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Über den eigenen Staat hinaus wurde der 1927 geborene DDR-Theaterwissenschaftler und Germanist Mittenzwei durch
seine 1986/87 im Aufbau-Verlag bzw. bei Suhrkamp erschienene, umfangreiche und gehaltvolle marxistische Brecht-Biografie bekannt. Er berichte hier auch
über Differenzen des Dichters mit dem damaligen Regime, weshalb das Manuskript auf "Bedenken" stieß, schließlich aber doch
genehmigt wurde. Zuvor hatte Mittenzwei u.a. sieben Bände über Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 19331945 herausgegeben.
Das vorliegende Buch gibt einen exzellenten Überblick über die Geschichte der
literarischen Intelligenz in Ostzone und DDR. Speziell behandelt es deren Verhältnis zur Partei- und Staatsspitze, das je nach den Zeitumständen
mal durch Kooperation, mal durch Kontroverse gekennzeichnet war. Zusammenarbeit herrschte beim Engagement gegen Faschismus und Imperialismus;
für die demokratischen Reformen vornehmlich der ersten Entwicklungsphase; später auch für Ulbrichts Neues Ökonomisches System
vor, das allerdings im Technokratischen stecken blieb und deshalb von der konservativen Apparatfraktion liquidiert werden konnte. Auseinandersetzungen gab es
infolge der Stalinisierung, der Abwehraktionen des Regimes gegen die vom 20.Parteitag der KPdSU, dann von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion, von
Umwälzungen in der CSSR, Ungarn und Polen ausgehenden Demokratisierungstendenzen.
Mittenzwei belegt, dass namhafte Schriftsteller der DDR nicht nur zur Schaffung einer
hochwertigen, eigenständigen Kultur beitrugen. Sie artikulierten auch vieles, das keiner sonst öffentlich auszusprechen wagte, und wurden so
für große Teile der Bevölkerung zur moralischen Instanz. Gleich Angehörigen der Bürgerbewegung hatten sie 1989 hohen Anteil
daran, dass das Honecker-Regime und danach die Krenz-Regierung zu Fall kamen, die führende Partei sich erneuern musste. Indes hier soll die
Analyse des Verfassers ergänzt werden durchkreuzte das SED-Zentralkomitee mit der plötzlichen Maueröffnung die auf einen
demokratischen, für den Übergang zum Sozialismus offenen Staat gerichteten Bestrebungen der progressiven Kräfte. Es schaufelte sich
dadurch zugleich selbst das Grab und ermöglichte den DDR-Anschluss an die kapitalistische BRD.
Detailliert und auf spannende Art beschreibt der Autor die Entwicklungsetappen bis dahin. Wie
zuvor in seiner Brecht-Biografie resp. in der 1992 erschienenen Geschichte der Preußischen Akademie der Künste stellt er wichtige Charaktere vor,
die in diesem Prozess zusammen oder gegeneinander wirkten, bspw. den Philosophen Wolfgang Harich, SED-Generalsekretär Ulbricht und für
Ostdeutschlands politisch-gesellschaftliche Entwicklung zuständige hohe Sowjetfunktionäre wie Semjonow.
Am Schluss des Buches schildert Mittenzwei die Ausgrenzung fast der gesamten Ostintelligenz
und die Diffamierung der DDR-Literatur durch altbundesdeutsche Sieger, die von "gewendeten" einstigen Bürgerrechtlern unterstützt
wurden. Er erinnert an die "Entsorgung" belletristischer Literatur auf der Müllkippe; die Kampagnen westlicher Splitterrichter gegen Christa
Wolf, Stephan Hermlin und andere DDR-, bald aber auch fortschrittliche Westschriftsteller; die Liquidierung renommierter Verlage; das Abschmelzen der
Akademien und die "Evaluierung" außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in Ostberlin wobei ihm erste Vorgänge
dieser Art unter Lothar de Maizière entgangen sind.
Skrupellosigkeit altbundesdeutscher Postenjäger brandmarkt der Verfasser ebenso wie
die Naivität östlicher Opfer des Prozesses, die glaubten, sie müssten nur fachliche Leistungen oder aussichtsreiche Pläne vorweisen, um
ihre Posten zu behalten. Das "Abwickeln" der DDR-Intelligenz wertet er als "Ausgrenzung einer intellektuellen Schicht in einem nie gekannten
Ausmaß" und stellt klar, dass es ideologisch der Austreibung des Marxismus, vor allem eines kritischen, gedient hat. Mit dem Kahlschlag habe
gleichzeitig der Niedergang von Dramatik und Lyrik begonnen. Heute sei die DDR-Literatur ein abgeschlossenes Gebiet, das aber nicht so schnell vergessen
werden wird.
Vom Verriss Erich Loests im Deutschland-Archiv abgesehen hat das Buch Mittenzweigs
überwiegend wohlwollende Kritiker gefunden. Bei zu erhoffender Neuauflage wären noch vorhandene Unzulänglichkeiten zu korrigieren. So
des Autors Meinung auf Seite 174, man könne Ulbricht "mit Recht als den begabtesten Arbeiterführer seit Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg" bezeichnen. Das ist einerseits zuviel an Lob. Es berücksichtigt andererseits nicht, dass Ulbricht auch in seiner besten,
nachstalinistischen Phase keine Arbeiter, sondern den intelligenteren Teil der Politbürokratie repräsentierte. Der ging gleich dem unintelligenten von
dem irrealen Dogma aus, Sozialismus lasse sich ohne Demokratie erreichen.
Auf Seite 261 mutmaßt der Verfasser, das Vorgehen der Politbürokratie gegen
Havemann und Bahro habe niemanden mehr eingeschüchtert. Auf ihn und seine engeren Mitstreiter, die sich in relativ sicherer Position befanden, mag das
zutreffen. Generell dauerte der Einschüchterungseffekt, vor allem bei SED-Mitgliedern, jedoch bis 1989 an, weshalb auch die Parteiopposition erst ins
Leben trat, als es für eine Erneuerung der DDR zu spät war. Seite 416418 weist Mittenzwei die Ansicht Sowjetbotschafter Kwizinskis
zurück, die Maueröffnung am 9.11.1989 sei für die DDR das Todesurteil gewesen. Er meint vielmehr, Gorbatschow habe im Januar 1990 die
Vernichtung des "Bruderlands" beschlossen. Sicher war das so. Es zu realisieren wäre aber ohne vorangegangenen Korrosionsprozess, welcher
mit dem Aufsperren des DDR-Einfallstores für den Westen seinen Höhe- und Knackpunkt fand, sehr schwer gefallen.
Bruno Mander