeist breit gemacht hat (und die in ihm den Prototypen des "deutschen Gutmenschen" ausmacht). Herbert Grönemeyer hat all diese Anfeindungen nicht nur überstanden, er ist musikalisch und politisch daran sogar gewachsen.
Betrachtet man seine Discografie, so spiegelt sich in ihr die politische Konjunktur der letzten zwei Jahrzehnte. Als Kind des grün-alternativen Aufbruchgeistes hat er Anfang der 80er Jahre diesen Geist in die Kohl-Ära transportiert und mit "Männer", "Bochum" und "Kinder an die Macht" den Durchbruch geschafft.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre wetterte er auf Sprünge (1986) und Ö (1988) gegen Ausländerfeindlichkeit und Neofaschismus, gegen Jugendarbeitslosigkeit und Korruption, gegen Deutschtümelei und die Vergottung des vermeintlich freien Marktes: "Überreiztes Geschrei nach neuer Moral | Jagd nach Sensationen, jeder Preis wird bezahlt | jeder gegen jeden, hauptsache es knallt | die Seele verhökert, alles sinnentleert | keine innere Heimat mehr | keine Heimat mehr."
Anfang der 90er Jahre radikalisiert sich Grönemeyer noch. Auf Luxus (1991) agitiert er gegen den Anschluss des deutschen Ostens ("Hartgeld, was kostet der Rest der Welt | es lebe die schnelle Mark | Hartgeld, der Osten ist ausgezählt | Kapital in voller Fahrt") und den neuen neoliberalen Egoismus ("Wir drehen uns um uns selbst | denn was passiert, passiert | Wir wollen keinen einfluss | Wir werden gern regiert | Wir feiern hier ‘ne Party | und du bist nicht dabei"). Und 1993, auf der CD Chaos und vor dem Hintergrund des mörderischen Neorassismus ("Die Härte") fasst er die nachhaltige Niederlage der Linken in musikalische Worte: "Theorien verblassen, die Propaganda ist platt | nichts gilt mehr, die Kirche schachmatt | ... Alles im Fluss, das Wilde gewinnt | die Kulturen toben, Denkzentralen unter Schock | Antworten laufen Amok."
Es begann die Phase einer partiellen Erneuerung. Musikalisch experimentierte Grönemeyer mit neuen Stilen (Dancefloor und Elektronik) und textlich verdrängten die Liebeslieder das politisch manchmal allzu Aufdringliche. So konnte Grönemeyer nach Erscheinen von Bleibt alles anders (1998) durchaus zu Recht darauf hinweisen, dass die neue CD nicht mehr wie früher durch die fußballerische Mitte, sondern nun mehr über die Flügel — "spielerisch entspannter, technisch versierter, leichtfüßiger" — komme. Im Mittelpunkt dieser CD stand dabei die spürbar harte Auseinandersetzung mit dem Todeskampf seiner Frau und jahrzehntelangen Inspiration. Der erbitterte Kampf von Melancholie, Trotz und Hoffnung hat der CD eine bemerkenswerte musikalische Kraft verliehen.
Bleibt alles anders offenbart jedoch auch einen etwas anderen politischen Grönemeyer. Die explizite Aussage wird nun weitgehend vermieden, aber das Gefühl für politische Stimmungen deutlich geschärft. Mit der auch kommerziell erfolgreichen Single "Bleibt alles anders" artikuliert er überaus treffend jene spezifische Stimmung der Hoffnung, die im selben Jahr 1998 zum Wahlsieg von Rot-Grün führen sollte: "Es gibt viel zu verlieren, du kannst nur gewinnen | genug ist zuwenig — oder es wird so wie es war | Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders | der erste Stein fehlt in der Mauer | der Durchbruch ist nah."
Vergleichbares lässt sich nun auch von Mensch sagen. Musikalisch ist sie weniger homogen und kraftvoll als Bleibt alles anders. Wenn Grönemeyer sagt, er hätte nach dem Tod seiner Frau im November 1998 erst wieder langsam laufen lernen müssen, so gilt dies auch musikalisch. Manches erinnert auf der neuen CD — durchaus nicht immer zum Vorteil — an den 80er- Jahre-Stil Grönemeyers. Erneut dominieren die Texte die musikalische Gestaltung. Doch gerade für die Hitsingle "Mensch" gilt dies nicht. Sie ist eine so legitime wie herausragende Fortsetzung von Bleibt alles anders, und erneut ist es der politische Subtext eines vordergründig zwischenmenschlichen Liedes wie "Mensch", der Grönemeyer diesen durchschlagenden Erfolg gesichert hat.
Den Tod seiner geliebten Anna verarbeitend, singt er von jenem Menschsein, auf das er sich nach dieser privaten Katastrophe zurückgeworfen sah. Doch einmal mehr befindet er sich damit im Gleichklang einer politischen Stimmung, die nach Worten für die Enttäuschungen einer neoliberal durchmarschierenden rot-grünen "Reform"-Regierung sucht: "Der Mensch heißt Mensch | Weil er vergisst, weil er verdrängt | Weil er schönt und schwärmt | ... Weil er irrt und weil er kämpft | Weil er hofft und liebt | Weil er mitfühlt und vergibt | Weil er lacht, weil er lebt."
Herbert Grönemeyer erinnert damit an ein anthropologisches Erbe, dass zwar nicht den Ausweg für gegenwärtige gesellschaftspolitische Blockaden liefert, wohl aber die dafür notwendige Leitidee. Im Kampf des hier erinnerten humanistischen Menschenbild gegen das Menschenbild des nicht mehr nur marktradikal entfesselten, sondern zunehmend sich auch macht- und außenpolitisch niederschlagenden Raubtierkapitalismus wird eine der zentralen Auseinandersetzungslinien der nächsten Jahre liegen.
Herbert Grönemeyer ist souverän geworden. Wenn er auch in seiner Musik politisch weniger explizit ist als früher, politisch ist er geblieben. Wie kaum ein anderer ist er auch jenseits der musikalischen Stellungnahme ein engagiert eingreifender Mensch, der um die schwierige Dialektik von Pop und Politik weiß. Entspannt, aber bestimmt erklärt er heute, dass die Funktion der Musik nicht darin bestehe, Politik zu machen, "aber eben die Leute in ihrem eigenen Ich zu stärken und zu motivieren. Ich mach meine Musik und ich trommel für gewisse Dinge, aber die Leute, die wirklich politisch sind, das sind ganz andere." "Trotz aller Popularität, trotz all des Geldes, das man verdient", so Grönemeyer vor nun drei Jahren, "sollte aber immer ein Stück Unberechenbarkeit bleiben. Da muss ein Sprengsatz drin sein. Man muss so lange Feuer machen, bis die Masse aufwacht. Jeder Widerstand ist wichtig, egal wie klein er ist. Das gilt für mich nach wie vor."
Herbert Grönemeyer ist ein solch unberechenbarer Sprengsatz und er ist wieder da. Wer um den regressiven intellektuellen Zustand unserer Republik weiß, dem kann dies nur guttun.

Christoph Jünke


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